VS in Sachsen-Anhalt: Demokratieexperte oder Geheimdienst?

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Kei­ne Geheim­dienst-Bil­dungs­ar­beit an Schu­len — auch nicht in Sach­sen-Anhalt! Foto: Burschel

Der Ver­fas­sungs­schutz des Lan­des Sach­sen-Anhalt rich­tet kei­ne Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen aus und betreibt auch kei­ne Bil­dungs­ar­beit“, so die Ant­wort der Lan­des­re­gie­rung auf eine gemein­sa­me Klei­ne Anfra­ge (Drs. 6/2996) der Abge­ord­ne­ten der Frak­ti­on DIE LINKE im Land­tag von Sach­sen-Anhalt, Moni­ka Hoh­mann und Hen­ri­et­te Qua­de. ‚Es kann nicht sein, was nicht sein darf‘, wäre eine gute Zusam­men­fas­sung die­ser Ant­wort. Kon­kret ging es den bei­den Abge­ord­ne­ten dar­um, zu erfah­ren, inwie­fern öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen des Ver­fas­sungs­schut­zes als Teil einer poli­ti­schen Bil­dungs­ar­beit begrif­fen wer­den kön­nen. Die­se Fra­ge scheint bei 83 durch­ge­führ­ten Ver­an­stal­tun­gen seit Juli 2010 durch­aus berechtigt.

Der Ver­fas­sungs­schutz „bie­tet im Rah­men sei­nes gesetz­li­chen Auf­tra­ges im Bereich der Prä­ven­ti­ons- und Öffent­lich­keits­ar­beit Vor­trä­ge über die ver­schie­de­nen Erschei­nungs­for­men des poli­ti­schen Extre­mis­mus sowie über Spio­na­ge­ak­ti­vi­tä­ten frem­der Mäch­te an“. Letz­te­res scheint dabei in Sach­sen-Anhalt auf beson­de­res Inter­es­se zu sto­ßen, bot der Ver­fas­sungs­schutz dazu doch immer­hin 24 Ver­an­stal­tun­gen an. 22 ande­re Ver­an­stal­tun­gen beschäf­tig­ten sich mit „Rechts­extre­mis­mus“, in 16 wei­te­ren stell­te die Behör­de sich und ihre Auf­ga­ben vor. Mit etwas Abstand fol­gen 9 Ver­an­stal­tun­gen zu „Wirt­schafts­schutz“, 7 zu „Isla­mis­mus“, 5 zum „Extre­mis­mus“ im All­ge­mei­nen, jeweils 2 zu „Links­extre­mis­mus“ und „Extre­mis­mus­prä­ven­ti­on“. Zu einer Ver­an­stal­tung konn­te bis auf den Hin­weis, dass sie der „Sen­si­bi­li­sie­rung von Land­rä­ten und Ober­bür­ger­meis­tern“ gedient haben soll, kei­ne nähe­re Klas­si­fi­zie­rung vor­ge­nom­men werden.

Gemäß der Rol­le eines Geheim­diens­tes beob­ach­tet der Ver­fas­sungs­schutz soge­nann­te „extre­mis­ti­sche Bestre­bun­gen“ als gesell­schaft­li­che Rand­phä­no­me­ne. Im Gegen­satz dazu soll­te eman­zi­pa­to­ri­sche Bil­dungs- und Auf­klä­rungs­ar­beit nicht nur über z.B. rech­te Struk­tu­ren und Erschei­nungs­for­men infor­mie­ren, son­dern Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit in einen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kon­text stel­len und als sol­che the­ma­ti­sie­ren. Dafür ist aber auch eine kri­ti­sche Betrach­tung und Ana­ly­se von Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus sowie For­men von struk­tu­rel­ler Dis­kri­mi­nie­rung, z.B. in der Asyl­ge­setz­ge­bung oder der Pra­xis des „racial pro­fil­ing“, also Poli­zei­kon­trol­len nach ras­sis­ti­schen Kri­te­ri­en, notwendig.

