Reise in die kritische Selbstreflexion

Exzellentes Bildungsmaterial des Vereins glokal e.V.: „Mit kolonialen Grüßen… Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“

 

02Huelga
Stra­ßen­blo­cka­de von Landbesetzer_innen: wäh­rend ein  Land­g­rab­bing unvor­stell­ba­ren Aus­ma­ßes in den Län­dern des glo­ba­len Südens statt­fin­det, müs­sen die Elen­den um ihre win­zi­gen Par­zel­len fürch­ten (wie hier 2011 in Nord-Argen­ti­ni­en in Ledes­ma, Pro­vin­cia de Sal­ta) Foto: Burschel

Spä­tes­tens mit der Euro­päi­schen Expan­si­on ist ein welt­wei­tes Unter­drü­ckungs­sys­tem ent­stan­den, in wel­chem nicht-wei­ße Men­schen von wei­ßen Europäer_innen zu Mil­lio­nen aus­ge­beu­tet, ver­sklavt, ver­schleppt, miss­han­delt und ermor­det wur­den. Die­ser Zustand der Ungleich­heit und Ungleich­wer­tig­keit, die Zwei­tei­lung der Welt in die Pri­vi­le­gier­ten und die Miss­brauch­ten, ent­wi­ckel­te sich auch über die poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Epo­chen Feu­da­lis­mus, Auf­klä­rung, Indus­tria­li­sie­rung, Impe­ria­lis­mus und Kolo­nia­lis­mus sowie Kapi­ta­lis­mus wei­ter und hat bis heu­te Bestand. Ein mör­de­ri­scher, aber funk­tio­nel­ler Ras­sis­mus, der sich im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts pseu­do-wis­sen­schaft­li­che Wei­hen zuleg­te und im Holo­caust einen bis­her ein­ma­li­gen, unvor­stell­bar grau­sa­men Kli­max sah, lie­fert für die­sen Zustand eine dau­er­haf­te Grund­la­ge, die den glo­ba­li­sier­ten All­tag mit kata­stro­pha­ler Dyna­mik bestimmt. Eine über­wie­gend männ­lich sozia­li­sier­te, wei­ße, hete­ro­se­xu­ell ori­en­tier­te, mehr oder min­der gebil­de­te Klas­se aus den west­li­chen Indus­trie­na­tio­nen oder dem glo­ba­len Nor­den domi­niert jede Ent­wick­lung auf dem Glo­bus und bestimmt die Geschi­cke der Welt und der Men­schen,  die auf ihm leben, vor allem im glo­ba­len Süden. Der Anspruch wei­ßer Antirassist_innen muss also von jeher sein, die eige­ne Pri­vi­le­giert­heit in die­ser Kon­stel­la­ti­on zu erken­nen und das eige­ne Weiß­sein kri­tisch zu reflek­tie­ren, um zu ver­hin­dern, dass sie die anso­zia­li­sier­te Domi­nanz im All­tag, im Dis­kurs, in Poli­tik, Geschlechts­le­ben und poli­ti­scher Pra­xis immer und immer wie­der repro­du­zie­ren und die inak­zep­ta­blen Ver­hält­nis­se auf die­sem Pla­ne­ten zemen­tie­ren. Wer als der­art sozia­li­sier­te Per­son im Wes­ten auf­ge­wach­sen ist, kann sich über die­se ver­häng­nis­vol­le Situa­ti­on wohl bewusst sein und dabei unter Umstän­den nicht mer­ken, dass er oder sie auch mit einem liber­tä­ren, wie auch immer lin­ken und kri­ti­schen Anspruch den­noch Teil des Pro­blems bleibt und Struk­tu­ren der Ungleich­wer­tig­keit reproduziert.

Aus Hekatom­ben von Lite­ra­tur aus der Feder von Betrof­fe­nen die­ser glo­ba­len, sehr kon­kre­ten Unter­drü­ckungs­ver­hält­nis­se, von Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, von Peo­p­le of Colour (ein Begriff der sich nicht nur an Haut­far­ben, son­dern mul­ti­plen Unter­drü­ckungs­mo­men­ten ori­en­tie­ren will), kann jeder Mensch ler­nen, was es bedeu­tet, zu den Nicht-Pri­vi­le­gier­ten auf der öko­no­mi­schen Schat­ten­sei­te der kapi­ta­lis­ti­schen Welt­wirt­schafts­ord­nung zu gehö­ren. Dies Sys­tem der Unter­drü­ckung ist all­um­fas­send, viel­fach gebro­chen und kom­bi­niert, was man heu­te inter­sek­tio­nal nennt. PoC-Com­mu­ni­ties for­dern von den Pri­vi­le­gier­ten, ins­be­son­de­re von denen, die sich eman­zi­pa­to­ri­scher, kri­ti­scher und anti­ras­sis­ti­scher Hal­tun­gen rüh­men, die­sen Kon­text zu ken­nen oder wid­ri­gen­falls ihn sich anzu­eig­nen, um nicht immer und immer wie­der PoC zu bean­spru­chen, um an ihnen oder durch sie an den fun­da­men­ta­len, alles über­schat­ten­den Wider­spruch erin­nert oder des­sen über­haupt erst inne zu wer­den. Eine Aus­ein­an­der­set­zung, zumal aber gemein­sa­me poli­ti­sche Aktio­nen kön­nen dem­nach nur statt­fin­den, wenn die „Tei­le des Pro­blems“ bereits ihr Pro­blem­sein reflek­tiert und sich das nöti­ge Wis­sen ange­eig­net haben.

