80. Todestag Walter Benjamins: Erinnern heißt kämpfen

Ein Gedenk­ort für Wal­ter Ben­ja­min: Eine Trep­pe der Erin­ne­rung an den jüdi­schen Phi­lo­so­phen im kata­la­ni­schen Port Bou, wo er sich das Leben auf der Flucht vor den Nazis nahm.

In der Nacht vom 26. auf den 27. Sep­tem­ber 1940 starb Wal­ter Ben­ja­min. Der Foto­gra­fin Hen­ny Gur­land, die wie Ben­ja­min Teil der Flüch­ten­den-Grup­pe auf ihrem Fuß­weg über die Pyre­nä­en bis zur spa­nisch-fran­zö­si­schen Gren­ze war, soll er Stun­den vor sei­nem Tod einen Abschieds­brief über­ge­ben haben. Sein Freund und Kol­le­ge Theo­dor W. Ador­no hät­te ihn erhal­ten sol­len, erklä­rend, dass die „aus­weg­lo­se Situa­ti­on“ sei­ner miss­lin­gen­den Flucht aus Vichy-Frank­reich Ben­ja­min kei­ne ande­re Mög­lich­keit gelas­sen habe, als den Frei­tod zu wählen.

Denn eigent­lich hät­te das fran­zö­si­sche Exil für Ben­ja­min, den jüdi­schen Intel­lek­tu­el­len, Über­set­zer, Phi­lo­so­phen und Kul­tur­theo­re­ti­ker, im Herbst 1940 nur noch eine Über­gangs­sta­ti­on sein sol­len. Längst hat­te er ein gül­ti­ges Ein­rei­se-Visum für die USA in der Tasche. Bereits 1933 war er vor der Ver­fol­gung durch die Nazis nach Paris geflo­hen. Mit der NS-Besat­zung im Som­mer 1940 und der Kol­la­bo­ra­ti­on des Vichy-Regimes im Süden des Lan­des waren Jüdin­nen und Juden, Wider­stän­di­ge, Antifaschist:innen und in Nazi-Deutsch­land Ver­folg­te auch in ganz Frank­reich nicht mehr sicher. Ben­ja­min ent­schied sich also erneut zur Flucht – über Spa­ni­en und Por­tu­gal woll­te er die USA errei­chen. Nun aber, im Sep­tem­ber 1940, ver­wehr­ten die spa­ni­schen Behör­den dem Flüch­ten­den die Ein­rei­se. In Port­bou erklär­te man ihm nach Über­tritt der Gren­ze, dass es ihm ohne fran­zö­si­sche Aus­rei­se­pa­pie­re nicht gestat­tet sei, spa­ni­schen Boden zu betre­ten , selbst zur Durch­rei­se nicht. Über Nacht hielt man ihn fest, unter­ge­bracht im Hotel Fon­da de Fran­cia. Von dort aus soll­te er am nächs­ten Mor­gen abge­scho­ben wer­den – zurück nach Frank­reich, wo die Flüch­ten­den der Gesta­po über­ge­ben wer­den sollten.

Von Hen­ny Gur­land, die Wochen spä­ter in einem pri­va­ten Brief an ihre Fami­lie fest­hielt, was in Port­bou gesche­hen war, lesen wir, dass Wal­ter Ben­ja­min sich mit einer Über­do­sis Mor­phi­um getö­tet habe. Im kali­for­ni­schen Exil schreibt Ber­tolt Brecht Mona­te spä­ter über die Nach­richt vom Tod sei­nes Freun­des ein Gedicht: „Ich höre, dass Du die Hand gegen Dich erho­ben hast | Dem Schläch­ter zuvor­kom­mend. | Acht Jah­re ver­bannt, den Auf­stieg des Fein­des beob­ach­tend | Zuletzt an eine unüber­schreit­ba­re Gren­ze getrie­ben | Hast Du, heißt es, eine über­schreit­ba­re überschritten.“

