Der Rechtsruck in Deutschland, welcher 2015 bald nach dem Sommer der Migration einsetzte, verlangt nach Antworten. Bei der Suche danach hilft ein Blick in die Geschichte des Kampfes gegen Rechts. Alexander Hummel sprach mit Friedrich ‚Fritz‘ Burschel über die Geschichte der Antifa- und Antira-Bewegung, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten und die Perspektiven einer ‚Antifra‘-Bewegung, welche die falschen Gegensätze aufhebt.
Commune: Bevor wir auf die Verschränkung von Antifaschismus und Antirassismus zu sprechen kommen, müssen wir zunächst die beiden Konzepte klar auseinander halten können. Wie würdest du Antifaschismus einerseits und Antirassismus andererseits definieren?
Fritz Burschel: Antifaschismus zu definieren, ist nicht so leicht; der historische Bezugspunkt ist die Antifaschistische Aktion der 1920er und 1930er Jahre, wo es ein klares Feindbild gab und eine recht eindeutige Ausrichtung als militante Gegenwehr und Selbstschutzorganisation – natürlich im Rahmen einer revolutionären, zumindest sozialistischen Arbeiter_innenbewegung.
Geschichtlicher Dreh- und Angelpunkt unhintergehbarer antifaschistischer Selbstverpflichtung jedoch ist bis heute der Kampf gegen den Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die Shoah und die Massenvernichtung von Menschen. Der vielfältige kommunistische, sozialdemokratische, kirchliche und humanistische Widerstand und der entschlossene Kampf von Partisan_innen in allen Teilen des besetzten Europas bilden bis heute den Kern antifaschistischer Tradition. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Zivilisationsbruch der Shoah und dem monströsen Vernichtungskrieg begründet das starke Engagement antifaschistischer Aktiver im Bereich der Erinnerungskultur, des Gedenkens an deutsche Verbrechen und der Pflege von Gedenkorten sowie in antifaschistischer Bildung.
In Nachkriegswestdeutschland skandalisierte eine wiederentstehende Antifaschistischen Aktion die bruchlosen Kontinuitäten aus der Nazi-Zeit und die Karrieren von Täter_innen aus den NS-Funktions- und Vernichtungseliten im neu entstehenden Staat und stand damit immer mit unter Kommunismus-Verdacht und war Ziel von Verfolgung und Repression.
Erst die Verjüngung mit einer nächsten Post-68er-Generation – die heute auch schon wieder alt geworden ist – und mit dem Aufkommen der Autonomen Antifa löste sich die Subkultur von Arbeitermilieu und Parteianbindung. Jetzt waren es mehr die Kinder gebildeter Mittelschichtler_innen, den Schock der allmählichen NS-Aufarbeitung in den Gliedern, die Autonomie wollten und den Antifa-Hut aufsetzten.
Commune: Wie ging es im wiedervereinten Deutschland mit der Antifa weiter?
FB: Ein wichtiger Einschnitt in die Geschichte der Antifa ist der Fall der Berliner Mauer, denn mit der Wende nahmen Aktivitäten Morgenluft witternder Neo- und Altnazis, die die „fünf neuen Bundesländer nicht nur als Rekrutierungsfeld für neue Kräfte betrachteten, sondern auch die Schaffung „national befreiter Zonen“ sich vornahmen. Die Zeit permanenter pogromartiger rassistischer Angriffe – ja nicht nur in Ostdeutschland, man denke an Mannheim, Mölln, Solingen, Rosenheim – machte eine rasche, zum Teil verzweifelte antifaschistische Gegenwehr bitter notwendig und trieb zumal ostdeutsche Jugendliche zur Selbstorganisation als Notwehr. Vielfach standen sie den öffentlichen Raum kontrollierenden und in der Regel überlegenen Nazihorden gegenüber und konnten ebenso wie als nicht-deutsch Wahrgenommene nicht mit dem Schutz der institutionell selbst rassistischen oder zumal anfangs auch völlig überforderten Behörden rechnen. Es war die Zeit der Nachtwachen und Nothilfe-Aktionen rund um Asylsuchenden-Unterkünfte, soziokulturelle Zentren und anderen nicht-rechten Treffs. Die Zeit der umstrittenen „Feuerwehr“-Einsätze der Großstadt-Antifa im vor allem ostdeutschen ländlichen Raum, wo von schweren Gewalttaten traumatisierte Antifa-Gruppen mit dem Rücken zur Wand standen…
In jener bedrückenden Zeit jedenfalls, deren negativer Höhepunkt der miese „Asylkompromiss“ im Bundestag 1993 war, entstand auch die antideutsche Fraktion der Antifa, der Linken überhaupt. In dieser Zeit war man auf Gedeih und Verderb mit einer antirassistischen Bewegung verbandelt, die – so die Arbeitsteilung – sich um ankommende Geflüchtete im Asylverfahren kümmerten, um Illegalisierte und um von Nazis und Polizei Angegriffene. In der ungewöhnlich erfolgreichen Kampagne „kein mensch ist illegal“ (kmii – siehe auch Erklärbox) waren sich die beiden linken Stoßrichtungen so nah wie nie: Viele Antifas – wie ich selber – beteiligten sich an den kmii-Aktionen, waren im Alltag aber und in der Soli-Arbeit für Geflüchtete und Asylsuchende auch auf ihr „eigentliches Metier“, die Antifaschistische Aktion, zurückgeworfen. In dieser Zeit entstanden in Deutschland auch Antifa-Recherche-Teams und Archive, die mit hohen nahezu wissenschaftlichen Standards die Grundlagen antifaschistischer Politik liefern, was – mit Blick auf den Nach-Wende-Terror, 200 von Nazis ermordete Menschen, den NSU und neueste Entwicklungen – enorm wichtig ist.