Wie es dann aber wei­ter­ge­hen soll und wie die Welt (oder viel­leicht auch erst­mal nur der ras­sis­ti­sche All­tag) nach die­sem kom­pli­zier­ten Pro­zess der kri­ti­schen Selbst­re­fle­xi­on gemein­sam von kri­ti­schen Wei­ßen und PoC ver­än­dert wer­den kann und ob das über­haupt mög­lich ist, dar­über gehen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der und schei­den sich die Geis­ter, oft hand­greif­lich und wenig pra­xis­taug­lich, wie wir das in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen der zurück­lie­gen­den Jah­re (No-bor­der-Camp 2012, Cri­ti­cal-Whiten­ess-Dis­kus­si­on in Ber­lin 2012 (vgl. Hin­ter­land Nr. 20, die Bei­trä­ge Floh­markt der Deu­tungs­ho­heit und Stolz und Vor­ur­teil); taz­lab-Skan­dal zu ras­sis­ti­scher Spra­che mit frei dre­hen­dem Deniz Yücel 2013 etc.) gese­hen haben.

Ein ers­ter Schritt mag es sein, sich Lite­ra­tur zu besor­gen. Und auf Lis­ten lesens­wer­ter Titel zum The­ma wird sicher auch die schma­le Hand­rei­chung „Mit kolo­nia­len Grü­ßen… Berich­te und Erzäh­lun­gen von Aus­lands­auf­ent­hal­ten ras­sis­mus­theo­re­tisch betrach­tet“ vom Ver­ein glo­kal e.V. nicht feh­len. Die anspre­chend auf­ge­mach­te Bro­schü­re mag als Ziel­grup­pe für Back­pa­cker, Glo­be­trot­ter, „Rei­sen­de“ in Sachen „Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit“, jun­ge Leu­ten aus dem „weltwärts“-Programm oder ande­ren Frei­wil­li­gen­diens­ten geeig­net sein, kann aber als Ein­stieg in die Ras­sis­mus­the­ma­tik auch von allen ande­ren mit Gewinn gele­sen wer­den. „Denn fra­gend schrei­ten wir vor­an“, heißt es im Vor­spann, womit ein zuge­wand­ter und nie­der­schwel­li­ger bild­ne­ri­scher Ansatz umris­sen wäre, der das Heft zu einer ins­ge­samt ange­nehm erhel­len­den Lek­tü­re macht: „Die Bro­schü­re will so pra­xis­nah wie mög­lich sein und gleich­zei­tig die Erkennt­nis­se ras­sis­mus- und kolo­ni­al­kri­ti­scher For­schung und Bewe­gun­gen ein­be­zie­hen.“ Das ist auf vor­bild­li­che Wei­se gelun­gen: aus­ge­hend von der rela­tiv all­täg­li­chen Erfah­rung vie­ler (jun­ger) Men­schen aus dem glo­ba­len Nor­den, als Tourist_innen, Frei­wil­li­ge oder „Entwicklungshelfer_innen“ im glo­ba­len Süden her­um­zu­rei­sen, nimmt sich die kri­ti­sche Ana­ly­se die all­fäl­li­gen Rund­brie­fe, Urlaubs­be­rich­te, Rei­se­be­schrei­bun­gen und Dia-Aben­de, Blogs, Social-media-Ein­trä­ge und Inter­net­prä­sen­ta­tio­nen vor, um den „kolo­nia­len Blick“ zunächst als Pro­blem her­aus­zu­ar­bei­ten und dann über eine (selbst-)kritische Refle­xi­on zu alter­na­ti­ven Hand­lungs­wei­sen anzu­re­gen und einen Sin­nes­wan­del her­bei­zu­füh­ren. Anschau­lich und gut geglie­dert wird anhand kon­kre­ter und „authen­ti­scher“ Rei­se-Zeug­nis­se die­ser Art in Spra­che und Bild ein umfas­sen­der Pro­blem­auf­riss gebo­ten, der die Rosa Bril­le der über­le­ge­nen Selbst­ein­schät­zung mit dem Brenn­glas der Ras­sis­mus­kri­tik ver­tauscht. „Kolo­nia­lis­mus ist ein Herr­schafts- und Gewalt­sys­tem, das unser Den­ken und Han­deln bestimmt – egal, ob dies bewusst oder unbe­wusst geschieht“: die Dimen­sio­nen die­ses Sys­tems lie­gen im Ras­sis­mus, also der strik­ten Tren­nung von (einst) Kolo­ni­sier­ten und (einst) Kolo­ni­sie­ren­den, der Zwangs­un­ter­wer­fung unter die kapi­ta­lis­ti­sche Welt­ord­nung und aus­schließ­li­chen Durch­set­zung euro­päi­scher Wis­sens­sys­te­me im glo­ba­len Kontext.

