Solidarität in der migrantisch situierten Erinnerungsarbeit

Überlebende des Holocaust und Überlebende rassistischer Gewalt verbünden und stärken sich — und erweitern die Solidarität.

Wir Opfer sind die Haupt­zeu­gen des Gesche­hens“ (Ibra­him Arslan)

Ibrahim Arslan auf dem NSU-Tribunal
Ibra­him Ars­lan auf dem Tri­bu­nal „NSU-Kom­plex auflösen“

 

Tho­mas de Mai­zie­re nann­te im Dezem­ber 2016 neben der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung die Bedeu­tung von Ausch­witz einen zen­tra­len Wert für die gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on von Flücht­lin­gen. Damit erklär­te er die Erin­ne­rungs­po­li­tik zu einem natio­na­len Nar­ra­tiv, zu einem deut­schen Gut, dass Geflüch­te­te zu ler­nen hät­ten, um Teil die­ser Gesell­schaft wer­den zu kön­nen. Neben der impli­zi­ten Unter­stel­lung eines Defi­zits im Bewusst­sein für Anti­se­mi­tis­mus bei mus­li­mi­schen Ein­wan­de­rern – und nie­mand ande­res als das Phan­tom des jun­gen männ­li­chen Mus­li­men ist hier gemeint – pas­siert in die­ser neu­auf­ge­leg­ten Leit­kul­tur­de­bat­te noch etwas ande­res. Nazis­ti­sche Gewalt wird zu einer abge­schlos­se­nen geschicht­li­chen Lern­ein­heit erklärt, die kei­nen Bezug zu den gegen­wär­ti­gen ras­sis­ti­schen Ver­bre­chen auf­weist. Wie Sina Arnold und Jana König in ihrer Unter­su­chung zur Erin­ne­rung von Geflüch­te­ten an den Holo­caust am Bei­spiel die­ser Rede de Mai­zie­res aus­füh­ren, stellt sich in einer post­mi­gran­ti­schen Gesell­schaft die Fra­ge nach einer ver­meint­li­chen Natio­nal­ge­schich­te jedoch neu.(1) Denn der migran­ti­sche Blick auf den Holo­caust kann deut­lich machen, dass die­ser ein glo­ba­les Phä­no­men ist, mit dem die Men­schen ihre eige­nen Gewalt­er­fah­run­gen in Bezug set­zen. D.h. – so Arnold/König – eine «post­mi­gran­ti­sche Rea­li­tät bedeu­tet, ver­schie­de­ne und sehr par­ti­ku­la­re his­to­ri­sche Bezü­ge und Erfah­run­gen von Dis­kri­mi­nie­rung in Geschich­te und Gegen­wart kol­lek­tiv anzu­er­ken­nen». Das bedeu­tet indes kein Null­sum­men­spiel der Opfer­n­ar­ra­ti­ve und schafft auch kei­ne Opfer­kon­kur­renz, wie es viel­fach unter­stellt und in der Unter­stel­lung erst her­ge­stellt wird. Im Gegen­teil beför­dern die­se situ­ier­ten Erfah­run­gen auf der Ebe­ne des Affekts Soli­da­ri­tät. Mit Bezug auf Micha­el Roth­berg kann dabei von einer «mul­ti­di­rek­tio­na­len Erin­ne­rung» gespro­chen wer­den, in der das öffent­li­che Bewusst­sein über den Holo­caust genutzt wer­den kann, um auch ande­re Erfah­run­gen mit Ras­sis­mus zu thematisieren.(2) Und umge­kehrt rückt über die hete­ro­ge­nen (his­to­ri­schen) Wis­sens­be­stän­de zu Exklu­si­on und Gewalt auch die Bedeu­tung des Holo­causts wie­der stär­ker in das Selbst­ver­ständ­nis einer post­mi­gran­ti­schen Gesellschaft.

