Bênav lebt in Diyarbakır, der kurdischen Metropole im Südosten der Türkei. Er ist Video-Performance-Künstler. Er wirft mit Milchpackungen und Orangen um sich und wendet sich um die laufende Nebelmaschine hin und her, während er von kurdischen Dörfern erzählt, die in der Vergangenheit dem Erdboden gleichgemacht wurden. In seinem wutendbrannten Monolog spricht er von verlorengegangener Geschichte und unterdrückter Identität, von gestohlenen Namen und der Suche nach Gerechtigkeit. Dafür steht Mely Kiyaks Figur im Theaterstück «Aufstand», das am 20. November 2014 im Maxim-Gorki-Theater in Berlin Premiere hatte. Zum Ende des Auftritts spricht der Protagonist eine Wahrheit des Widerstandes aus: «Erinnern ist Aufstand.» Bênav sucht nach Erzählungen und Realitäten, die in hegemonialer Geschichtsschreibung mundtot gemacht werden. Sein Aufstand ist einer der Erinnerung. Erinnern ist Aufstand. Erinnern ist aber auch Empowerment. Dafür braucht es Geschichten über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Diese legen die Basis für den Stoff, aus dem Identitäten entstehen.
Im September 2013 wurde vom Europäischen Parlament die Studie «Empowerment of Roma Women within the European Framework of National Roma Inclusion Strategies» herausgegeben. In dieser gut 98 Seiten schweren Studie wird Empowerment verstanden als: «das Konzept der Förderung von Roma-Frauen – also der Stärkung ihrer Gestaltungs- und Entscheidungsmacht –, um auf dieser Basis die derzeitigen Lebensbedingungen von Roma-Frauen zu analysieren, die jeweiligen nationalen Strategien zur Integration der Roma zu beleuchten und bewährte Praktiken zu ermitteln.»
Tendenziell ist dieser Bericht, ebenso wie auch die vorangegangenen EU-Berichte zur Lage der Roma-Frauen, durch folgende «Merkmale» gekennzeichnet:
Women in Exile ist eine Initiative von Flüchtlingsfrauen, die sich 2002 in Brandenburg zusammengefunden haben, um für ihre Rechte zu kämpfen. Aktivistinnen aus der Gründungszeit berichten: «Wir haben entschieden, uns als Flüchtlingsfrauengruppe zu organisieren, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass Flüchtlingsfrauen doppelt Opfer von Diskriminierung sind: Sie werden als Asylbewerberinnen durch rassistische Gesetze ausgegrenzt und als Frauen diskriminiert.» 2011 baute Women in Exile die Gruppe Women in Exile & Friends auf, in der sich auch Frauen ohne Fluchthintergrund engagieren. Seitdem tragen wir gemeinsam flüchtlingspolitische Forderungen aus feministischer Perspektive an die Öffentlichkeit. Außerdem unterstützen wir Flüchtlingsfrauen mit Informationsmedien und Workshops dabei, individuelle und kollektive Perspektiven zu entwickeln, um sich gegen sexualisierte Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung zu verteidigen.
Ein Grundprinzip unserer Arbeit ist: Flüchtlingsfrauen entscheiden über ihre politischen Forderungen auf Basis ihrer Alltagserfahrungen selbst, weil sie selbst die Expertinnen ihrer Situation sind.
Denk- und Handlungsformen, die an rassistische Unterscheidungen anschließen und die kulturell-diskursive Geltung dieser Formen bekräftigen, vermitteln auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit betrifft Einzelperson und Gruppen; sie ist aber auch kennzeichnend für organisationale (etwa für Institutionen des Bildungssystems) und strukturelle Zusammenhänge (etwa Rechtsprechung). Diskurse und Praxen, die Ausdruck natio-ethno-kultureller Dominanzverhältnisse sind, bestätigen und stabilisieren das System rassistischer Unterscheidungen.
Rassismuskritik bezeichnet ein erkenntnispolitisches Engagement, das Deutungen und Termini, eine Sprache also anbietet, erprobt, weiterentwickelt, um dieses machtvolle System als solches zu erkennen, reflexiv, kritisch zu hinterfragen. Mittels Sprache und Kritik können Handlungsalternativen entwickelt werden.
