Kommen die 1990er Jahre zurück? Also jene Zeit, in der es täglich Brandanschläge auf Asyl– und Flüchtlingsunterkünfte gab, jene Zeit, in der rassistische Morde aus allen Teilen der Republik, aber besonders aus Ostdeutschland gemeldet wurden? Kommt all das zurück? Wer die Nachrichten über rassistische Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, ehrenamtliche Helfer und Politiker, die sich für Flüchtlinge engagieren verfolgt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Zu signifikant ist der Anstieg solcher Angriffe gegenüber jenen der Jahre 2013 und 2014. Das Selbstbewusstsein, mit dem Neonazis in der Öffentlichkeit auftreten, Rassismus propagieren und Gewalt ausüben, scheint einen neuen Höhepunkt zu erreichen, und derzeit grenzenlos zu sein. Wiederholt sich also die Geschichte als bittere, rassistische Farce?
In der Tat gibt es besorgniserregende Parallelen zur Entwicklung zu Beginn der 1990er Jahre. Kein Tag scheint ohne einen Angriff auf Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte zu vergehen. Damals wie heute ging der Bugwelle rassistischer Gewalt ein reichweitestarker Diskurs voraus: damals die «Das Boot ist voll»-Rhetorik aus Teilen der Politik. Heute die monatelange rassistische Propaganda von PEGIDA. Doch es gibt auch gewichtige Unterschiede: Kaum eine Hand rührte sich damals, um Flüchtlinge konkret bei ihren ersten Schritten im deutschen Alltag zu unterstützen. Die wenigen, die damals den Mut hatten, sich im Osten vor Flüchtlingsheime zu stellen – eine damals eigenwillig wirkende Koalition aus Punks, Antifas, PDS-Politikern und wenigen ehemaligen Bürgerrechtlern und Kirchenleuten – blieben dort ziemlich allein und wurde mit Steinen und Flaschen eingedeckt, wie in Quedlinburg im Sommer 1992. Das scheint heute anders. Zumindest in Städten wie Halle, Leipzig, Magdeburg und Potsdam ankern die Bürgerinitiativen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, breit in der Zivilgesellschaft. Sie sind in der gegenwärtigen Situation, in der manche Politiker die Worte «Flüchtlinge» und «Krise» in einem Atemzug nennen, der eigentliche Lichtblick. Ihr Engagement der konkreten Hilfe kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.
Doch die zurückliegenden Tage zeigen auch, wo die Grenzen ehrenamtlichen Engagements liegen: dort wo Helfer bedroht und angegriffen werden, um anschließend mit dieser Situation alleingelassen zu sein. Dennoch hat die Zivilgesellschaft bisher keine Antwort auf die Zunahme rassistischer Mobilisierungen gefunden. Die Zahl der Flüchtlinge wird weiter steigen und damit der Handlungsdruck der Politik. Ob diese der Versuchung, Vorurteile zu bedienen, dauerhaft widerstehen kann, ist noch nicht ausgemacht. Noch ist die Tonlage gegenüber jener der 1990er Jahre fast harmlos, nimmt aber an Schärfe zu. Jene, die sich für Flüchtlinge und gegen Rassismus engagieren, brauchen einen langen Atem. Sie brauchen Kräfte und Motivationen, die über den Tag hinausreichen. Das wird nicht leicht sein. Denn wenn der Sommer vorbei ist, ist die Zeit der Sommerfeste mit Flüchtlingen abgelaufen. Dann kommen die Mühen des Alltags. Darauf sollte man sich vorbereiten.
Wer eine Wiederholung der rassistischen Mobilisierung der 1990er Jahre verhindern will, muss sich diese Zeit noch einmal ganz genau ansehen und daraus lernen. Lernen, beim Thema Rassismus und Neonazis am Ball zu bleiben, auch wenn Politik und Medien dann mal wieder das Interesse verloren haben sollten. Lernen, unkonventionelle, praktisch wirksame Bündnisse für Flüchtlinge nicht nur mit jenen zu schließen, die politisch ohnehin zu den Aktiven zählen, sondern auch mit jenen, die in Situationen der Bedrohung einfach menschlich handeln. Wer den rassistischen Alptraum der frühen 1990er Jahre abschütteln will, muss eine Debatte führen: über Rassismus statt über «besorgte» Bürger, über Demokratie und Partizipation, über die Quellen der Kraft des Engagements für eine offene und solidarische Gesellschaft.
David Begrich ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Den Beitrag schrieb er als Kommentar für Radio Corax.