Die blog­gen­den Rei­sen­den und zu frag­wür­di­gen Dia-Aben­den ein­la­den­den Heimkehrer_innen sor­tie­ren alle „Bil­der, Erfah­run­gen und Ein­drü­cke (…) bewusst oder unbe­wusst in unser Wis­sens­sys­tem ein“ und repro­du­zie­ren so die kolo­ni­al beto­nier­te ang­lo-euro­päi­sche Welt­sicht und ‑herr­schaft. Die Bro­schü­re beschreibt und erklärt die in der augen­blick­li­chen post­ko­lo­nia­len Debat­te rele­van­ten Begrif­fe, um den Einsteiger_innen in die­se Aus­ein­an­der­set­zun­gen das nöti­ge ter­mi­no­lo­gi­sche Rüst­zeug an die Hand zu geben: Ras­sis­mus und wie er funk­tio­niert, Kul­tu­ra­lis­mus, Othe­ring, Ras­sia­li­sie­rung, Exo­tis­mus, das Kon­strukt des „edlen Wil­den“, das kei­nes­wegs als Haut­far­ben­leh­re gedach­te Begriffs­paar „Schwarz & Weiß“ usw.

Und aus die­ser grund­sätz­li­chen Ein­füh­rung in die kri­ti­sche Selbst­re­fle­xi­on für pri­vi­le­gier­te Bürger_innenkinder auf chau­vi­nis­ti­schen Selbst­fin­dungs­trips in aller Welt lei­tet sich der Appell zur Auf­ga­be der (begriff­li­chen) Defi­ni­ti­ons­macht und zur bewuss­ten Umset­zung ras­sis­mus­kri­ti­scher (Bilder-)Sprache ab, wobei betont wird, dass es mit oft nur kos­me­ti­schen Ver­mei­dungs­stra­te­gien bei wei­tem nicht getan ist: „Schwie­ri­ger, aber durch­aus ernst­zu­neh­men­der, wäre es, wenn sich die­ser Punkt als Hal­tung aus­drückt, die sich durch die Tex­te zieht.“

Und nach einer aus­führ­li­chen Betrach­tung typi­scher Bei­spie­le offen ras­sis­ti­scher oder „doch nur gut gemein­ter“ Rei­se­be­rich­te, kom­men die Autor_innen sogar zu ein paar wei­ter­füh­ren­den Tipps, die die Repro­duk­ti­on des omni­prä­sen­ten Ras­sis­mus ver­hin­dern hel­fen kön­nen: ein­fach mal nicht pho­to­gra­phie­ren oder ein­fach mal die Klap­pe hal­ten, wenn man im Grun­de nichts oder nur das krau­se kolo­nia­lis­ti­sche Gedöns zu Men­schen, Län­dern, Bil­dern und Zustän­den im Kopf hat. Statt essen­tia­lis­ti­schen Blöd­sinn über „Natur­völ­ker“, „Stäm­me“, „Indi­os“ und „Ein­ge­bo­re­ne“ zu ver­zap­fen, soll­te über den Kon­text der Kri­mi­nal­ge­schich­te der Euro­päi­schen Expan­si­on der Bogen zu aktu­el­len sozia­len und poli­ti­schen Kämp­fen im glo­ba­len Süden und auch in den Metro­po­len geschla­gen werden.

Für kri­ti­sche Bil­dung mit einem lin­ken Anspruch bie­tet die glo­kal-Boschü­re einen exzel­len­ten Ein­stieg und zum Schluss unter dem Mot­to „Wei­ter­le­sen Wei­ter­den­ken Wei­ter­han­deln“ noch eine Lis­te ein­schlä­gi­ger wei­ter­füh­ren­der Lite­ra­tur und ent­spre­chen­der Internetlinks.

Den Down­load der Bro­schü­re und wei­te­rer span­nen­der Publi­ka­tio­nen von glo­kal e.V. fin­det man hier  — für Freund_innen hap­ti­schen Lese­ge­nus­ses hält der Ver­ein sei­ne Hef­te auch auf Papier vor.