Ein Gespräch mit Inva Kuhn vom Gesprächskreis Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Workshop-Reihe «Flucht, Asyl und Willkommenskultur in der Kommune», die vor dem Hintergrund der an vielen Orten gewalttätigen «Proteste» gegen die Unterbringung von Asylsuchenden bisher ein Dutzend mal angeboten wurde und Inhalte zu Fluchtursachen, Antragszahlen, Gesetzeslagen und Zuständigkeiten ermittelte und ein Forum bot, um gemeinsam lokal wirksame Argumentationsstrategien zu erarbeiten und lokalpolitische Akteure mit Selbstorganisationen von Asylsuchenden und antirassistischen Initiativen zu vernetzen.
Inva, du hast mit anderen Mitgliedern des Gesprächskreises Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung die «Refugees-Welcome»-Seminarreihe mitentwickelt. Worum geht es bei den Seminaren und was war der Anstoß für die Seminarreihe?
Angesichts der steigenden rassistischen und neonazistischen Angriffe sowie Brandanschläge auf (Sammel-) Unterkünfte von Asylsuchenden bundesweit – im Ost, West, Nord und Süd – wurde sich im Gesprächskreis Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung viel ausgetauscht. Im gemeinsamen Prozess mit den Referent_innen für Migration und Kommunalpolitik der RLS entstand dazu die Idee – passend zu den Kommunalwahlen in elf Bundesländern im Jahr 2014 – Mandatsträger_innen ein grundlegendes Bildungsangebot zum Thema Asyl, Migration und «Willkommenskultur» zur Verfügung zu stellen. Die Seminarreihe umfasst viele Aspekte der aktuellen Asylpolitik und versteht sich als ein Einstiegsangebot für kommunalpolitisch Aktive, die kommunale Migrationspolitik im Rat, im Kreistag oder auch in Bündnissen und Netzwerken mitgestalten wollen.
Ein Jahr ist vergangen, seit am 3. Oktober 2013 366 Geflüchtete in Sichtweite von Lampedusa ertranken, während im keinen Kilometer entfernten Hafen die Küstenwache vor Anker lag. Ihnen und den insgesamt mindestens dreiundzwanzigtausendzweihundertachtundfünfzig Opfern europäischer Grenzabschottungspolitik innerhalb von 14 Jahren können wir nur noch gedenken. Und wir, die Menschen in Europa, müssen fragen: Was wurde seitdem geändert an der EU-Grenzpolitik, die insbesondere das Mittelmeer zu einer Todeszone macht? Im Oktober letzten Jahres zeigten sich führende EU-Politiker_innen angesichts der bis dahin schwersten Schiffskatastrophe tief bestürzt. «Die EU wird das Mögliche unternehmen, um die Situation zu ändern», versprach der damalige Kommissionspräsident Barroso. Was also hat sich geändert? Und was müsste sich ändern? Im Folgenden eine Bestandsaufnahme der herrschenden Grenzpolitik und Diskussion um solidarische Alternativen.
Aced/Düzyol/Rüzgar/Schaft (Hg.): Migration, Asyl und (Post-) Migrantische Lebenswelten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven migrationspolitischer Praktiken. Münster: Lit-Verlag.
Die Debatten über die Freizügigkeit von Arbeitnehmer_innen im EU-Raum im letzten Jahr waren nicht nur durch den populistischen Slogan der CSU «Wer betrügt der fliegt!» geprägt. Die öffentliche Diskussion über dieses migrationspolitische Themenfeld beschränkte sich in der Regel auf die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen von «Zuwanderer_innen» für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt. Dabei zeigt sich, dass die Verwertungslogik bereits seit Bestehen der BRD existiert und die Migrationspolitik als Instrumentarium für wirtschaftspolitische Zielvorgaben eingesetzt wird.
Lediglich Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem hohen Ausmaß an Einwanderungen, im Besonderen von Schutzsuchenden aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen wie Jugoslawien und der Türkei. Sehr bald jedoch wurde die kurze Phase einer hohen positiven Wanderungsbilanz durch zunächst bundesgesetzliche Maßnahmen und schließlich über Vereinbarungen auf der europäischen Ebene gestoppt. Eine gesteuerte Einwanderung soll die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Migrant_innen berücksichtigen. Diesem Verständnis nach ist eine Asylpolitik nach humanitären Kriterien dem übergeordneten Ziel der wirtschaftlichen Nützlichkeit nicht dienlich. Während noch über die Art und Weise einer steuerbaren und wirtschaftlichen Effizienzkriterien genügenden Einwanderungspolitik diskutiert wird, treiben die Bundesregierung und die EU die Abschottung an den Grenzen der EU massiv voran.
