Kurz nach halb 9 Uhr öffnet sich an diesem letzten Montag im August die große Glastür zum B‑Komplex des Amtsgericht Tiergarten. Sebastian Th. und Tilo P. betreten den Flur und mustern die vor ihnen liegende Eingangstür des Gerichtssaals. Th. war viele Jahre NPD-Vorsitzender in Neukölln, P. bis 2019 im Bezirksvorstand der Neuköllner AfD. Beide sind langjährige Freunde und jetzt Hauptverdächtige im sogenannten Neukölln-Komplex. Über Jahre hinweg gab es in Neukölln Brandanschläge und Angriffe gegen Migrant*innen oder zivilgesellschaftlich Engagierte. In diesem Zusammenhang wurden die beiden dabei ertappt, wie sie Antifaschist*innen ausspähten. Obwohl die beiden von linken Initiativen schon lange als Verdächtige benannt werden, gibt es bislang keine konkreten polizeilichen Ermittlungsergebnisse. Vor Gericht sind sie dieses Mal jedoch nicht wegen der Anschläge. Stattdessen werden ihnen Sprühereien und das Verkleben von Stickern mit positivem Bezug auf den Nazi-Kriegsverbrecher Rudolf Hess vorgeworfen.
Auf dem Flur des Gerichtsgebäudes nimmt Th. seinen Freund P. zur Seite. Er deutet auf die anwesenden Journalist*innen. Nach einem kurzen Gespräch zieht P. seine Kapuze über den Kopf. Anschließend beobachten beide aus sicherer Entfernung die Journalist*innen und Zuschauer*innen. Nach kurzer Zeit holt Th. sein Handy heraus und fotografiert alle Anwesenden. Später beginnt auch P. zu fotografieren. Nachdem die Türen des Verhandlungssaals geöffnet werden, füllt sich dieser innerhalb kürzester Zeit, schon weil wegen der Infektionsschutzmaßnahmen nur 7 Plätze für Zuschauer*innen zur Verfügung stehen. Einige Personen müssen deswegen vor dem Saal bleiben. Schon bei der formellen Abfrage der persönlichen Daten gibt es erste Probleme. Beide Angeklagten verweigern zuerst die Aussagen zu Familienstand und Kindern. Erst durch massiven Druck von Richterin Marieluis Brinkmann und der Staatsanwaltschaft gibt Th. an ledig zu sein und ein Kind zu haben. Tilo P. hält seine Verweigerungshaltung länger aufrecht, antwortet dann aber zögerlich: „ledig“ und „ein Kind“.
Anschließend erfolgt die Verlesung der zwölf Anklagepunkte. Am 19. August 2017 hätten die Beschuldigten u.a. das Konterfei von Rudolf Hess sowie die Worte „Mord an Hess“ an verschiedene Orte in Neukölln gesprüht. Dabei wurden sie von einer Observationseinheit der Polizei beobachtet. Der Observationsbeschluss gegen Sebastian Th. wurde einige Monate zuvor erteilt, da er auch in einer Serie von Autobrandstiftungen verdächtigt wird. Das Entdecken der Sprühereien im Zuge der polizeilichen Observation war an diesem Tag nur ein „Zufallsfund“. Die juristische Verwertung entsprechender Beobachtungen ist schwierig. Erst nach längerem Hin und Her wurden diese Fälle überhaupt erst zur Anklage gebracht, da das Gericht ein besonderes öffentliches Interesse als gegeben sah. Schließlich verletzen die Schmierereien und Aufkleber die Opfer des Nationalsozialismus und verklären den Nazi-Verbrecher Rudolf Hess.
Kurz nach der Verlesung der Anklageschrift meldet sich Th.s Verteidiger Carsten Schrank zu Wort, der sich in der Szene vor allem als Verteidiger von Neonazis einen Namen gemacht hat. Diese Karriere begann er mit der Verteidigung eines der Täter im sogenannten Gubener Hetzjagdverfahren 1999/2000. „Man fasst sich teilweise nur an den Kopf, was man da lesen muss“ sagt er. Er erklärt, dass Hess 1987 in Haft gestorben sei. Über die Umstände des Todes sei wenig bekannt. Der „Mord an Hess“ sei demnach nur eine Meinungsäußerung seines Mandanten, sagt Schrank. Die beiden Angeklagten möchten sich zu all dem nicht äußern.
