Rechte statt Fürsorge

Im Sep­tem­ber 2013 wur­de vom Euro­päi­schen Par­la­ment die Stu­die «Empower­ment of Roma Women within the Euro­pean Frame­work of Natio­nal Roma Inclu­si­on Stra­te­gies» her­aus­ge­ge­ben. In die­ser gut 98 Sei­ten schwe­ren Stu­die wird Empower­ment ver­stan­den als: «das Kon­zept der För­de­rung von Roma-Frau­en – also der Stär­kung ihrer Gestal­tungs- und Ent­schei­dungs­macht –, um auf die­ser Basis die der­zei­ti­gen Lebens­be­din­gun­gen von Roma-Frau­en zu ana­ly­sie­ren, die jewei­li­gen natio­na­len Stra­te­gien zur Inte­gra­ti­on der Roma zu beleuch­ten und bewähr­te Prak­ti­ken zu ermitteln.»

Ten­den­zi­ell ist die­ser Bericht, eben­so wie auch die vor­an­ge­gan­ge­nen EU-Berich­te zur Lage der Roma-Frau­en, durch fol­gen­de «Merk­ma­le» gekennzeichnet:

  1. die Ver­wen­dung von zum Teil absur­den Zah­len (z.B. Schwan­kun­gen um 100% im Ver­gleich zu ande­ren Berich­ten bei der Anga­be von Bevöl­ke­rungs­zah­len von Roma in Europa);
  2. eine abso­lu­te Ver­all­ge­mei­ne­rung der Lebens­si­tua­tio­nen von Roma-Frauen;
  3. kul­tu­ra­li­sie­ren­de Zuschrei­bun­gen patri­ar­cha­ler Gewalt inner­halb von Roma-Communities;
  4. Nicht­er­wäh­nung und sogar Leug­nung der Ver­fol­gungs­ge­schich­te von Roma und ihrer bis heu­te andau­ern­den Folgen;
  5. das sys­te­ma­ti­sche Aus­blen­den von Ver­flech­tun­gen mit ande­ren als gen­der­be­zo­ge­nen Unter­drü­ckungs­er­fah­run­gen, vor allem mit Armut und Ras­sis­mus, die zu sozia­ler Ungleich­heit führen;
  6. der Aus­schluss von und die sys­te­ma­ti­sche Igno­ranz gegen­über selbst­or­ga­ni­sier­ten Struk­tu­ren, For­de­run­gen, Bemäch­ti­gun­gen von Roma-Akteur_innen.

Ein Ansatz von kol­lek­ti­vem Empower­ment und die Visi­on von grund­le­gen­der gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­rung ist in allen mir bekann­ten EU-Berich­ten und ‑Stu­di­en zur Lage der Roma Frau­en völ­lig aus­ge­bleicht. Das steht im trau­ri­gen Ein­klang mit der rea­len euro­päi­schen und der jewei­li­gen natio­na­len Hand­lungs­pra­xis im Bereich roma­be­zo­ge­ner Poli­tik. Die roma­be­zo­ge­nen euro­päi­schen Pro­gram­me und aktu­el­len natio­na­len Stra­te­gien zur Roma-Inklu­si­on kön­nen an vie­len Punk­ten in ihrer Ziel- und Umset­zung durch­aus mit den Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­gram­men, die sich gegen Län­der des Glo­ba­len Südens rich­ten, ver­gli­chen wer­den, so z.B.:

  • der auf­ge­bläh­te euro­päi­sche Ver­wal­tungs­ap­pa­rat, der klei­ne, loka­le Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen im Zugang zum Wis­sen, finan­zi­el­len und mate­ri­el­len Res­sour­cen und Mög­lich­kei­ten der Mit­be­stim­mung benachteiligt;
  • Beschluss­gre­mi­en zu rele­van­ten The­men, Zie­len, Maß­nah­men zur För­de­rung von Roma, die alle mög­li­chen Per­so­nen – außer der­je­ni­gen, um die es dabei geht – einbeziehen;
  • damit zusam­men­hän­gend eine indus­tri­el­le Pro­duk­ti­on von inter­na­tio­na­len und natio­na­len Expert_innen, Pro­jek­ten und Kon­fe­ren­zen mit For­mu­lie­run­gen von Emp­feh­lun­gen, Berich­ten, Indi­ka­to­ren und diver­sen Maß­nah­men­vor­schlä­gen zur Ver­bes­se­rung der Lage von Roma, die vor allem die eige­ne Lage der Betei­lig­ten verbessern.