Aced/Düzyol/Rüzgar/Schaft (Hg.): Migration, Asyl und (Post-) Migrantische Lebenswelten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven migrationspolitischer Praktiken. Münster: Lit-Verlag.
Etwa sechs Millionen Menschen wurde die Chance verwehrt, an den Bundestagswahlen im September 2013 teilzunehmen. Formalrechtliche Ausländer_innen können nicht an Wahlen auf Landes- und Bundesebene teilnehmen, nur EU-Bürger_innen haben das Partizipationsrecht auf kommunaler Ebene. In der Regel werden im öffentlichen Diskurs zwei Lösungsansätze für diese Problematik genannt:
Beide Optionen dienen nur als Teillösungen, da Staatangehörigkeit keine Voraussetzung sein sollte, um fundamentale Rechte wahrnehmen zu können. Darüber hinaus würde eine Erleichterung der Einbürgerung weiterhin hohe Hürden mit sich bringen, denn momentan befinden sich offensichtlich diskriminierende Voraussetzungen im Einbürgerungsprozess – diese müssten erst drastisch verändert werden. Das Erlangen des Wahlrechts nur auf kommunaler Ebene ist keineswegs ausreichend. Obwohl es ein positiver Schritt auf dem Weg zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft wäre, werden wichtige Entscheidungen auf Landes- und Bundesebene getroffen, die alle in Deutschland lebenden Menschen beeinflussen und nicht nur die formalrechtlichen Deutschen.
Es sind vor allem zwei Probleme, die ein zielführendes Gespräch über beziehungsweise eine funktionierende Arbeit gegen Rassismus erschweren. Zum einen wird er entweder als Phänomen der Nazizeit historisiert oder als Merkmal des aktuellen ‹Rechtsextremismus› debattiert. Rassismus ist unzweifelhaft eines der Ideologieelemente des Neonazismus, vieler populistischer Parteien, aber auch hetzerischer Rede in Büchern, an Wahlkampfständen oder bei Gästen von Fernsehtalkshows. Dass er aber wesentlich mehr ist als das, was lange zurückliegt oder bloß am sogenannten Rand der Gesellschaft stattfindet, taucht allzu selten auf: Kinder, die hier geboren werden, gelten nach wie vor zuerst einmal als das, was ihre Eltern sind oder die Großeltern einmal waren: Migrantinnen und Migranten, ‹mit Migrationshintergrund› oder ‹nicht-deutscher Herkunft›. Menschen, die aus einem Mitgliedsstaat der EU kommen, haben andere Rechte beim Zugang zu Arbeit, Gesundheit und politischer Teilhabe als ‹Drittstaatenangehörige›. Schwarze werden – unabhängig von Pass oder Migrationsgeschichte – nicht nur von der Bundespolizei anlassunabhängig kontrolliert. Tatsächliche oder vermeintliche Sprachkenntnisse, das Äußere, die Staatsangehörigkeit, der Name, die Religion und viele andere Merkmale, wie es im juristischen Antidiskriminierungs-Deutsch heißt, sorgen dafür, dass in Medien, Politik, auf dem Arbeitsmarkt, im Fitnessstudio oder in der Schule Menschen in Gruppen sortiert und diese Gruppen mit einer Wertigkeit versehen werden. Nicht zuletzt die Schulleistungsuntersuchungen der OECD (sogenannte Pisa-Studien) haben deutlich aufgezeigt, wie wenig es der individuelle (Un-) Wille ist, der Bildungsleistungen und ‑aufstiege beeinflusst. Die institutionellen und die strukturellen Bedingungen, unter denen wir allesamt leben, begünstigen die einen und benachteiligen – und zwar systematisch – die anderen: auch wenn es niemand böse meint, auch wenn die Meinenden nicht ‹-extrem› sind.