Exzellentes Bildungsmaterial des Vereins glokal e.V.: „Mit kolonialen Grüßen… Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“
Spätestens mit der Europäischen Expansion ist ein weltweites Unterdrückungssystem entstanden, in welchem nicht-weiße Menschen von weißen Europäer_innen zu Millionen ausgebeutet, versklavt, verschleppt, misshandelt und ermordet wurden. Dieser Zustand der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, die Zweiteilung der Welt in die Privilegierten und die Missbrauchten, entwickelte sich auch über die politischen und kulturellen Epochen Feudalismus, Aufklärung, Industrialisierung, Imperialismus und Kolonialismus sowie Kapitalismus weiter und hat bis heute Bestand. Ein mörderischer, aber funktioneller Rassismus, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts pseudo-wissenschaftliche Weihen zulegte und im Holocaust einen bisher einmaligen, unvorstellbar grausamen Klimax sah, liefert für diesen Zustand eine dauerhafte Grundlage, die den globalisierten Alltag mit katastrophaler Dynamik bestimmt. Eine überwiegend männlich sozialisierte, weiße, heterosexuell orientierte, mehr oder minder gebildete Klasse aus den westlichen Industrienationen oder dem globalen Norden dominiert jede Entwicklung auf dem Globus und bestimmt die Geschicke der Welt und der Menschen, die auf ihm leben, vor allem im globalen Süden. Der Anspruch weißer Antirassist_innen muss also von jeher sein, die eigene Privilegiertheit in dieser Konstellation zu erkennen und das eigene Weißsein kritisch zu reflektieren, um zu verhindern, dass sie die ansozialisierte Dominanz im Alltag, im Diskurs, in Politik, Geschlechtsleben und politischer Praxis immer und immer wieder reproduzieren und die inakzeptablen Verhältnisse auf diesem Planeten zementieren. Wer als derart sozialisierte Person im Westen aufgewachsen ist, kann sich über diese verhängnisvolle Situation wohl bewusst sein und dabei unter Umständen nicht merken, dass er oder sie auch mit einem libertären, wie auch immer linken und kritischen Anspruch dennoch Teil des Problems bleibt und Strukturen der Ungleichwertigkeit reproduziert.
Aus Hekatomben von Literatur aus der Feder von Betroffenen dieser globalen, sehr konkreten Unterdrückungsverhältnisse, von Rassismus und Diskriminierung, von People of Colour (ein Begriff der sich nicht nur an Hautfarben, sondern multiplen Unterdrückungsmomenten orientieren will), kann jeder Mensch lernen, was es bedeutet, zu den Nicht-Privilegierten auf der ökonomischen Schattenseite der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung zu gehören. Dies System der Unterdrückung ist allumfassend, vielfach gebrochen und kombiniert, was man heute intersektional nennt. PoC-Communities fordern von den Privilegierten, insbesondere von denen, die sich emanzipatorischer, kritischer und antirassistischer Haltungen rühmen, diesen Kontext zu kennen oder widrigenfalls ihn sich anzueignen, um nicht immer und immer wieder PoC zu beanspruchen, um an ihnen oder durch sie an den fundamentalen, alles überschattenden Widerspruch erinnert oder dessen überhaupt erst inne zu werden. Eine Auseinandersetzung, zumal aber gemeinsame politische Aktionen können demnach nur stattfinden, wenn die „Teile des Problems“ bereits ihr Problemsein reflektiert und sich das nötige Wissen angeeignet haben.
Wie es dann aber weitergehen soll und wie die Welt (oder vielleicht auch erstmal nur der rassistische Alltag) nach diesem komplizierten Prozess der kritischen Selbstreflexion gemeinsam von kritischen Weißen und PoC verändert werden kann und ob das überhaupt möglich ist, darüber gehen die Meinungen auseinander und scheiden sich die Geister, oft handgreiflich und wenig praxistauglich, wie wir das in den Auseinandersetzungen der zurückliegenden Jahre (No-border-Camp 2012, Critical-Whiteness-Diskussion in Berlin 2012 (vgl. Hinterland Nr. 20, die Beiträge Flohmarkt der Deutungshoheit und Stolz und Vorurteil); tazlab-Skandal zu rassistischer Sprache mit frei drehendem Deniz Yücel 2013 etc.) gesehen haben.