Auf­grund die­ser Ver­gleich­bar­keit mit den Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­gram­men ler­ne ich ger­ne von den poli­ti­schen Erfah­run­gen von Frau­en aus dem Glo­ba­len Süden und ori­en­tie­re mich in mei­nem Ver­ständ­nis von Empower­ment an sol­chen Kon­zep­ten, die u.a. als femi­nis­ti­sche Ant­wort zur Ent­wick­lungs­hil­fe for­mu­liert wur­den. Frau­en aus dem Glo­ba­len Süden haben seit Mit­te der 1980er Jah­re dezi­dier­te Kri­ti­ken an ver­schie­de­nen west­li­chen Moden «femi­nis­ti­scher Ent­wick­lungs­hil­fen» formuliert.

Auf der Welt­frau­en­kon­fe­renz in Nai­ro­bi 1985 prä­sen­tier­te die Grup­pe DAWN (Deve­lo­p­ment Alter­na­ti­ves with Women for a New Era) das Empower­ment-Kon­zept als eine Gesell­schafts­vi­si­on von Frau­en aus dem Glo­ba­len Süden, die kol­lek­ti­ve Pro­zes­se der Selbst­er­mäch­ti­gung und eine umfas­sen­de Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Macht­ver­hält­nis­se, vor allem bei der glo­ba­len Zutei­lung von Res­sour­cen und Rech­ten, zum Ziel hat­te. Sie haben mit ihrem Mani­festo im Gegen­satz einer von «oben» und durch ande­re orga­ni­sier­ten Befrei­ung der Frau­en aus dem Glo­ba­len Süden einen kon­se­quen­ten, in «grass roots-Bewe­gun­gen» ver­or­te­ten Stand­punkt von Selbst­er­mäch­ti­gung ein­ge­nom­men und kon­kre­te Schrit­te zur Erar­bei­tung einer Umver­tei­lung von Res­sour­cen vor­ge­legt. Sie haben sich in Zusam­men­hang mit ande­ren Befrei­ungs­be­we­gun­gen gesetzt, für die Viel­falt von Femi­nis­men plä­diert und nicht weni­ger als  «öko­no­mi­sche und sozia­le Gerech­tig­keit, Frie­den und Ent­wick­lung – frei von allen For­men der Unter­drü­ckung auf­grund von Geschlecht, Klas­se, Race oder Nati­on» ver­langt.

Lei­der sind die­se Empower­ment- und auch Par­ti­zi­pa­ti­ons­kon­zep­te, die einst als kol­lek­ti­ve und poli­ti­sche Bezeich­nun­gen für den stra­te­gi­schen Weg in Rich­tung einer gerech­te­ren Welt for­mu­liert wur­den, mitt­ler­wei­le durch EU-Büro­kra­t_in­nen ver­ein­nahmt wor­den. Der Begriff Empower­ment wird infla­tio­när, indi­vi­dua­li­sie­rend und instru­men­ta­li­sie­rend genutzt. DAWN hat einst eine dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setz­te Rol­len­ver­tei­lung beim Empower­ment for­mu­liert, wonach Self-Empower­ment Selbst­er­mäch­ti­gung von Unter­drück­ten und soli­da­ri­sches Han­deln ist und dem­nach nicht pro­fes­sio­nel­les Empowern der Unter­drück­ten durch Gad­je (Nicht­ro­ma) bzw. pri­vi­le­gier­ter Roma sein kann, wie es in euro­päi­schen Stu­di­en und ihrer Emp­feh­lun­gen erscheint.

Wie auch in der ein­gangs zitier­ten Stu­die emp­feh­len mitt­ler­wei­le die meis­ten Berich­te über Roma die Par­ti­zi­pa­ti­on der Min­der­heit, ohne die­ser Emp­feh­lung in der eige­nen Durch­füh­rung der Stu­die und ihrer Ver­öf­fent­li­chung, in die sie die Emp­feh­lung hin­ein­schrei­ben, nach­zu­kom­men. Erfor­der­lich wäre eine an den Inhal­ten ori­en­tier­te, kon­tex­tua­li­sier­te, kon­se­quen­te, kon­ti­nu­ier­li­che, hete­ro­ge­ne Betei­li­gung von mehr als einer oder zwei legi­ti­mier­ten Sprecher_innen, sowohl bei der gro­ßen Mehr­zahl der Ver­öf­fent­li­chun­gen als auch und vor allem in den poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen fak­tisch zu gewähr­leis­ten. Dies wür­de bedeu­ten, Empower­ment von ande­ren zu unter­stüt­zen, aber nicht zu organisieren!