Weil er eine staat­li­che Insti­tu­ti­on ist, hal­ten vie­le Multiplikator_innen den Ver­fas­sungs­schutz für seriö­ser und objek­ti­ver als unab­hän­gi­ge Bera­tungs­an­ge­bo­te. Leicht über­se­hen sie dabei, dass eine Behör­de, die mit nach­rich­ten­dienst­li­chen Mit­tel arbei­tet, kei­ne gesell­schaft­li­che Dis­kurs­teil­neh­me­rin wie ande­re sein kann. Auf­grund die­ser zuge­wie­se­nen Son­der­rol­le – Zugang zu nach­rich­ten­dienst­li­chen Mit­teln sowie der Mög­lich­keit Deu­tungs­ho­heit dar­über zu besit­zen, soge­nann­te „Extre­mis­ten“ zu benen­nen und sie damit aus der poli­ti­schen Debat­te aus­zu­schlie­ßen – bezeich­net der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Dr. Micha­el Kohl­s­truck vom Zen­trum für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung an der TU Ber­lin den Ver­fas­sungs­schutz als „Fremd­kör­per inner­halb einer offe­nen Gesell­schaft“. Gera­de auch des­halb darf nicht der Ein­druck ent­ste­hen, die Vertreter_innen des Ver­fas­sungs­schut­zes sei­en „Fach­kräf­te für Extre­mis­mus“. Dass ein Geheim­dienst die­sem Anspruch auch gar nicht gerecht wer­den kann, ist ihm inner­halb der eige­nen Struk­tur ein­ge­schrie­ben. Er tritt als staat­li­che Auto­ri­tät auf, gibt sei­ne eige­ne Posi­ti­on als unhin­ter­frag­bar wie­der und unter­wirft sich dem (wis­sen­schaft­li­chen) Grund­satz der Über­prüf­bar­keit nicht. Poli­ti­sche Wer­te­bil­dung setzt eine kri­ti­sche Dis­kus­si­on vor­aus. Damit Inhal­te nach­voll­zieh­bar und hin­ter­frag­bar sind, haben über­prüf­ba­re Quel­len in einer sol­chen Dis­kus­si­on einen hohen Stel­len­wert. Die­se Anfor­de­run­gen aber sind mit dem Ansatz und Inter­es­se eines Geheim­diens­tes, des­sen Arbeits­wei­se und Quel­len der Geheim­hal­tung unter­lie­gen, unver­ein­bar. Den­noch wird dem Ver­fas­sungs­schutz in dem Moment, wo ein_e Mitarbeiter_in in z.B. einer Schul­klas­se refe­riert, auch eine päd­ago­gi­sche Ver­ant­wor­tung über­tra­gen, der weder fach­li­che Kon­zept, didak­ti­sche Aus­bil­dung noch fach­li­che Kom­pe­tenz zugrun­de lie­gen. Auch des­halb gilt es für eman­zi­pa­to­ri­sche (Weiter-)Bildungsangebote zu strei­ten, die eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Per­spek­ti­ve auf­grei­fen, kri­ti­sches Den­ken för­dern und poli­ti­sche Hand­lungs­fä­hig­keit ermög­li­chen. Ein Inlands­ge­heim­dienst hat dazu nichts beizutragen.

Die­ser höhe­re Stel­len­wert der Öffent­lich­keits­ar­beit des Ver­fas­sungs­schut­zes, der von der Lan­des­re­gie­rung als „ein wesent­li­cher Bei­trag zur nach­hal­ti­gen geis­tig-poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit den ver­schie­de­nen Erschei­nungs­for­men des Extre­mis­mus“ gese­hen wird, muss hier­bei aller­dings zwin­gend im Kon­text des NSU-Desas­ters betrach­tet wer­den. Die ekla­tan­ten Feh­ler von Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den und die zahl­lo­sen, immer­hin mit Mord, schwe­ren Spreng­stoff­de­lik­ten und Raub­über­fäl­len in Ver­bin­dung ste­hen­den Unge­reimt­hei­ten bei der Arbeit des Inlands­ge­heim­diens­tes wäh­rend und nach den Ver­bre­chen des sog. Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds, die Ver­stri­ckung diver­ser V‑Leute in das die rech­te Ter­ror­grup­pe umge­be­ne Netz­werk und die voll­ende­te sowie ver­such­te Ver­nich­tung von Unter­la­gen zum NSU durch die Behör­den hat einer­seits den Arg­wohn gegen­über die­ser Behör­de geschürt oder, wo es Ver­trau­en in den Geheim­dienst gab, die­ses mas­siv gestört und schar­fe Kri­tik her­vor­ge­ru­fen. Anstatt aber auf der, nach allem was man schon jetzt über die Ver­stri­ckun­gen im NSU-Kom­plex weiß, unab­ding­ba­ren Auf­lö­sung die­ses Inlands­ge­heim­diens­tes zu bestehen, wie u.a. die Par­tei Die Lin­ke, scheint der Ver­fas­sungs­schutz eher gestärkt aus der Aus­ein­an­der­set­zung her­vor­zu­ge­hen. Wich­ti­ges Mit­tel hier­bei ist eine Umstruk­tu­rie­rung und Moder­ni­sie­rung der Behör­de, in deren Fol­ge die­se sich als Part­ne­rin zivil­ge­sell­schaft­li­chen Enga­ge­ments prä­sen­tie­ren möch­te. Geheimdienstmitarbeiter_innen tre­ten bei öffent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen und Fach­ta­gun­gen auf, brin­gen sich in zivil­ge­sell­schaft­li­che Debat­ten ein und ent­de­cken Schüler_innen als neue Ziel­grup­pe für ihre Arbeit. Weil demo­kra­ti­sche Bil­dung aber Grund­la­ge einer offe­nen Gesell­schaft ist, muss sie frei von staat­li­cher Ein­mi­schung sein. Die aktu­el­len Akti­vi­tä­ten des Ver­fas­sungs­schut­zes, der als Geheim­dienst für eine offe­ne Gesell­schaft nicht als Gesprächs­part­ner in Betracht kom­men kann, lau­fen die­sem Grund­satz zuwider.

Ste­phan Kuhl­mann ist wis­sen­schaft­li­cher Refe­rent für Stra­te­gien gegen Neo­na­zis­mus bei DIE LINKE. Frak­ti­on im Land­tag von Sachsen-Anhalt