Ein erster Schritt mag es sein, sich Literatur zu besorgen. Und auf Listen lesenswerter Titel zum Thema wird sicher auch die schmale Handreichung „Mit kolonialen Grüßen… Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismustheoretisch betrachtet“ vom Verein glokal e.V. nicht fehlen. Die ansprechend aufgemachte Broschüre mag als Zielgruppe für Backpacker, Globetrotter, „Reisende“ in Sachen „Entwicklungszusammenarbeit“, junge Leuten aus dem „weltwärts“-Programm oder anderen Freiwilligendiensten geeignet sein, kann aber als Einstieg in die Rassismusthematik auch von allen anderen mit Gewinn gelesen werden. „Denn fragend schreiten wir voran“, heißt es im Vorspann, womit ein zugewandter und niederschwelliger bildnerischer Ansatz umrissen wäre, der das Heft zu einer insgesamt angenehm erhellenden Lektüre macht: „Die Broschüre will so praxisnah wie möglich sein und gleichzeitig die Erkenntnisse rassismus- und kolonialkritischer Forschung und Bewegungen einbeziehen.“ Das ist auf vorbildliche Weise gelungen: ausgehend von der relativ alltäglichen Erfahrung vieler (junger) Menschen aus dem globalen Norden, als Tourist_innen, Freiwillige oder „Entwicklungshelfer_innen“ im globalen Süden herumzureisen, nimmt sich die kritische Analyse die allfälligen Rundbriefe, Urlaubsberichte, Reisebeschreibungen und Dia-Abende, Blogs, Social-media-Einträge und Internetpräsentationen vor, um den „kolonialen Blick“ zunächst als Problem herauszuarbeiten und dann über eine (selbst-)kritische Reflexion zu alternativen Handlungsweisen anzuregen und einen Sinneswandel herbeizuführen. Anschaulich und gut gegliedert wird anhand konkreter und „authentischer“ Reise-Zeugnisse dieser Art in Sprache und Bild ein umfassender Problemaufriss geboten, der die Rosa Brille der überlegenen Selbsteinschätzung mit dem Brennglas der Rassismuskritik vertauscht. „Kolonialismus ist ein Herrschafts- und Gewaltsystem, das unser Denken und Handeln bestimmt – egal, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht“: die Dimensionen dieses Systems liegen im Rassismus, also der strikten Trennung von (einst) Kolonisierten und (einst) Kolonisierenden, der Zwangsunterwerfung unter die kapitalistische Weltordnung und ausschließlichen Durchsetzung europäischer Wissenssysteme im globalen Kontext.
Die bloggenden Reisenden und zu fragwürdigen Dia-Abenden einladenden Heimkehrer_innen sortieren alle „Bilder, Erfahrungen und Eindrücke (…) bewusst oder unbewusst in unser Wissenssystem ein“ und reproduzieren so die kolonial betonierte anglo-europäische Weltsicht und ‑herrschaft. Die Broschüre beschreibt und erklärt die in der augenblicklichen postkolonialen Debatte relevanten Begriffe, um den Einsteiger_innen in diese Auseinandersetzungen das nötige terminologische Rüstzeug an die Hand zu geben: Rassismus und wie er funktioniert, Kulturalismus, Othering, Rassialisierung, Exotismus, das Konstrukt des „edlen Wilden“, das keineswegs als Hautfarbenlehre gedachte Begriffspaar „Schwarz & Weiß“ usw.
Und aus dieser grundsätzlichen Einführung in die kritische Selbstreflexion für privilegierte Bürger_innenkinder auf chauvinistischen Selbstfindungstrips in aller Welt leitet sich der Appell zur Aufgabe der (begrifflichen) Definitionsmacht und zur bewussten Umsetzung rassismuskritischer (Bilder-)Sprache ab, wobei betont wird, dass es mit oft nur kosmetischen Vermeidungsstrategien bei weitem nicht getan ist: „Schwieriger, aber durchaus ernstzunehmender, wäre es, wenn sich dieser Punkt als Haltung ausdrückt, die sich durch die Texte zieht.“
Und nach einer ausführlichen Betrachtung typischer Beispiele offen rassistischer oder „doch nur gut gemeinter“ Reiseberichte, kommen die Autor_innen sogar zu ein paar weiterführenden Tipps, die die Reproduktion des omnipräsenten Rassismus verhindern helfen können: einfach mal nicht photographieren oder einfach mal die Klappe halten, wenn man im Grunde nichts oder nur das krause kolonialistische Gedöns zu Menschen, Ländern, Bildern und Zuständen im Kopf hat. Statt essentialistischen Blödsinn über „Naturvölker“, „Stämme“, „Indios“ und „Eingeborene“ zu verzapfen, sollte über den Kontext der Kriminalgeschichte der Europäischen Expansion der Bogen zu aktuellen sozialen und politischen Kämpfen im globalen Süden und auch in den Metropolen geschlagen werden.
Für kritische Bildung mit einem linken Anspruch bietet die glokal-Boschüre einen exzellenten Einstieg und zum Schluss unter dem Motto „Weiterlesen Weiterdenken Weiterhandeln“ noch eine Liste einschlägiger weiterführender Literatur und entsprechender Internetlinks.
Den Download der Broschüre und weiterer spannender Publikationen von glokal e.V. findet man hier — für Freund_innen haptischen Lesegenusses hält der Verein seine Hefte auch auf Papier vor.