Die Ein­be­zie­hung einer post­mi­gran­ti­schen Per­spek­ti­ve auf die deut­sche Geschich­te unter­läuft das in der Erin­ne­rungs­po­li­tik noch immer hege­mo­nia­le natio­na­le his­to­ri­sche Nar­ra­tiv. Denn nun sind es die Betrof­fe­nen sel­ber, die sich dar­in die Geschich­te aneig­nen und sie den Täter*innen ent­eig­nen. «Recla­im & Remem­ber» nennt Ibra­him Ars­lan die­se Inter­ven­ti­on, als Opfer aus der Rol­le des Sta­tis­ten aus­zu­stei­gen und zen­tra­ler Akteur einer Erin­ne­rungs­po­li­tik zur Geschich­te die­ses Lan­des zu wer­den. Als Über­le­ben­der des ras­sis­ti­schen Brand­an­schlags in Mölln von 1992 trat Ars­lan im Novem­ber 2017 im Rah­men des Jah­res­tags des Anschlags auf die Büh­ne des Ber­li­ner Thea­ters Heb­bel am Ufer und erzähl­te die Geschich­te eines Mäd­chens, deren Fami­lie von den Nazis ermor­det wur­de, und die Geschich­te eines Jun­gen, des­sen Fami­lie eben­falls von Nazis ermor­det wur­de. Das Mäd­chen von damals war die Ausch­witz-Über­le­ben­de Esther Beja­ra­no, die an jenem Abend die Möll­ner Rede im Exil ver­fasst hat­te. Der Jun­ge war Ibra­him Ars­lan sel­ber. Dabei ging es nicht dar­um, die Sin­gu­la­ri­tät der Sho­ah zu rela­ti­vie­ren, son­dern die War­nung vor dem Faschis­mus zu reak­tua­li­sie­ren, Kon­ti­nui­tä­ten rech­ter Gewalt auf­zu­zei­gen und Bezü­ge zwi­schen Betrof­fe­nen ras­sis­ti­scher Gewalt her­zu­stel­len. Denn der die­ser Gewalt zugrun­de­lie­gen­de struk­tu­rel­le Ras­sis­mus meint viel mehr als eine dif­fu­se, in der Erin­ne­rungs­ar­beit oft rät­sel­haft erschei­nen­de NS-Men­ta­li­tät. Viel­mehr for­dert uns die Ver­knüp­fung der viel­stim­mi­gen Betrof­fe­nen­per­spek­ti­ve auf, die Funk­tio­na­li­tät die­ser Gewalt für die Mobi­li­sie­rung von Natio­na­lis­mus und dem ihm zugrun­de­lie­gen­den Ras­sis­mus für eine ras­sia­li­sier­te Gesell­schafts­hier­ar­chie zu erken­nen. Weder kann der Holo­caust ohne den Ver­nich­tungs­krieg von 1941–1945 ver­stan­den, noch die Brand­an­schlä­ge von Ros­tock, Mölln, Solin­gen und vie­len ande­ren Orten in den 1990er und der NSU-Ter­ror in den 2000er Jah­ren ohne das Pro­jekt der Wie­der­ver­ei­ni­gung begrif­fen werden.

Und es ging Ibra­him Ars­lan dar­um, auf die Unter­schie­de zwi­schen den unter­schied­li­chen Erin­ne­rungs­po­li­ti­ken auf­merk­sam zu machen. Denn wäh­rend die Fami­lie Ars­lan seit 25 Jah­ren um ein wür­di­ges Geden­ken kämpft und gleich­zei­tig von der Stadt Mölln als Schand­fleck und Stö­ren­fried stig­ma­ti­siert wird, dient die sakro­sank­te Erin­ne­rung an den Holo­caust vor allem der Selbst­ver­ge­wis­se­rung eines bes­se­ren Deutsch­lands, die nicht ohne Stolz post­wen­dend als Inte­gra­ti­ons­an­for­de­rung, d.h. als Exklu­si­ons­me­cha­nis­mus gegen «die Frem­den» ein­ge­setzt wer­den kann.

