Der Angeklagte im NSU-Prozess Ralf Wohlleben trug vor seiner Inhaftierung Ende 2011 nachts ein T‑Shirt. Das möchte man zwar gar nicht wissen, aber dieses Schlaf-Shirt hat es in sich: „Eisenbahnromantik“ steht in Fraktur auf seiner Vorderseite und darunter sind die Gleisanlagen vor der bekannten Silhouette des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau abgebildet. Nach Wohllebens Einlassungen im Münchener Verfahren Ende 2015, wo er sich im Grunde als verfolgte Unschuld und ebenso aufrechten wie friedliebenden Nationalisten präsentierte, hatten sich die Ankläger der Bundesanwaltschaft (BAW) des vielsagenden Asservats erinnert und eine Polizeizeugin geladen, die zu diesem Fund aussagen sollte. Das Beweisstück jedenfalls dokumentiert doch eine gewisse ideologische Eindeutigkeit der politischen Ausrichtung des Angeklagten Wohlleben.
Die ziemlich abstoßende Strafverteidigerriege im Dienste Wohllebens, darunter ausgewiesene Neonazis wie der Rechtsanwalt Wolfram Nahrath, der bis zum Verbot 1994 Bundesführer der „Wikingjugend“ war, monierte dieses Ansinnen und unterband vorerst die geplante Vernehmung, weil die BAW das Beweismaterial aus unbekannten Aktenbeständen hervorzaubere und das „Schlaf-Shirt“ irrelevant sei, da doch – so im schönsten NS-Jargon – bei den vom NSU Ermordeten keiner „mosaischen Glaubens“ gewesen sei. Obwohl man sich ungern auf solche Leute beruft, haben sie doch in einem Recht: Man kann der BAW durchaus so etwas wie kreatives Aktenmanagement attestieren. Meist kommt diese Kreativität jedoch in anderen Konstellationen zum Tragen: Immer dann nämlich, wenn es für staatliche Akteure in der Beweisaufnahme brenzlig zu werden droht und die Frage aufscheint, wieviel Staat wirklich im NSU steckte, mauert die BAW und pocht auf Beschleunigung oder darauf, dass die Nachfragen und Beweisanträge nichts zur Sache täten. Gut, das Argument mit der Beschleunigung hat sich nach über 275 Prozesstagen natürlich etwas erschöpft.
In Teilen der Nebenklagevertretung wird ebenfalls beklagt, dass die BAW den Prozessbeteiligten mit Taschenspielertricks vollständige Akteneinsicht vorenthalte. Neben dem Prozess gegen Beate Zschäpe, Wohlleben und noch drei Angeklagte laufen weitere neun Ermittlungsverfahren sowie ein „Strukturverfahren“ gegen „Unbekannt“ im gesamten NSU-Komplex. Insbesondere das „Unbekannt“-Verfahren gilt den Kritikern als Parkplatz für unbequeme Ermittlungsergebnisse, die die Grundthese der BAW aus der Anklage, es habe sich beim NSU um eine „isolierte“ Drei-Personen-Zelle gehandelt, in Frage stellen könnten. Entsprechende Forderungen nach kompletter Akteneinsicht würden brüsk mit Verweis auf die Geheimhaltung in laufenden Verfahren abgewiesen.
Auf diese Weise wird der Verfassungsschutz genannte Inlandsgeheimdienst, dessen Verstrickung in den NSU-Komplex kaum noch abzustreiten ist, abgeschirmt und verhindert, dass jenseits der sehr eng geführten Anklageschrift in geheimdienstlichen Sphären wie dem V‑Leute-System herumgeschnüffelt wird. Die Ermittlung weiterer zum Teil hoch brisanter Enthüllungen im bizarren NSU-Kosmos übernehmen dann zwangsläufig ehrgeizige Investigativjournalisten oder auch Anwälte der Nebenklage.
So etwa der Enthüllungsjournalist Dirk Laabs. Ein ums andere Mal fördert er, zusammen mit der unterdessen sehr grauen Eminenz Stefan Aust, neue Hinweise zutage, wie nah der Staat über Verfassungsschutz-Informanten am NSU dran war und dass er einschreiten und die Verbrechen des NSU hätte verhindern können. In ihrem sehr soliden Buch „Heimatschutz“ aus 2014 steht schon drin, dass eine der dicken Spinnen im Netz der sächsischen Nazi-Organisationen, Ralf „Manole“ Marschner, unter anderem eine Baufirma in Zwickau betrieb und für diese Firma regelmäßig Fahrzeuge ausgeliehen wurden, vorwiegend für Baustellen in München und Nürnberg und unter anderem etwa im zeitlichen Zusammenhang mit dem Mord an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München. Der Verdacht drängte sich auf, dass diese Fahrzeuge zu Mordzwecken ausgeliehen worden seien und damit Kontakte zwischen Marschner oder Leuten in seiner Firma und dem NSU bestanden haben müssen. Immerhin, so hieß es in dem Buch, arbeitete zu jener Zeit ein weiterer Unterstützer des NSU bei Marschner als Vorarbeiter, ein gewisser Max-Florian Burkhardt, gegen den eines der weiteren NSU-Ermittlungsverfahren läuft und dem vorgeworfen wird, für das NSU-Kerntrio Papiere zur Verfügung gestellt zu haben, mit denen unter anderem eine Wohnung angemietet wurde. Neueste Recherchen von Laabs und Aust, mit denen sie im Fernsehen im Anschluss an den TV-Dreiteiler „Mitten in Deutschland: NSU“ (konkret-online „On the Spot“) für Aufruhr sorgten, ergaben, dass möglicherweise gar nicht Burkhardt selbst bei Marschner arbeitete, sondern der Inhaber von dessen