Bis 1979 dau­er­te es, bis am Fried­hof von Port­bou, am Grab von Wal­ter Ben­ja­min, eine Tafel an den „Flücht­ling W.B.“, wie Brecht ihn in sei­nem Text genannt hat­te, erin­ner­te. Mit inter­na­tio­na­lem Auf­se­hen wur­de dort, wie­der­um fünf­zehn Jah­re spä­ter, end­lich das Denk­mal „Pas­sa­gen“ – Gedenk­ort für Wal­ter Ben­ja­min und die Exi­lier­ten der Jah­re 1933–1945 des israe­li­sche Bild­hau­ers Dani Kara­van eröff­net. Nicht jedoch, ohne zuvor auf Wider­stand zu sto­ßen. Denn das deut­sche Aus­wär­ti­ge Amt hat­te eine auf Initia­ti­ve und Anwei­sung von Bun­des­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker for­mu­lier­te Finan­zie­rungs­zu­sa­ge für den Bau kur­zer­hand zurück­ge­nom­men. Zu teu­er sei die u.a. von der Bou­le­vard­pres­se als „Grab­pfle­ge“ und Steu­er­geld­ver­schwen­dung ver­un­glimpf­te Ein­rich­tung des Erin­ne­rungs­or­tes, urteil­te der Bun­des­rech­nungs­hof. Die geden­ken­de Wür­di­gung eines Anti-Nazi, jüdi­schen Phi­lo­so­phen, der noch dazu als mar­xis­ti­scher Autor der deutsch­spra­chi­gen Mos­kau­er Exil­zei­tung „Das Wort“ 1939 aus­ge­bür­gert wor­den war, woll­te Mit­te der 1990er Jah­re nicht zur Geschichts­po­li­tik der noch jun­gen Ber­li­ner Repu­blik passen.

Seit 1994 kön­nen Besucher:innen des „Passagen“-Erinnerungsortes durch einen eiser­nen Gang stu­fen­wei­se zum Meer hin­ab­stei­gen, sto­ßen dort unmit­tel­bar vor den letz­ten Metern des abfal­len­den Küs­ten­fel­sen auf eine glä­ser­ne Bar­rie­re, eine Gren­ze gewis­ser­ma­ßen. Hier erin­nert eine Inschrift an eine Notiz Ben­ja­mins, die er zu sei­nem heu­te welt­be­rühm­ten, geschichts­phi­lo­so­phi­schen Text „Über den Begriff der Geschich­te“ gemacht hat­te. Hier heißt es, in durch­schei­nen­der Gra­vur: „Schwe­rer ist es, das Gedächt­nis der Namen­lo­sen zu ehren als das der Berühm­ten. Dem Gedächt­nis der Namen­lo­sen ist die his­to­ri­sche Kon­struk­ti­on geweiht.“

Sichtbare Bemächtigung

Wal­ter Ben­ja­min war nie einer die­ser Namen­lo­sen. Sein Gedächt­nis, das des Berühm­ten, zu ehren, ist den­noch zu kei­nem Zeit­punkt leicht gewe­sen. Den Che­min Wal­ter Ben­ja­min, die als Wan­der- und Gedenk­weg mar­kier­te Flucht­rou­te, die er im Sep­tem­ber 1940 vom fan­zö­si­schen Banyuls-sur-Mer bis nach Port­bou nahm, zu bege­hen und den Gedenk­ort zu besu­chen, gehört inzwi­schen zwar durch­aus zu einer der bekann­tes­ten For­men lin­ker Erin­ne­rungs­pra­xis. Doch meis­tens ist der Fried­hof in Port­bou ver­waist. Die Weg­mar­kie­rung dort­hin war lan­ge bei­na­he ver­fal­len, kurz davor, unsicht­bar zu werden.

Aus­ge­rech­net aber um Sicht­bar­kei­ten ging es Ben­ja­min in sei­nem The­sen-Papier „Über den Begriff der Geschich­te“. Er appel­lier­te dar­in dafür, sich der Geschich­te zu bemäch­ti­gen, bevor es „der Feind“ tut. Und der tut es, zwei­fel­los, immer. In der Lebens­ge­schich­te und im Werk Wal­ter Ben­ja­mins spie­gelt sich also wider, was heu­te The­ma eines lin­ken Geschichts­be­wusst­seins sein kann: Geht es doch dar­um, an Men­schen, Struk­tu­ren, Grup­pen, Freund:innen-Kreise, Fami­li­en, an Wider­stän­di­ge, Ver­folg­te und Antifaschist:innen zu erin­nern, deren Geschich­te bei­na­he ver­ges­sen scheint. Nicht allein, dass ohne das Gedächt­nis deren Mut, ihre Fin­dig­keit, Wider­stän­dig­keit und Über­le­bens­kraft von damals heu­te wie aus­ge­löscht wären. Blei­ben sie uner­zählt, sind auch die Struk­tu­ren von Soli­da­ri­tät und anti­fa­schis­ti­scher Gegen­wehr gegen den Ter­ror der NS-Erobe­rungs‑, Aus­gren­zungs- und gegen die ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Mord­po­li­tik wie unsicht­bar, wie nie geschehen.