Als stö­rend wahr­ge­nom­men zu wer­den muss­ten auch die Betrof­fe­nen und Ange­hö­ri­gen der Mord­op­fer des NSU-Ter­rors spü­ren. Sie wur­den zwar immer wie­der zum Staats­emp­fang nach Ber­lin ein­ge­la­den, gleich­sam wur­den ihre Geschich­ten aber kon­se­quent unhör­bar gemacht. Zunächst wur­den sie über vie­le Jah­re bis zur Selbst­ent­tar­nung des NSU 2011 als Täter und Täte­rin­nen behan­delt. Das NSU-Trio konn­te sich dar­auf ver­las­sen, dass ihre Schüs­se und Bom­ben­an­schlä­ge nur das Start­si­gnal einer viel wei­ter­ge­hen­den Zer­stö­rung der migran­ti­schen Lebens­wel­ten ihrer Opfer sein wür­den. Durch die kon­se­quen­te insti­tu­tio­nel­le und media­le Opfer-Täter Umkeh­rung, die geziel­ten Lügen, die die Ermitt­lungs­be­hör­den in den Com­mu­ni­ties streu­ten, durch die Stig­ma­ti­sie­rung der Über­le­ben­den und Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen durch Poli­tik und Pres­se als inte­gra­ti­ons­un­wil­li­ge und kri­mi­nel­le Par­al­lel­ge­sell­schaft und vor allem durch die Abkehr der Öffent­lich­keit und der Zivil­ge­sell­schaft zer­bra­chen Fami­li­en, Freund­schaf­ten, Arbeits­zu­sam­men­hän­ge, ver­schul­de­ten sich die Fami­li­en der Ange­hö­ri­gen und wur­den miss­trau­isch von den Nach­barn gemie­den. Schließ­lich gaben sich vie­le der Betrof­fe­nen auf und ver­fie­len in Schwei­gen. Und das obwohl sie zunächst kämp­fe­risch auf die Anschlä­ge reagier­ten: In den Ver­hö­ren sag­ten sie alle immer wie­der aus, dass es Nazis gewe­sen sein müss­ten, die hin­ter den Anschlä­gen steck­ten. Man­che Fami­li­en wie die Yoz­gats, Şimşeks und Kubaşıks nah­men Kon­takt zuein­an­der auf, tra­ten an die Öffent­lich­keit und orga­ni­sier­ten sogar gro­ße Demons­tra­tio­nen wie 2006 in Kas­sel, bei denen sie an den deut­schen Staat appel­lier­ten, die Mord­se­rie zu been­den, die Täter end­lich fest­zu­neh­men und damit kein zehn­tes Opfer zuzu­las­sen. Doch nie­mand hör­te ihnen zu. Von Staats­sei­te kamen in den Jah­ren der Mord­se­rie nur ein Befund nach dem ande­ren, dass es kei­nen rech­ten Ter­ror in die­sem Land gäbe. Und zwar genau von jenen geheim­dienst­li­chen Behör­den, die an dem Auf­bau, Schutz und der Radi­ka­li­sie­rung der bewaff­ne­ten Nazi­sze­ne maß­geb­lich betei­ligt waren und es bis heu­te sind. Die ideo­lo­gi­sche Nebel­ker­ze, die rech­ten Ter­ror bis in die Absur­di­tät ver­harm­lost, ist die Extre­mis­mus­dok­trin, deren Auf­ga­be es ist, die pflicht­schul­di­ge Ver­ur­tei­lung rech­ter Gewalt in einen insti­tu­tio­nel­len Gegen­ra­di­ka­lis­mus zu ver­wan­deln, der allein auf Links reagiert. Wobei der NSU-Kom­plex gezeigt hat, dass die­se Dok­trin zuneh­mend auf den soge­nann­ten «Aus­län­der­ex­tre­mis­mus» zielt und dar­in eine anti­mus­li­mi­sche Stim­mung erzeugt. Die Extre­mis­mus­dok­trin hat einen maß­geb­li­chen Anteil an der Nicht­wahr­neh­mung ras­sis­ti­scher Gewalt sowie an der inne­ren Bezie­hungs­lo­sig­keit gegen­über dem Schmerz der Opfer.

Nach der Selbst­ent­tar­nung des NSU durch Bea­te Zsch­ä­pe im Novem­ber 2011 änder­te sich dies nur schein­bar. Für kur­ze Zeit wur­de ein­ge­räumt, dass es doch Nazi­ter­ro­ris­mus gäbe und die Regie­rung ver­sprach lücken­lo­se Auf­klä­rung und wei­test­ge­hend Wie­der­gut­ma­chung. Nichts davon ist ein­ge­tre­ten. Die Opfer sind immer noch nicht ange­mes­sen ent­schä­digt und das Netz­werk, von dem das Trio ledig­lich ein Teil war, wird bis heu­te akri­bisch aus dem Blick  gehal­ten – von dem Gericht bzw. der Bun­des­an­walt­schaft in Mün­chen, von der nicht durch­grei­fen­den Poli­zei, von der öffent­li­chen Bericht­erstat­tung und natür­lich vom Ver­fas­sungs­schutz, der wie­der jeg­li­che bewaff­ne­te Orga­ni­sie­rung von rechts abstrei­tet und gleich­sam die Spu­ren die­ser faschis­ti­schen Bedro­hung zu ver­wi­schen sucht.

