Mit dem Beginn der Plädoyers der Nebenklage schlägt im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München noch einmal die Stunde der Wahrheit: Mit brillanten und aufeinander abgestimmten Schlußvorträgen fächerten die Vertreter der Betroffenen des NSU-Terror noch einmal den ganzen Skandal auf, den der „NSU-Komplex“ darstellt und zu dessen Aufarbeitung und Aufklärung der Mammutprozess auch nach 400 Verhandlungstagen und viereinhalb Jahren Laufzeit nicht eben viel beigetragen hat. 95 Betroffene der neonazistischen Verbrechen des NSU haben sich der Anklage des Generalbundesanwalts gegen die fünf Angeklagten angeschlossen und einige wenige von ihnen meldeten sich in der Plädoyerphase auch selbst zu Wort, ein Recht, das sie nur als Nebenkläger im Strafprozess haben. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Enttäuschung gerade bei den Betroffenen ist groß, dass der Prozess es nicht vermocht hat, die Hintergründe der Taten, das bundesweite Neonazi-Netzwerk, das hinter dem NSU stand, und die Verstrickung staatlicher, vor allem geheimdienstlicher Stellen und ihres hochproblematischen „V‑Leute-Systems“, eines dicht um das NSU-Kerntrio gelegten Rings von Spitzeln aus der Szene, aufzuhellen. Im Gegenteil: Von der Bundesanwaltschaft konsequent geleugnet, hat auch das Gericht etwa zur Mitte des Verfahrens die Frage nach NSU-Netzwerk und Geheimdienstverstrickung ad acta gelegt.
„Er hat mich mit seiner Art stark gemacht. Sodass ich heute das durchstehen kann, was ich durchstehe“, sagte Elif Kubaşık in ihrem bewegenden Schlusswort über ihren am 4. April 2006 vom NSU in seinem Kiosk in Dortmund hingerichteten Ehemann Mehmet. Für die Hinterbliebenen ist es wichtig, dass die Angeklagten verurteilt werden, aber viel wichtiger wäre für sie die „lückenlose Aufklärung“ aller Tatumstände, die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Betroffenen beim Staatsakt am 23. Februar 2012 versprochen hatte, die Aufdeckung der „Helfershelfer und Hintermänner“ und dass „alle Täter ihrer gerechten Strafe“ zugeführt würden. Ihre Fragen seien in diesem Prozess aber nicht beantwortet worden, stellte Frau Kubaşık fest: „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund. Und für mich ist es so wichtig: Was wusste der Staat?“
Und der Staat wusste jede Menge, drangsalierte aber über Jahre die Opfer der Verbrechen mit rassistischen Ermittlungen und ist bis heute dabei, die eigenen Tatbeiträge zu vertuschen und die Aufklärung zu behindern. Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem achttägigen Plädoyer zwar hohe Strafen für zumindest drei der fünf Angeklagten, insbesondere eine lebenslange Freiheitsstrafe für Beate Zschäpe bei besonderer Schwere der Schuld und anschließende Sicherungsverwahrung sowie 12 Jahre wegen Beihilfehandlungen für Ralf Wohlleben und André Eminger gefordert und Eminger aus dem Gerichtsaal heraus festnehmen lassen. Im Kern aber war sie bei der Version geblieben, die vor viereinhalb Jahren schon in der Anklageschrift gestanden hatte und als seien im Verlauf des Prozesses nicht erhebliche Zweifel an ihrer These einer Drei-Personen-Zelle mit wenigen handverlesenen Helfern und an der Rolle des Staates und seiner Behörden aufgekommen. Das graugerauchte BAW-Rauhbein Bundesanwalt Herbert Diemer wörtlich: „Es ist einfach nicht richtig, … dass Fehler staatlicher Behörden und das Netzwerk nicht aufgeklärt worden seien: Fehler und Verstrickung staatlicher Behörden hat es nicht gegeben, sonst wären sie verfolgt worden.“