Das Gegen­teil ist jedoch der Fall. Die EU-Stu­di­en und ‑Berich­te zur Lage der Roma-Frau­en kor­re­lie­ren mit natio­na­len Für­sor­ge-Poli­ti­ken in Bezug auf die Ein­be­zie­hung von Roma. Dabei ist ein wesent­li­cher Mecha­nis­mus die Ver­tei­lung von Exper­ti­se und der enor­men Pro­jekt­mit­tel an Ver­ei­ne, die unter den vor­for­mu­lier­ten «Bedar­fen von Roma» (Arbeits­markt, Bil­dung, Woh­nen, Gesund­heit) pro­fes­sio­nel­le Für­sor­ge­ar­beit leis­ten und mit klei­nen Roma-Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen konkurrieren.

Ich möch­te abschlie­ßend drei Bei­spie­le für Empower­ment-Poli­ti­ken von Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen nen­nen, deren For­de­run­gen ich teile:

Kam­pa­gne für Blei­be­recht von Roma in Deutsch­land. Bild: alle bleiben

1. Letzt­lich ist unab­hän­gig von dis­ku­tier­ba­ren Sta­tis­ti­ken wohl unstrit­tig, dass vie­le Roma – so wie vie­le ande­re Men­schen auf die­ser Welt – von Bewe­gungs­frei­heit aus­ge­schlos­sen wer­den und dass die euro­päi­schen Grenz­re­gime, zen­tral und natio­nal orga­ni­siert, sys­te­ma­tisch Men­schen in ihrer Bewe­gungs­frei­heit per Gesetz, Nor­men und kon­kre­ten Hand­lun­gen ein­schrän­ken und auch ihren Tod beim Ver­such der Über­win­dung von Gren­zen in Kauf neh­men. Men­schen migrie­ren, um sich selbst und ihre Fami­li­en zu empowern. Die­ser ver­such­ten Selbst­er­mäch­ti­gung begeg­net das trans­na­tio­nal orga­ni­sier­te Grenz­re­gime mit mas­si­ver staat­li­cher Repres­si­on. Inner­halb eines sol­chen Rah­mens kann es kein Empower­ment im Rah­men der gege­be­nen Struk­tu­ren geben. Die Geset­ze müs­sen geän­dert und den rea­len Migra­ti­ons­be­din­gun­gen ange­passt wer­den. Wir sind als Aktivist_innen auf­ge­for­dert, eine trans­for­ma­ti­ve Gesell­schafts­po­li­tik ein­zu­for­dern. Ich unter­stüt­ze daher mit vol­lem Respekt ins­be­son­de­re der dar­in enga­gier­ten Geflüch­te­ten die Kam­pa­gne «alle blei­ben», weil sie mei­nes Erach­tens eine der Roma-Bewe­gun­gen ist, die zwar von Roma aus­geht und spe­zi­fisch argu­men­tiert, sich aber auch über Par­ti­ku­lar­for­de­run­gen hinauswagt.

2. Vie­le Roma leben in seg­re­gier­ten Wohn­sied­lun­gen und haben – so wie vie­le ande­re Men­schen auf die­ser Welt – kei­nen Zugang zu men­schen­wür­di­gen Lebens­be­din­gun­gen wie z.B. der Ver­sor­gung mit sau­be­rem Was­ser, mit Elek­tri­zi­tät, Gesund­heits­ver­sor­gung, Bil­dungs- und Arbeits­markt­zu­gang, respekt­vol­ler Behand­lung in der Öffent­lich­keit oder dem Schutz vor gewalt­vol­len Über­grif­fen ras­sis­ti­scher Mobs. Nach dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks hat die durch neo­li­be­ra­le Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se beding­te Wirt­schafts­kri­se schnell und mas­siv Armut pro­du­ziert. Die dar­aus fol­gen­den Kluft zwi­schen Armen und Rei­chen wird bis heu­te wei­ter zemen­tiert. Der wirt­schaft­li­chen Expan­si­on sind kei­ne Gren­zen gesetzt, ob es Zwangs­um­sied­lun­gen von Roma oder die Pri­va­ti­sie­run­gen von ehe­mals staat­li­chen Gütern betrifft. Hier müs­sen die Natio­nal­staa­ten anstatt der Ein­füh­rung von sepa­ra­ten Roma-Stra­te­gien kon­se­quent ihrer wirt­schafts­po­li­ti­schen Auf­ga­be nach­kom­men und die Sche­re zwi­schen Arm und Reich schlie­ßen. In Ser­bi­en for­men sich Zusam­men­schlüs­se zwi­schen lin­ken Roma-Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen und Gewerk­schaf­ten bzw. ande­ren lin­ken Bewe­gun­gen, die bereit sind, weit­rei­chen­de For­de­run­gen nach gesell­schaft­li­cher Umver­tei­lung zu stel­len. Die Ver­flech­tung von öko­no­mi­scher und ras­sis­ti­scher Unter­drü­ckung ist beglei­ten­des The­ma der Ver­an­stal­tun­gen, die das Rom­ski Edu­ka­tiv­ni Cen­tar mit der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung seit 2012 jähr­lich in Beograd orga­ni­siert. 2014 hat sich dar­aus als Zusam­men­schluss unter­schied­li­cher lin­ker Roma-Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen das Forum der Roma Ser­bi­ens gegründet.