Anschließend wird auf Wunsch von Schrank zunächst der Observationsbericht verlesen. Aus Sicht des Verteidigers Schrank würde der Bericht zeigen, dass man die Aussagen der Zeug*innen nicht verwenden könne. Er erklärt, die Zeugenaussagen seien nicht durch den Observationsbeschluss abgedeckt — schließlich ginge es bei den Beobachtungen ursprünglich um Brandstiftung und nicht um Graffiti. Der Verteidiger von P., Lars Giesecke, widerspricht der Verwendung der Zeugenaussagen ebenfalls, da sein Mandant nicht Bestandteil der Observation gewesen sei. Dass P. die Schmierereien angefertigt hat, spielt in Gieseckes Verteidigungsstrategie keine Rolle. Auch Schrank setzt noch einmal nach und fragt, ob man denn eine Wand verunstalten könne, die schon voller Schmierereien gewesen sei. Die knappe Antwort des Staatsanwalts: „Darüber können wir uns später rechtlich streiten.“
Erst nach über einer Stunde wird die erste von elf Zeug*innen aufgerufen. Alle von ihnen sind Polizist*innen. Die meisten davon treten im Prozess ohne Namen auf. Die erste Zeugin erzählt, dass sie als Mitarbeiterin einer Ermittlungsgruppe unter PHK Einsiedel im „Neukölln-Komplex“ lediglich Berichte geschrieben habe. An Observationen sei sie selbst nie beteiligt gewesen. Lediglich bei der Durchsuchung von Tilo P.s damaligen Arbeitgeber Remondis sei sie dabei gewesen.
Als nächstes werden zwei „codierte“ Polizisten aus der Observationseinheit in den Zeugenstand gerufen. Der erste erzählt, dass er P. beim Schmierestehen gesehen habe, während Th. für kurze Zeit in einer Einfahrt verschwand. Nachdem dieser wiedergekommen sei, sei er in die Einfahrt gegangen. Dort habe er dann das Hess-Graffito entdeckt und es habe noch nach frischer Sprühfarbe gerochen. An einem weiteren Ort, so der Zeuge, habe er beobachtet, wie die Beschuldigten gemeinsam eine Sprühschablone gehalten hätten. P. habe die Spray-Dose geschüttelt und anschließend das Konterfei von Hess aufgesprüht. Der zweite Polizist gibt an, Th. beim Kleben von Stickern gesehen zu haben: zwei Aufkleber zu Rudolf Hess und anschließend einen der AfD. Tilo P. sei währenddessen neben ihm gelaufen. Einige Nachfragen an die zwei Polizisten bleiben dennoch ungeklärt. Keiner von ihnen hat in dieser Nacht alle zwölf Taten gesehen. Die Frage nach dem „Warum?“ dürften sie aufgrund einer fehlenden Aussagegenehmigung zu den Details des Observationseinsatzes nicht beantworten.
Aufgrund dieser Leerstelle unterbricht Richterin Brinkmann die Verhandlung. Ihrer Ansicht nach sei es schwierig, weitere Fragen an die insgesamt sechs codierten Beamten zu stellen, wenn sie nur beschränkt aussagen können. Nun müsse die zuständige Senatsverwaltung angefragt werden, um die Aussagegenehmigung zu erweitern. Nur so könne man sich ein Bild machen, was an dem Tag insgesamt passiert sei.
Ob und wann diese Genehmigung von der Senatsverwaltung erteilt wird, ist unklar. Deshalb musste die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt werden, um dann wahrscheinlich erneut zu beginnen. Richterin Brinkmann zeigte sich aber zuversichtlich, dass es demnächst zwei neue Verhandlungstage geben könne.
So unerwartet der Ausgang im ersten Moment wirkt, so absehbar ist er eigentlich gewesen. Die Justizbehörden müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sich nicht vor Beginn der Verhandlung um ausreichende Aussagegenehmigungen für die Polizei-Zeug*innen gekümmert wurde. Es sind solche vermeidbaren Fehler, die dazu führen, dass die Betroffenen im “Neukölln-Komplex“ das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden immer weiter verlieren. Der Ausgang der Verhandlung heute fügt sich somit in eine lange Reihe von Pannen und Skandalen ein. So wurde der Linkspartei-Politiker Ferat Kocak nicht durch die Polizei darüber informiert, dass ihn die beiden Angeklagten ausspionierten. Kurze Zeit später folgte ein Brandanschlag, der ihn und seine Familie beinahe das Leben gekostet hätte. Außerdem traf sich ein ermittelnder LKA-Beamter aus der Observationsabteilung mit Sebastian Th. und drei weiteren Neonazis in einer rechtsoffenen Kneipe. Die Hintergründe zu diesem Treffen sind bis heute nicht aufgeklärt. Ein weiterer Polizist, der bis 2016 in der „Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus“ (EG Rex) beim Neuköllner Polizeiabschnitt 48 angestellt war, stand im Januar wegen eines rassistischen Angriffs vor Gericht. Die Sympathien für Neonazis und rechte Einstellung reichen in Neukölln bis in die Berliner Sicherheitsbehörden und das Justizsystem. Erst kürzlich wurden zwei leitende Staatsanwälte von den Ermittlungen zum „Neukölln-Komplex“ wegen dem Verdacht auf Befangenheit abgezogen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das vertagte Verfahren nach der Wiederaufnahme entwickeln wird.