Aber es ging Ben­ja­min dar­über hin­aus auch dar­um, dass die Bemäch­ti­gung an der Geschich­te, auch ohne Bezug zu Berühmt­heit und Held:innenpathos, den Erin­nern­den ein Werk­zeug in die Hand gibt, die Gegen­wart zu gestal­ten. Denn nur wer die eige­ne Geschich­te erzäh­le, so Ben­ja­min, habe die Deu­tungs­ho­heit und die Kraft, das Gesche­he­ne mit einer Bedeu­tung auf­zu­la­den und zu berei­chern, sodass es, neu gestal­tet, aktua­li­siert wer­den und für gegen­wär­ti­ge Kämp­fe rele­vant sein könne.

Dort wo aktu­ell anti­fa­schis­ti­sche Initia­ti­ven, Geschichts­werk­stät­ten oder poli­ti­sche Bil­dungs­kol­lek­ti­ve das Gedächt­nis an Ver­folg­te und Wider­stän­di­ge in ihrem Ent­ge­gen­tre­ten gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus wecken oder fort­schrei­ben, ganz gleich wie berühmt oder unbe­kannt die Ein­zel­nen und Struk­tu­ren waren, an die sie erin­nern, laden sie Men­schen ein, sich ein Stück Geschich­te anzu­eig­nen. Sie orga­ni­sie­ren Bil­dungs­rei­sen oder Besu­che von Gedenk­or­ten, sind in Work Camps an ver­ges­se­nen, von Geschich­te und Natur über­wu­cher­ten Orten oder bei krea­ti­ven Kon­zep­ten zur sicht­ba­ren Erin­ne­rung an anti­fa­schis­ti­sche Kämp­fe und die Geschich­te von Ver­folg­ten aktiv. Zusam­men fra­gen sie, wo das Erin­nern heu­te anknüpft und in der Gegen­wart Ener­gie entfaltet.

Gedächtnisgegenwarten

Auf Erin­ne­rung bestehen: Anti­fa-Graf­fi­ti an den Gast­wirt Franz Roß­berg, der Ver­folg­te versteckte

Einen lan­gen Atem braucht es auf den Spu­ren einer Ver­gan­gen­heit, die nicht ver­geht, etwa im zähen Rin­gen um Aner­ken­nung der Kon­se­quen­zen der Ver­bre­chen, die Wehr­macht, Waf­fen-SS und die faschis­ti­schen Mili­zen der Bri­ga­te Nere in Ita­li­en ver­üb­ten. Wer sich mit dem Isto­re­co Reg­gio Emi­lia (dem Insti­tut für die Geschich­te der Resis­ten­za und Zeit­ge­schich­te in der Pro­vinz Reg­gio Emi­lia) den Sen­tie­ri Par­ti­gia­ni anschließt, einer Wan­de­rung zu den Orten von Ver­fol­gung und Wider­stand der Partisannen:innen-Kämpfe in den ita­lie­ni­schen Ber­gen, im tos­ka­ni­schen Apen­nin oder den Alpi Apua­nia, wird über das Gespräch mit Zeitzeug:innen davon erfah­ren, dass in der Gemein­de Fivi­z­za­no im August und Sep­tem­ber 1944 Besat­zer und Mili­zen 400 Zivilist:innen ermor­de­ten, zu Tode fol­ter­ten, deren Dör­fer in Schutt und Asche leg­ten. Gemein­sam mit ihren Anwält:innen, die bis heu­te um Ent­schä­di­gun­gen und Aner­ken­nung der Greu­el­ta­ten kämp­fen, erzäh­len damals klei­ne Kin­der als Älte­re heu­te davon, wie ihre Eltern und Geschwis­ter von Ange­hö­ri­gen der 16. Pan­zer­gre­na­dier-Divi­si­on „Reichs­füh­rer SS“ gequält wur­den, ihr Zuhau­se zer­stört. Sie berich­ten, dass die Täter 2009 vor ita­lie­ni­schen Gerich­ten zwar ver­ur­teilt, von der BRD aber nie aus­ge­lie­fert wor­den sei­en. Eine Kla­ge gegen die Bun­des­re­pu­blik, die sich wei­gert, die in den Gerichts­pro­zes­sen von Rom ent­schie­de­nen Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen anzu­er­ken­nen, wur­de vom Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof in Den Haag 2012 als unzu­läs­sig abge­lehnt. Opfer von Nazi-Ver­bre­chen könn­ten vor aus­län­di­schen Gerich­ten nicht gegen die BRD kla­gen. Ver­letz­ten sie damit doch die Staatenimmunität.