Bild: IniR­omnja

3.  Einen femi­nis­ti­schen Aus­gangs­punkt in der Arbeit an Ver­än­de­run­gen von ras­sis­ti­schen Nar­ra­tio­nen eben­so wie die Wert­schät­zung und Gestal­tung selbst­be­wuss­ter und selbst­be­zo­ge­ner sowie unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven auf Rromnja erle­be ich in der Ber­li­ner Grup­pe IniRr­omnja. Anhand eini­ger grund­sätz­li­cher Erwä­gun­gen möch­te ich an der Pra­xis die­ser Grup­pe auf­zei­gen, was Empower­ment sein kann:

  • nicht nur glei­che Rech­te in einem unge­rech­ten Sys­tem zu for­dern, son­dern auch die bestehen­den wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen zu hinterfragen;
  • sich an Bewe­gun­gen zu rich­ten und Selbst­or­ga­ni­sie­run­gen zu unterstützen;
  • sich von «Expert_innen» zu befrei­en, sich von der Kli­en­ta­li­sie­rung zu eman­zi­pie­ren und Rech­te statt Für­sor­ge zu verlangen;
  • sich auf die eige­ne Erfah­rungs­welt zu bezie­hen – im Sin­ne von Self-Empower­ment und soli­da­risch zu agie­ren, ohne ande­rer Leu­te Bemäch­ti­gung zu organisieren;
  • Gen­der im his­to­ri­schen Kon­text und in der Ver­flech­tung mit ande­ren Unter­drü­ckungs­for­men zu ver­ste­hen und des­halb eine Viel­zahl von Femi­nis­men und Befrei­ungs­kon­zep­ten zu respektieren;
  • gemein­sam mit mei­nen Schwes­tern die Schön­heit in uns und unse­ren Men­schen wertzuschätzen.

 

 

Isi­do­ra Rand­jelo­vić ist Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin und arbei­tet beim Ver­band für Inter­kul­tu­rel­le Arbeit Ber­lin-Bran­den­burg im Bereich Ver­eins­be­ra­tung. Sie ist poli­tisch unter ande­rem in der IniRr­omnja, einer Rromnja- und Sin­tez­za-Frau­en­grup­pe, engagiert.

 

Wei­te­re Bei­trä­ge im Dos­sier «Empower­ment?!»:

Mar­wa Al-Rad­wany und Ahmed Shah: Mehr als nur ästhe­ti­sche Korrekturen

Pas­qua­le Vir­gi­nie Rot­ter: We can breathe

Ozan Kes­k­in­kılıç: Erin­nern ist Empowerment

Nata­scha Salehi-Shah­ni­an: Power­sha­ring: Was machen mit Macht?!

Mona El Oma­ri und Sebas­ti­an Flea­ry: «If you can’t say love…» – Ein Empower­ment-Flow zu Indi­vi­du­um, Dia­spo­ra-Com­mu­ni­ty und päd­ago­gi­scher Reflexion

Tuğ­ba Tanyıl­maz: Päd­ago­gin 2.0

Doro­thea Lin­den­berg und Eli­sa­beth Nga­ri: Von per­sön­li­chen Pro­ble­men zu poli­ti­schen Forderungen

Tahir Del­la: Schwar­ze Men­schen zwi­schen Fremd­wahr­neh­mung und Selbstbestimmung

Nuran Yiğit: Empower­ment durch Recht

Ire­ne Run­ge: Gemein­de­zu­ge­hö­rig­keit oder jüdi­sche Iden­ti­tät? Wie Eth­nie und Reli­gi­on sich ergänzen

Žakli­na Mam­uto­vič: Empower­ment ist ein poli­ti­scher Begriff

Fatoş Ata­li-Tim­mer und Paul Mecher­il: Zur Not­wen­dig­keit einer ras­sis­mus­kri­ti­schen Sprache

Son­gül Bitiș und Nina Borst: Gemein­sam könn­ten wir das Haus rocken!

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