Beim offi­zi­el­len Geden­ken «Bir­lik­te» auf der Keup­stra­ße, in der das Netz­werk NSU im Juni 2004 mit einer Nagel­bom­be einen Mas­sen­mord beab­sich­tig­te, waren die Betrof­fe­nen bereits wie­der in die Rol­le der Statist*innen gedrängt. Wäh­rend der Bun­des­prä­si­dent zusam­men mit ande­ren Honoratior*innen und Pro­mi­nen­ten speis­te, saßen die Opfer­fa­mi­li­en am Kat­zen­tisch und durf­ten vom Plas­tik­ge­schirr essen – auf die Büh­ne zum Spre­chen wur­den sie nicht zuge­las­sen. Auch das tei­len die Opfer neo­na­zis­ti­scher Gewalt mit denen des Natio­nal­so­zia­lis­mus – beim Geden­ken will man sich von offi­zi­el­ler Sei­te nicht stö­ren las­sen. Aber das Erin­nern ist eine Stö­rung, denn es erin­nert nicht nur an die Tat, son­dern auch an die fort­dau­ern­de Prä­senz ras­sis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Gewalt und ihrer insti­tu­tio­nel­len Ver­an­ke­rung. Es ist ein Akt der Aneig­nung von Geschichtsschreibung.

Das Tri­bu­nal NSU-Kom­plex auf­lö­sen im Mai ver­gan­ge­nen Jah­res in Köln for­mu­lier­te eine drei­fa­che Kla­ge: eine Weh­kla­ge um die Ermor­de­ten, die Empa­thie erzeug­te; eine umfas­sen­de Ankla­ge von 90 Tätern und Täte­rin­nen, die den NSU-Kom­plex vor­be­rei­te­ten, durch­führ­ten, unter­stütz­ten, abschirm­ten und die Opfer dele­gi­ti­mier­ten und denun­zier­ten und damit die per­so­nel­le Ver­ant­wor­tung für den struk­tu­rel­len Ras­sis­mus tra­gen; und eine Ein­kla­ge der Fak­ti­zi­tät und Macht einer post­mi­gran­ti­schen Gesell­schaft, die durch rech­ten Ter­ror nicht zum Ver­schwin­den gebracht wer­den kann. Esther Beja­ra­no eröff­ne­te den fünf­tä­gi­gen Event im Schau­spiel Köln mit den Wor­ten, das Tri­bu­nal sei ihre Rache an den Nazis! Und sie mach­te dabei eben gera­de kei­nen Unter­schied zwi­schen den his­to­ri­schen und den aktu­el­len Nazis. Die­se Ver­knüp­fung bedeu­tet eine Infra­ge­stel­lung der Tren­nung von offi­zi­ell geäch­te­ten, jedoch in die Ver­gan­gen­heit ver­scho­be­nen Anti­se­mi­tis­mus, und der struk­tu­rel­len Ver­harm­lo­sung von gegen­wär­ti­gem Rassismus.

Die Aner­ken­nung migran­tisch situ­ier­ten Wis­sens über Mus­ter ras­sis­ti­scher Exklu­si­on ver­än­dert nicht nur das Geden­ken, son­dern auch die Gesell­schaft, die sich nur über eine Mul­ti­di­rek­tio­na­li­tät des Erin­nerns auf eine post­mi­gran­ti­sche, d.h. demo­kra­ti­sie­ren­de Wei­se her­stel­len kann. Die Betrof­fe­nen laden dazu ein ihre Per­spek­ti­ve ein­zu­neh­men und bie­ten damit die­ser Gesell­schaft ihre Soli­da­ri­tät an.

 


(1) Sina Arnold, Jana König: „The who­le world owns the Holo­caust“. Geschichts­po­li­tik in der post­mi­gran­ti­schen Gesell­schaft am Bei­spiel der Erin­ne­rung an den Holo­caust unter Geflüch­te­ten, in: Forou­tan, Nai­ka; Kara­ka­ya­li, Julia­ne; Spiel­haus, Riem (Hrsg.): Post­mi­gran­ti­sche Per­spek­ti­ven. Frank­furt a.M., 2018. (im Erscheinen)

(2) Vgl. Roth­berg, Micha­el: Mul­ti­di­rec­tion­al Memo­ry. Remem­be­ring the Holo­caust in the Age of Deco­lo­niza­ti­on, Stan­ford 2009.

 

Bild: Dör­the Boxberg