Wer heute aber, und das kommt vor, denkt, Antifa sei im Wesentlichen eine Sportart oder ein männlicher Initiationsritus ist nicht nur geschichtslos, sondern sieht auch den Zusammenhang zwischen Antifa und Antira nicht, die siamesische Zwillingschaft, man denke nur an den NSU-Komplex, an 2500 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte allein im Jahr 2016, die 217 Angriffe auf Geflüchteten-Unterstützer_innen und an den aktuellen krassen europäischen Rechtsruck, der von Nationalismus, Rassismus und völkischer Formierung gegen ankommende „Andere“ gekennzeichnet ist.
Commune: Dann hat also die antifaschistische Bewegung seit den 30er Jahren eine Vielzahl an Transformationen durchgemacht, während Antirassismus als Bewegung erst in den frühen 90er Jahren beginnt? Hier gab es doch sicher auch schon einigen Wandel seit dessen Entstehung?
FB: Es gab durchaus eine Vorgeschichte zur Entstehung der antirassistischen Bewegung: Ende der 1980er Jahre verübten die Revolutionären Zellen (RZ) mehrere Anschläge mit rassismuskritischem Gehalt. Zu erinnern wäre an die Knieschussattentate auf den Chef der Berliner Ausländerbehörde Hollenberg (1986) und den Bundesverwaltungsrichter Korbmacher sowie an den Anschlag auf das „Ausländerzentralregister“ in Köln 1986. Wie immer man zu diesen Anschlägen stehen mag, sie sollten in der Szene als Beiträge zu einer Rassismus-Diskussion verstanden werden. Das Echo blieb jedoch minimal, es entstand keine Bewegung, die sich in irgendeiner Weise auf die in den Bekennerschreiben der RZ eingenommenen Positionen bezog.
Wie gesagt und schon beschrieben, entstand eine antirassistische Bewegung erst als Reaktion auf den rassistischen Notstand im Gefolge der Wende. Praktische Hilfe und Solidarität hat die ganze damals aktive linke Generation geprägt. Schutz vor Abschiebungen, Störung von Abschiebungen an Flughäfen und Aktionärsversammlungen von Abschiebe-Airlines („Deportation Class“), Organisation heimlichen Unterschlupfs für Geflüchtete, Schule für die Kinder illegalisierter Familien, medizinische Flüchtlingshilfe, die erste mir bekannte Online-Demo gegen die Lufthansa-Website, Vernetzung mit Antira-Initiativen in anderen Ländern, wie den „Sans Papiers“ in Frankreich, bis hin zu aktiver Fluchthilfe standen auf der Agenda und wurden eingeübt.
Der spektakuläre Beginn von kmii auf der Documenta X in Kassel 1997, welcher sich dann mit den großen Antirassistischen Sommercamps ab 1998 fortsetzte – zunächst an den damaligen EU-Außengrenzen zu Polen, Tschechien und teils auch Österreich, dann in Jena, Frankfurt, Köln und Straßburg. Es ließen sich noch weitere aufzählen. Bis heute gibt es diese Gruppen flächendeckend in ganz Deutschland und sie erleben augenblicklich eine Renaissance, nachdem das Thema einige Jahre auf kleiner Flamme kochte.
Commune: Würdest du vor dem Hintergrund der von dir beschriebenen Wandlungen des Antifaschismus und Antirassismus diese als negative Spiegelbilder des organisierten Faschismus und Rassismus in Deutschland begreifen?