Wie auf den Sen­tie­ri Par­ti­gia­ni geht es auch in Sach­sen, im Elb­sand­stein­ge­bir­ge, dar­um, die Geschich­te von Men­schen auf­zu­zei­gen, die in der Regi­on Wider­stand leis­te­ten, die der Ver­fol­gung nicht ent­kom­men konn­ten, die in Kriegs­ge­fan­gen­schaft oder als zivi­le Ver­schlepp­te Zwangs­ar­beit im Stol­len­bau der Außen­la­ger Ori­on I und II des KZ König­stein leis­ten muss­ten. Die Schwarz-Roten Bergsteiger:innen, eine AG der Frei­en Arbeiter:innenunion (FAU) beglei­ten gemein­sam mit dem Bil­dungs­kol­lek­tiv Edu­cat aus Dres­den Wan­de­run­gen zu Gedenk­plät­zen in der Säch­si­schen Schweiz. Nur dank ihres Wis­sens kön­nen unmar­kier­te Erin­ne­rungs­or­te besucht wer­den. Wie der zur Geschich­te der Berg­gast­stät­te „Klei­ner Bären­stein“. Das Aus­flugs­lo­kal des Gast­wirts Franz Roß­berg gewähr­te nach der Macht­über­ga­be im Janu­ar 1933 loka­len SPD- und KPD-Funk­tio­nä­ren Unter­schlupf vor ihrer Ergrei­fung durch die NS-Scher­gen der SA und der Ord­nungs­po­li­zei. Bis das Ver­steck im März 1933 auf­flog. Zehn Jah­re spä­ter, 1943, waren von dem einst ille­ga­len Treff­punkt nur noch die Grund­mau­ern übrig – bis heu­te. Die Geschich­te die­ses Gedenk­plat­zes sicht­bar zu machen, etwa mit einem wie spon­tan hin­ter­las­se­nen Gruß an Franz Roß­berg, gesprüht an das Fun­da­ment des frü­he­ren Berg­gast­ho­fes, ist dabei mehr als eine dahin­ge­wor­fe­ne Ges­te. Denn in der Regi­on wer­den Erin­ne­rungs­ta­feln und Hin­wei­se auf Ver­fol­gung und Wider­stand im Erz­ge­bir­ge regel­mä­ßig beschä­digt oder sogar mit gro­ßem Auf­wand abmon­tiert. Sie zu erset­zen, den Erin­ne­rungs­raum nicht preis­zu­ge­ben und ihn sich – wenn es sein muss – erneut und immer wie­der anzu­eig­nen, gehört vor Ort zu den aktu­el­len Kämp­fen gegen die heu­ti­gen Nazis, etwa der „Skin­heads Säch­si­sche Schweiz (SSS)“.

Der Kampf um die Erin­ne­rung: Anti­fa­schis­mus heißt das Gedächt­nis an Ver­folg­te und Ermor­de­te zu schüt­zen und zu sichern

Ob in Frank­reich, Ita­li­en, Sach­sen – es geht um ein Erin­nern gegen das Vergessen(lassen). Es geht dar­um, mar­gi­na­li­sier­te Geschich­te sicht­bar zu machen. So sor­gen die Aktivist:innen der Initia­ti­ve für einen Gedenk­ort ehe­ma­li­ges KZ Uckerm­arck dafür, dass Geschich­te und Gegen­wart von Abwer­tungs­ideo­lo­gien, sozia­len Stig­ma­ti­sie­run­gen, Aus­gren­zun­gen und Ver­fol­gung ins­be­son­de­re von Frau­en und Mäd­chen prä­sent wer­den – und blei­ben: in Gedenk­in­ter­ven­tio­nen am Erin­ne­rungs­ort und im öffent­li­chen Raum, mit einem Pod­cast mit Zeit­zeu­gin­nen­stim­men zum 75. Jah­res­tag der Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers, in dem von 1942 bis 1945 etwa 1.500 Men­schen in KZ-Haft waren. Unter dem Vor­wurf (in der Spra­che der Nazis), „aso­zi­al“ oder „sexu­ell ver­wahr­lost“ zu sein. Ihre Geschich­te nicht zu ver­ges­sen, umreißt heu­te zugleich klar, wie sehr Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit, Sexis­mus und LGBTIQ*feindlichkeit der Struk­tur nach auch an die­sem Punkt noch nicht ver­gan­gen sind.