manipuliertem Ausweis, nämlich Uwe Mundlos. Bekannt, aber einmal mehr auch unfassbar an dieser neuen Spur ist, dass Ralf Marschner unter dem Decknamen „Primus“ zur fraglichen Zeit auch Spitzel – also V‑Mann – des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) gewesen ist. Daraus sollte folgen, dass der Inlandsgeheimdienst auch von den Morden wusste oder hätten wissen können. In einer Presseerklärung sprechen einige Anwälte der Nebenklage entsprechend von amtlich „betreutem Morden“. In einem fulminanten Beweisantrag vom 12. April 2016 schreiben diese Anwälte: „Der Umstand, dass Polizeibehörden und der Verfassungsschutz über Marschner bzw. durch Marschner selber erlangte, weitere, bisher nicht bekannte Informationen über Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hatten, mit denen eine Festnahme der Drei möglich gewesen wäre, ist ein für die Angehörigen und Opfer des NSU zentrales Thema.“
Ob dieser neue ungeheuerliche Verdacht der Überprüfung standhält, wird sich zeigen: Er fußt einzig und allein auf der Erinnerung eines damaligen Bauleiters, der einerseits den echten Max-Florian Burkhardt auf einem Foto nicht, Uwe Mundlos aber mit völliger Sicherheit als diesen Vorarbeiter Marschners erkannt haben will. Dass die Glaubwürdigkeit des „Verfassungsschutzes“ unter dem neuen Verdacht zu leiden hat und es ihm an den Kragen geht, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Das war schon bei früheren Enthüllungen dieser Dimension nicht der Fall.
Allein dem hartnäckigen Nachbohren von Nebenklageanwälten ist es zu verdanken, dass die Geschichte des Verfassungsschützers Andreas Temme nicht ad acta gelegt werden konnte: BAW und Gericht in München hatten sich strikt geweigert, die etwa 37 Aktenordner aus dem Ermittlungsverfahren gegen Temme beizuziehen, obwohl die Rolle von Staatsdiener Temme, der bei der Ermordung von Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 in dessen Internetcafé anwesend war, bis heute völlig ungeklärt ist. Die BAW gewährte Prozessbeteiligten aus dem Münchener Prozess zwar Einblick in die Akten, jedoch nur, wenn sie dazu nach Karlsruhe zu reisen bereit waren.
Die Nebenklagevertreter der Familie Yozgat, die Kanzlei Bliwier, Dierbach, Kienzle (BDK) aus Hamburg, hatten Mitschnitte aus einer Telefonüberwachung bei Temme, die unterdessen bei der zuständigen Polizei in Kassel lagern, im Frühjahr 2015 ausfindig gemacht und neu transkribieren lassen. Dabei kam Erstaunliches zutage: Als Temme im Laufe der Ermittlungen gegen sich als Beschuldigtem mit dem „Geheimschutzbeauftragten“ seiner Behörde telefonierte, sagte dieser gleich zu Beginn: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert – bitte nicht vorbeifahren!“ Ein Satz, der im Grunde nur so verstanden werden kann, dass der hessische Verfassungsschutz vor dem Tod Yozgats wusste, dass dieser Mord bevorsteht. Den aufschlussreichen Satz hatte eine polizeiliche Erfasserin 2006 übrigens als nicht relevant kurzerhand weggelassen.
Dieselben und weitere Anwälte haben nun erst vor kurzem, Mitte März 2016, im Zusammenhang mit dem V‑Mann Carsten Szczepanski, Deckname Piatto, des Brandenburger Verfassungsschutzes neue Hinweise darauf präsentiert, dass die Zuständigen im Brandenburger Innenministerium alarmierende Hinweise von Spitzel Piatto auf das „Trio“ zwar erhalten und auch das Thüringer LKA darüber informiert hatten, sich dann aber geweigert hätten, entsprechende Maßnahmen der Thüringer zu ermöglichen, weil man eine Gefährdung der Quelle, also des V‑Manns, befürchtete. Piatto hatte schon 1998 den Hinweis gegeben, dass die drei Flüchtigen in Sachsen auf der Suche nach Waffen seien, mit denen sie „weitere“ Überfälle begehen wollten, um sich dann ins Ausland abzusetzen. Diese Mitteilung des Informanten hat jedoch nicht zur Ergreifung der drei sich bewaffnenden Nazis geführt, obwohl den Beamten die Brisanz der Mitteilung Piattos bewusst war. Im Gegenteil: Einer der zuständigen V‑Mann-Führer, also amtlichen Betreuer, Piattos, Reinhard Görlitz, der einen bizarren Auftritt als vermummter Zeuge in München hatte und sich dort so bockig gab, wie man das bis dahin nur von Nazi-Zeugen kannte, soll einem der Beweisanträge zufolge gelogen haben, um die obskuren Umstände dieser Geschichte zu vertuschen. Die Nebenklagevertreter scheuen sich nicht, in ihren Beweisanträgen den staatlichen Stellen eine Mitverantwortung an den Verbrechen des NSU vorzuwerfen. Wie brisant diese amtlichen Unterlassungen waren, mag sich darin spiegeln, dass es noch im Januar 2013 dazu auch ein „Krisentreffen“ gegeben hat. Wo? Beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Mit dabei: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt.
Der Beitrag erschien zuerst auf der Homepage von NSU-Watch: https://www.nsu-watch.info/2016/05/kreatives-aktenhandling/