FB: In gewissem Sinne finde ich das Bild vom Spiegel nicht so schlecht, weil es ein, um nicht zu sagen, das Problem beider Strömungen beschreibt: Die Selbstdefinition ex negativo als Gegenreaktion, die sich damit zwangläufig auch ex negativo selbst beschreiben und nicht aus einer politischen oder humanen Vision, aus einer weltverändernden Perspektive heraus.
Das verweist auch die grundsätzlich Einsicht, dass Antifa oder Antira allein nicht ausreicht, es muss immer um eine gesamtgesellschaftliche Kritik und Perspektive gehen: ohne die herrschenden Verhältnisse, Sexismus und Männerherrschaft, Rassismus und Kapitalismus, Nationalismus und den sozialen Krieg zu thematisieren, bleibt Antifa Symptombekämpfung oder Hobby.
Commune: Gab es auch etwas, was schon in der Frühzeit die beiden Bewegungen vereinte?
FB: Das Verbindende zwischen den Antifas und der Antirassistischen Bewegung war der Kampf gegen Rassismus mit den Slogans „Rassismus tötet“ oder „Das Problem heißt Rassismus“. Beide führten den Kampf gegen sich ermächtigt fühlende Nazis und den rassistischen Bürgermob, gegen indifferente Behörden und im Windschatten rassistischer Pogrome massiv verschärfte Asylgesetze und das damit verbundene krude Abschieberegime sowie gegen eine verlogene Politik der Migrationsverhinderung und Geflüchtetenabwehr, die zwar über die brutale Grenzschließung durch den ungarischen Faschisten Viktor Orban den erhobenen Zeigefinger reckt, um dann aber bequem hinter dessen Grenzzaun sich mit zu verschanzen. Immerhin kann eine linke, antirassistische Bewegung in Kommunikation treten mit – laut Ehrenamtsstudie der Humboldt-Universität – rund 7 Millionen Bundesbürger_innen, die sich aktiv für Geflüchtete einsetzen und die Menschen in vielfacher Weise ohne großes Trara unterstützen.
Commune: Wie würdest du dich selbst früher und heute in den eben beschriebenen Bewegungen verorten?
FB: Von einer handgeschnitzten Landantifa kommend sahen mich die Pogrome der frühen 1990er Jahre bei „Feuerwehreinsätzen“ vor Geflüchteten-Unterkünften, beim Antirassistischen Telefon, in entsprechenden Notfall-Telefonketten, aber eben auch in den Diskussionen um Wehrmachtssausstellung, Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ sowie durchaus in antideutschem Furor gegen das „wieder erwachende“ und „wieder gut gemachte“ Deutschland. Einiges von dieser Wut – zumal bei den Auseinandersetzung zum Dresdener Jahrestag der Bombardierung in den Nuller und 2010er Jahren – treibt mich noch heute um und an.
Aber Mitte/Ende der 1990er Jahre war klar, dass der mörderische Rassismus und staatlicher Rassismus im Umgang mit Geflüchteten eine umfassendere Perspektive aufriefen als das beschriebene, oft auch regional begrenzte Klein-Klein des Antifa-Aktivismus. Die Leute fanden daher zusammen. Für mich selbst hieß das, dass ich Teil der Münchener Gruppe [über die grenze] wurde, bei dem hochoffiziellen Erscheinen der Kampagne „kein mensch ist illegal“ auf der „documenta X“ dabei war, was sich mit Eröffnung der diesjährigen Documenta Anfang Juni zum 20. Mal jährt. Außerdem habe ich aktivistisch die Organisation des ersten Antirassistischen Sommercamps in Rothenburg an der Neiße 1998 und des vierten Camps in Jena verantwortet. Bis heute zählen Inhalt, Dynamik und Leidenschaft der Kampagne und der Menschen, die darin aktiv waren, zu den magischen Momenten meines politischen Lebens und bis heute erinnere ich mich an unserer Erstaunen darüber, wie sich diese freche, laute und kämpferische Kampagne zu einer Zeit mit dem berühmten Logo und seinen selbstbewussten Aktionen viral verbreitete, als es das Wort viral in diesem Kontext noch gar nicht gab. Ganz besonders wichtig ist damals auch das Zusammenkommen und Zusammengehen mit migrantischer Selbstorganisation und Geflüchteteninitiativen gewesen, auch wenn das schwierige Aushandlungsprozesse und schmerzhafte Auseinandersetzungen waren. Zu nennen ist in diesem Kontext auf jeden Fall das selbstorganisierte Refugee-Netzwerk „The Voice“, das damals zunächst v.a. in Thüringen gegen das rigide und vielfach rassistische „Asylmanagement“ entstanden war. Ergebnis war damals eine sehr weitgehende Verschränkung antirassistischen und antifaschistischen Engagements.