Das Gedächt­nis der „Namen­lo­sen“ zu erkämp­fen heißt aber auch, an ihre Pra­xis zu erin­nern. Wenn in Düs­sel­dorf Antifaschist:innen zum Jah­res­tag des Mor­des an Hila­ri­us Gil­ges zu einem Stadt­rund­gang zur Geschich­te sei­nes Lebens und sei­ner Betei­li­gung an lin­ken Wider­stands­for­men gegen den frü­hen NS ein­la­den, spre­chen sie über die kom­mu­nis­ti­sche Agit­prop-Grup­pe „Nord­west ran“, über Stra­ßen­thea­ter und die Mög­lich­kei­ten, Wort zu ergrei­fen für ein Leben ohne Nazis. Wo seit 2013 ein Mal im Jahr anti­fa­schis­ti­sche Fuß­ball­fans zum „Dr. Wal­de­mar Spier Pokal“ selbst zum Tur­nier zusam­men­kom­men, ehren sie das Andenken an den jüdi­schen Ver­eins­funk­tio­när von For­tu­na Düs­sel­dorf, der 1933 aus dem Ver­ein aus­ge­schlos­sen wur­de. Nach Jah­ren der Ver­fol­gung starb Wal­de­mar Spier im März 1945 als jüdi­scher Zwangs­ar­beits­häft­ling im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz, fünf Wochen nach der Befrei­ung des Lagers. Das „sport­li­che“ Andenken an ihn bringt Men­schen zusam­men, die sich sonst nie getrof­fen hät­ten. Erin­nern heißt auch: sich der poli­ti­schen Freund:innenschaft zu ver­ge­wis­sern. Und: gemein­sam zu feiern.

Erin­nern heißt kämpfen

Das Gedächt­nis der Namen­lo­sen wie der Berühm­ten zu „ehren“, wie Ben­ja­min sag­te, ist zwei­fel­los ein Erkämp­fen in der Gegen­wart. Um so mehr, da die Erin­ne­rung an die Geschich­te der Ver­folg­ten und Antifaschist:innen im Wider­stand und auf der Flucht immer wie­der an den Rand des Aus­blen­dens gedrängt wer­den soll – von rech­ter Geschichts­po­li­tik und ganz nor­ma­len Nazis, die das Erin­nern an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus zum „Schuld­kult“ umdeu­ten wol­len. Bis­wei­len ver­su­chen Rech­te sogar, lin­ke Erin­ne­rungs­or­te zu beset­zen, sie einer dezi­diert lin­ken Gedächt­nis­kul­tur zu ent­rei­ßen. So bemüht sich der im Mai 2020 gewähl­te Bür­ger­meis­ter von Per­pignan, Lou­is Ali­ot, Natio­nal­ver­samm­lungs­mit­glied und Vize­prä­si­dent des rechts­po­pu­lis­ti­schen Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN), dar­um, das seit gerau­mer Zeit aus finan­zi­el­len Grün­den geschlos­se­ne, kom­mu­na­le Kunst- und Kul­tur­zen­trum Cent­re d’Art Con­tem­po­rain Wal­ter Ben­ja­min unter eben die­sem Namen wie­der­zu­er­öff­nen. Ver­folgt die fran­zö­si­sche extre­me Rech­te doch aktu­ell eine Nor­ma­li­sie­rungs­stra­te­gie, die sie in klei­nen Schrit­ten vom Vor­wurf des Anti­se­mi­tis­mus rein­wa­schen und anschluss­fä­hi­ger wer­den las­sen soll. Wal­ter Ben­ja­min ist auch als Toter vor sei­nen Fein­den nicht sicher.

Ben­ja­mins eige­ner Gedan­ke, die sechs­te sei­ner The­sen aus „Über den Begriff der Geschich­te“, dürf­te als Ana­ly­se und Appell auch in die­ser Situa­ti­on hilf­reich sein, als Beob­ach­tung aber ganz gewiss so rich­tig wie vor 80 Jah­ren: „Ver­gan­ge­nes his­to­risch zu arti­ku­lie­ren, heißt nicht, es erken­nen ‚ wie es denn eigent­lich gewe­sen ist‘. Es heißt, sich sei­ner Erin­ne­rung bemäch­ti­gen, wie sie im Augen­blick der Gefahr auf­blitzt. […] Nur dem Geschichts­schrei­ber wohnt die Gabe bei, im Ver­gan­ge­nen einen Fun­ken der Hoff­nung anzu­fa­chen, der davon durch­drun­gen ist: auch die Toten wer­den vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und die­ser Feind hat zu sie­gen nie aufgehört.“*

* Ben­ja­min: Über den Begriff der Geschich­te, The­se VI, in: GS I‑2, Frank­furt a.M. 1980, S. 695)

Der Text ist – in einer kür­ze­ren Fas­sung – zuerst erschie­nen im Schwer­punkt „Erin­nern heißt ver­än­dern. Anti­fa­schis­ti­sche Gedächt­nis­po­li­tik“ der Zei­tung LOTTA (#79 – Som­mer 2020).