Seit Prozessbeginn im April hat André M. vor der 10 Strafkammer des Landgerichts Berlin beharrlich geschwiegen. Ihm wird zur Last gelegt, aus einer nazistischen, misogynen und rassistischen Motivationen heraus Nachrichten mit Mord- und Bombendrohungen an zahlreiche Personen und öffentliche Institutionen, wie Gerichte, versandt zu haben. Unterzeichnet waren diese unter anderem mit dem Namen „Nationalsozialistische Offensive“. Um trotz seines Schweigens einen Eindruck vom Angeklagten, seiner Weltanschauung und seinen persönlichen Lebensumständen zu bekommen, wurden seit Verhandlungsbeginn unzählige Sprachnachrichten von Messengerdiensten vor Gericht angehört. Mit einer Person tauschte er sich zu der Zeit, als die Bombendrohungen verschickt wurden, regelmäßig aus: Kerstin S. Sie war zu jener Zeit eine Vertrauensperson von André M., obwohl ihre Verbindung rein virtuell war.
Verhängnisvolles Vertrauen
Es ist Weihnachten 2018 kurz nach 5 Uhr morgens. André M. spricht mit gebrochener Stimme in sein Telefon. Er schickt eine Sprachnachricht an Kerstin S: „Ich habe nicht gesagt, dass du mir nichts bedeutest.“ Dann fährt er fort: „Du bedeutest mir sogar sehr, sehr viel.“ Die Angesprochene ist die erste Person, auf die er sich überhaupt eingelassen habe. Am 18. August nun sprach Kerstin S. vor Gericht über den Angeklagten. Ob diese Vernehmung tatsächlich zustande kommt, war aufgrund der psychisch labilen Lage der Zeugin lange Zeit unklar. Nun sitzt sie in einem anderen Raum im Gerichtsgebäude und nimmt via Videoschaltung an der Verhandlung teil. Während André M. an vielen Verhandlungstagen eher abwesend wirkt, beobachtet er dieses mal aufmerksam den Bildschirm, auf dem Kerstin S. zu sehen ist, und macht sich Notizen. Beide lernten sich 2018 über eine Facebook-Gruppe kennen und entwickelten eine Vertrauensbasis. Kontakt hätten sie täglich gehabt, der Angeklagte sei zu jeder Uhrzeit für sie erreichbar gewesen. Getroffen haben sie sich allerdings nie. Die persönlichen Umstände des Angeklagten sind Kerstin S. soweit bekannt: so wisse sie, dass der Angeklagte „öfters straffällig“ war, “ja, auch psychisch labil ist“ und dass er noch bei seinen Eltern wohne.
Mit den vom Angeklagten versandten Drohbriefen kam sie auch persönlich in Kontakt. So erhielt sie selbst Drohungen, die mit „Nationalsozialistische Offensive“ unterzeichnet waren. Während eines Jobcenter-Termins von S. geht außerdem eine Bombendrohung bei der Behörde ein. Eine Verbindung zu André M. erkennt sie anfangs nicht. Sie hält weiter Kontakt zu M.. Im Januar 2019 zieht sie sich zurück, weil sie misstrauisch und psychisch instabil wurde. Später habe sie bei der Polizei M. beschuldigt, hinter den Drohungen zu stecken. Im Nachhinein passe für sie alles zusammen, sagt sie vor Gericht. S. spricht von einer sprachlichen Besonderheit, die sich sowohl in den persönlichen Nachrichten vom Angeklagten als auch in den Drohschreiben findet. Eine Sachverständige des BKA hatte diese auffällige Besonderheit bereits als Zeugin im Verfahren dargestellt.