Commune: Später geborene kennen heute nur noch den Slogan „Kein Mensch ist illegal“. Wie kam es zum Ende der Kampagne?
FB: Nachdem es der deutschen Politik jedoch gelungen war über geradezu imperiale Rückübernahmeabkommen, über Drittstaaten- und Sichere-Herkunftsländer-Regelungen sowie massive Militarisierung der EU-Außengrenzen die Ankunft von Menschen zu stoppen, verlor auch das Migrationsthema und das Thema Rassismus wieder an Bedeutung; der „Bundesantifasommer“ im Jahr 2000 im Gefolge des Schröderschen „Aufstands der Anständigen“ sog in den Bundesprogrammen eine ganze Reihe von Antifa- und Antira-Aktivist_innen auf und alimentierte sie in den Programmen gegen “Rechtsextremismus“: Ich selbst etwa war im Civitas-Bundesprogramm Berater von Opfern rechter Gewalt im ostthüringischen Gera bei der „Anlaufstelle für Betroffene rassistischer Angriffe und Diskriminierungen“ (ABAD), danach saß ich auf der „Netzwerkstelle gegen rechts“ bei Radio Lotte Weimar und habe schließlich Ende der 2000er Jahre die „Landeskoordinierungsstelle Bayern gegen Rechtsextremismus“ aufgebaut, was ungefähr so anstrengend war, wie die Namen klingen. Da ist viel Energie in Verwaltung, Beantragung und Berichterstattung anstatt in die dringend nötige Arbeit geflossen.…
Mit der Explosion rechter und rassistischer Gewalt seit dem „Sommer der Migration“ sehen sich viele Leute meines Alters mit einen Deja-vú konfrontiert: Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag nach Angriffen auf Geflüchteten-Unterkünfte allein im Jahr 2016 umfasst 145 Seiten und listet über 2500 solcher rassistischer Angriffe auf, zuzüglich über 200 auf Geflüchteten-Helfer_innen. Und wieder finden Antira und Antifa, manchmal auch Geflüchteten-Selbstorganisation „notgedrungen“ zusammen, um dem etwas entgegenzusetzen. Das große NSU-Tribunal in Köln Mitte Mai (siehe Erklärbox) kann in dieser Hinsicht als ein neuer Höhepunkt betrachtet werden.
Commune: Was ist Kritik die aus einer antirassistischen Perspektive an gängigen Antifaschismus-Konzepten kritisiert werden kann und was kann aus einer antifaschistischen Perspektive an Antirassismus kritisiert werden?
FB: Die unterschiedlichen Perspektiven werfen der jeweils anderen immer Blindheit für bestimmte Aspekte des Problems vor. Wer nur auf die Nazis deutet und von der Faschisierung der Gesellschaft spricht, übersieht den verbreiteten Rassismus in großen Teilen der Bevölkerung und die Rolle des Staates beim Schüren und Instrumentalisierung dieses rassistischen Mainstreams. Wer indes nur auf gesellschaftlichen, institutionellen und staatlich gewollten Rassismus blickt, übersieht womöglich die rechtsterroristische Bedrohung und Entstehung entsprechender Untergrundnetze, sowie die Rolle des Staates in diesen Szenen über V‑Leute und amtliche Verstrickungen.
Insofern enthielt das NSU-Tribunal in vielfacher Hinsicht hoffnungsvolles Potential, hat es doch nicht nur Aktivist_innen beider Szenen, sondern auch Vertreter_innen von Betroffenen- und Opfer-Initiativen zusammengeführt und über den NSU-Komplex alle denkbaren Bezüge zu Rassismus, neonazistischer Formierung, staatlicher Verstrickung und gesellschaftlicher Indifferenz, zu Aspekten internationalen Rechtsrucks und geheimdienstlichen Unwesens einerseits sowie andererseits zu einer dezidiert linken, emanzipatorischen und auch kapitalismuskritischen Positionierung und einer starken Opferperspektive thematisiert. Insofern sollten wir vielleicht lieber vom Tribunal aus denkend an den Potentialen einer „Antifra“-Bewegung weiterdenken, als die historischen Differenzen weiter breitzutreten, oder?
Das Interview erschien in leicht gekürzter Version in der SDS-Zeitschrift Commune 6/2017 erschienen.