Den Nebenklagevertretern ist es in den zurückliegenden Wochen gelungen, diese sturen und falschen Behauptungen noch einmal in aller Deutlichkeit zu widerlegen und vom „institutionellen Rassismus“ als Generalbass der Ermittlungsbehörden ausgehend, deren Verstrickung und die unheilvolle Rolle des Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienstes herauszuarbeiten. So hielt Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer einen bemerkenswerten Folienvortrag über das Netz von V‑Personen, also Zuträgern des Staates aus der Nazi-Szene, welches das NSU-Kerntrio nachweislich engmaschig umgeben hat: In bizarrem Gegensatz zu Diemers Behauptungen lassen sich mindestens 40 solcher Spitzel in unmittelbarer Nähe von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ausmachen. Und diese Erkenntnisse lassen sich zusammentragen, obwohl das Bundesamt für Verfassungsschutz und eine ganze Reihe der eigenständigen Landesämter redlich bemüht waren, entscheidende Nachweise und Akten systematisch zu vernichten oder Ermittlern, Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und dem Gericht selbst vorzuenthalten. In ihrem fulminanten Plädoyer zeichnete Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens die Entwicklung des NSU und seines Netzwerks im „Untergrund“ nach — der keiner war, die Untergetauchten bewegten sich lange Zeit frei und offen in der Chemnitzer Naziszene — und parallelisierte dieses Wissen mit dem, was „Sicherheitsbehörden“ zu dieser Zeit unternahmen und von den Flüchtigen wussten. Sie kommt zu dem Schluss, „dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebensowenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten“. Trotz diesem Wissen hätten die Behörden nicht eingegriffen, um die Verbrechen zu verhindern, die vor ihren Augen vorbereitet und begangen wurden. Im Gegenteil, mehrere Nebenklageanwälte wiesen darauf hin, dass ohne staatliche Hilfe etwa über den thüringer V‑Mann Tino Brandt, dem für seine Spitzeldienste 200.000 DM und reichlich Spesen und technischer Support zuteil geworden waren, die dortige Naziszene nicht in der Weise hätte gedeihen können, so dass daraus zunächst der „Thüringer Heimatschutz“ (THS) und dann eben der NSU haben entstehen können.
Warum aber lassen staatliche Stellen derartig monströse Strukturen entstehen? Die Frage nach einem Motiv für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeantwortet, so von der Behrens. Die dargestellten Vorgänge zeigten aber deutlich, „dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht“. Die Aufmerksamkeit des Münchener Senats war auch dem Nebenklageanwalt Peer Stolle gewiss, als er stringent den Nachweis erbrachte, dass die Jenaer Nazi-Kameradschaft als „Sektion Jena“ des THS bereits lange vor dem Untertauchen des NSU-Kerntrios eine terroristische Vereinigung gewesen sei und das Abtauchen zur Begehung rassistischer Morde und anderer Gewalttaten sich schon in von etlichen Zeugen geschilderten Gewalt-Diskussionen in diesen „elitären“ Strukturen abgezeichnet habe.
Inwieweit das Gericht, das das Urteil im Tenor sicher schon fertig in der Schublade liegen hat, sich von den massiven und zwingend hergeleiteten Vorwürfen der Nebenklage gegen die rassistisch oder ignorant ermittelnde Polizei, gegen aktiv in Verbrechen involvierten Inlandsgeheimdienste, gegen eine echte Ermittlungen verweigernde Bundesanwaltschaft und gegen eine diese skandalöse Verweigerung und die Vertuschungen abschirmende Politik beeindrucken lässt, bleibt abzuwarten. Da die Bundesanwaltschaft mehrfach ungewohnt engagiert gegen Versuche der Verteidigung interveniert hatte, das Rederecht der Nebenklage einzuschränken, ist absehbar, dass sie die harsche Kritik der Nebenklage an ihrer Rolle als Anklagebehörde am Ende ihrer zu erwartenden Interpretation des Jahrhundertprozesses als triumphale rechtsstaatliche Erfolgsgeschichte ganz im Sinne der repressiven Toleranz schlicht einverleiben wird.
Erschienen in gekürzter Version zuerst in konkret 01/2018