„Mal so ‘nen Anschlag geplant“
Im weiteren Verhandlungsverlauf geht es dem Vorsitzenden Richter um die politische Gesinnung des Angeklagten. Auf die Frage, was die Zeugin darüber wisse, antwortet sie zurückhaltend: „Ja, also nicht viel, weil das so nie wirklich Thema war zwischen uns.“ Über Politik hätten beide kaum gesprochen. Aber er sei schon „rechts gesinnt“ gewesen, ergänzt sie nach kurzem Zögern, „wegen seiner Zimmerdekoration, die ich so gesehen hab.“ Auf einem Bild vom Zimmer des Angeklagten, das im Prozess in Augenschein genommen worden war, sah man zahlreiche nationalsozialistische Devotionalien, wie Fahnen, unter anderem flächendeckend an den Wänden.
Zur Einschätzung des Hintergrundes der Bombendrohungen wird Kerstin S. gefragt, ob sie sich jemals mit dem Angeklagten über Sprengstoff unterhalten habe. Sie bejaht und sagt, „dass er weiß, wie man sowas herstellt und dass er irgendwie sowas mal geplant hatte, so ’nen Anschlag.“ Sie bezieht sich dabei auf ein zurückliegendes Verfahren von André M. aus dem Jahr 2007. Damals war ihm die Planung eines Sprengstoffanschlags auf das „Apfelfest“ in Rellingen (Kreis Pinneberg) vorgeworfen worden.
Suizid als Attentat
Auf diesen versuchten Anschlag spielt André M. auch in den Gesprächen mit Kerstin S. an, zum Beispiel im November 2018. Er schreibt ihr eine Whatsapp-Nachricht, in der er angibt, bereits im Kindesalter Suizidgedanken gehabt zu haben: „Komisch, dass ich fast 21 Jahre später immer noch da bin“. Anschließend fährt er fort: „Ich finde es schade und bedauere es, dass es damals mit dem Apfelfest nicht geklappt hat.“ Von Reue ist keine Spur zu erkennen. Insgesamt zeigt sich in den sichergestellten Nachrichten eine besorgniserregende Tendenz zur Verbindung der Selbsttötungsabsichten einer psychisch instabilen Person mit politisch motivierten Mordfantasien. Kurze Zeit nach den oben angesprochenen Nachrichten schreibt André M. erneut an die Person seines Vertrauens Kerstin S.: „Also, kurz und knapp, Suizid oder ein schweres Verbrechen mit Suizid wird wohl irgendwann bei mir eintreten.“ Je nach Gelegenheit werde es sich dann dabei um einen „A…lauf oder ein Bom…attentat“ handeln.
Verhandlungsfähigkeit wird geprüft
Wenige Tage nach der Vernehmung von Kerstin S. sitzt M. gekrümmt auf der Anklagebank in dem obligatorischen Glaskasten. Sein Rechtsanwalt Thomas Penneke, der dem Angeklagten aus der rechten Szene empfohlen worden sein soll, beantragt die Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit seines Mandanten. Das Gericht ordnet eine rechtsmedizinische Begutachtung des Angeklagten an. Am 1. September dann attestiert der Rechtsmediziner dem Angeklagten die Verhandlungsfähigkeit. Er halte André M., wenn überhaupt, allenfalls für eingeschränkt verhandlungsfähig, aber nicht für verhandlungsunfähig. Das Problem sei, dass der Angeklagte nichts esse und kaum Getränke zu sich zu nehme. Dieses Verhalten habe er jedoch bereits vor der Haft gezeigt. Der Vorsitzende zeigt sich diesbezüglich besorgt. Doch André M. lehnt die angebotenen Infusionen und die Anfertigung eines Blutbilds ab. Laut fachärztlicher Einschätzung sei der Angeklagte jedoch nur für eine Zeitspanne von jeweils zwei Stunden verhandlungsfähig. Die weiteren Prozesstermine werden deshalb kürzer ausfallen müssen, wodurch sich der gesamte Prozess verlängern könnte.
Kurz vor dem Ende der Beweisaufnahme im Prozess gegen André M. steht seine grundsätzliche Verhandlungsfähigkeit aufgrund der fehlenden Nahrungsaufnahme immer mehr in Frage. Das Gericht wird nun klären müssen, inwieweit André M. sein Verhalten ändern kann und will. Ein psychiatrisches Gutachten steht noch aus.