Gestank im freundlichen Land: Die Plädoyers der Nebenklage im NSU-Prozess

Bun­des­an­walt Her­bert Die­mer schützt den Staat vor unan­ge­neh­men Fra­gen Foto: Robert Andreasch

Mit dem Beginn der Plä­doy­ers der Neben­kla­ge schlägt im NSU-Pro­zess vor dem Ober­lan­des­ge­richt (OLG) in Mün­chen noch ein­mal die Stun­de der Wahr­heit: Mit bril­lan­ten und auf­ein­an­der abge­stimm­ten Schluß­vor­trä­gen fächer­ten die Ver­tre­ter der Betrof­fe­nen des NSU-Ter­ror noch ein­mal den gan­zen Skan­dal auf, den der „NSU-Kom­plex“ dar­stellt und zu des­sen Auf­ar­bei­tung und Auf­klä­rung der Mam­mut­pro­zess auch nach 400 Ver­hand­lungs­ta­gen und vier­ein­halb Jah­ren Lauf­zeit nicht eben viel bei­getra­gen hat. 95 Betrof­fe­ne der neo­na­zis­ti­schen Ver­bre­chen des NSU haben sich der Ankla­ge des Gene­ral­bun­des­an­walts gegen die fünf Ange­klag­ten ange­schlos­sen und eini­ge weni­ge von ihnen mel­de­ten sich in der Plä­doy­er­pha­se auch selbst zu Wort, ein Recht, das sie nur als Neben­klä­ger im Straf­pro­zess haben. Das war kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit, denn die Ent­täu­schung gera­de bei den Betrof­fe­nen ist groß, dass der Pro­zess es nicht ver­mocht hat, die Hin­ter­grün­de der Taten, das bun­des­wei­te Neo­na­zi-Netz­werk, das hin­ter dem NSU stand, und die Ver­stri­ckung staat­li­cher, vor allem geheim­dienst­li­cher Stel­len und ihres hoch­pro­ble­ma­ti­schen „V‑Leute-Sys­tems“, eines dicht um das NSU-Kern­trio geleg­ten Rings von Spit­zeln aus der Sze­ne, auf­zu­hel­len. Im Gegen­teil: Von der Bun­des­an­walt­schaft kon­se­quent geleug­net, hat auch das Gericht etwa zur Mit­te des Ver­fah­rens die Fra­ge nach NSU-Netz­werk und Geheim­dienst­ver­stri­ckung ad acta gelegt. 
„Er hat mich mit sei­ner Art stark gemacht. Sodass ich heu­te das durch­ste­hen kann, was ich durch­ste­he“, sag­te Elif Kubaşık in ihrem bewe­gen­den Schluss­wort über ihren am 4. April 2006 vom NSU in sei­nem Kiosk in Dort­mund hin­ge­rich­te­ten Ehe­mann Meh­met. Für die Hin­ter­blie­be­nen ist es wich­tig, dass die Ange­klag­ten ver­ur­teilt wer­den, aber viel wich­ti­ger wäre für sie die „lücken­lo­se Auf­klä­rung“ aller Tat­um­stän­de, die Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel den Betrof­fe­nen beim Staats­akt am 23. Febru­ar 2012 ver­spro­chen hat­te, die Auf­de­ckung der „Hel­fers­hel­fer und Hin­ter­män­ner“ und dass „alle Täter ihrer gerech­ten Stra­fe“ zuge­führt wür­den. Ihre Fra­gen sei­en in die­sem Pro­zess aber nicht beant­wor­tet wor­den, stell­te Frau Kubaşık fest: „War­um Meh­met? War­um ein Mord in Dort­mund? Gab es Hel­fer in Dort­mund? Sehe ich sie heu­te viel­leicht immer noch? Es gibt so vie­le Nazis in Dort­mund. Und für mich ist es so wich­tig: Was wuss­te der Staat?“
Und der Staat wuss­te jede Men­ge, drang­sa­lier­te aber über Jah­re die Opfer der Ver­bre­chen mit ras­sis­ti­schen Ermitt­lun­gen und ist bis heu­te dabei, die eige­nen Tat­bei­trä­ge zu ver­tu­schen und die Auf­klä­rung zu behin­dern. Die Bun­des­an­walt­schaft hat­te in ihrem acht­tä­gi­gen Plä­doy­er zwar hohe Stra­fen für zumin­dest drei der fünf Ange­klag­ten, ins­be­son­de­re eine lebens­lan­ge Frei­heits­stra­fe für Bea­te Zsch­ä­pe bei beson­de­rer Schwe­re der Schuld und anschlie­ßen­de Siche­rungs­ver­wah­rung sowie 12 Jah­re wegen Bei­hil­fe­hand­lun­gen für Ralf Wohl­le­ben und André Emin­ger gefor­dert und Emin­ger aus dem Gericht­saal her­aus fest­neh­men las­sen. Im Kern aber war sie bei der Ver­si­on geblie­ben, die vor vier­ein­halb Jah­ren schon in der Ankla­ge­schrift gestan­den hat­te und als sei­en im Ver­lauf des Pro­zes­ses nicht erheb­li­che Zwei­fel an ihrer The­se einer Drei-Per­so­nen-Zel­le mit weni­gen hand­ver­le­se­nen Hel­fern und an der Rol­le des Staa­tes und sei­ner Behör­den auf­ge­kom­men. Das grau­ge­rauch­te BAW-Rauh­bein Bun­des­an­walt Her­bert Die­mer wört­lich: „Es ist ein­fach nicht rich­tig, … dass Feh­ler staat­li­cher Behör­den und das Netz­werk nicht auf­ge­klärt wor­den sei­en: Feh­ler und Ver­stri­ckung staat­li­cher Behör­den hat es nicht gege­ben, sonst wären sie ver­folgt worden.“
Den Neben­kla­ge­ver­tre­tern ist es in den zurück­lie­gen­den Wochen gelun­gen, die­se stu­ren und fal­schen Behaup­tun­gen noch ein­mal in aller Deut­lich­keit zu wider­le­gen und vom „insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus“ als Gene­ral­bass der Ermitt­lungs­be­hör­den aus­ge­hend, deren Ver­stri­ckung und die unheil­vol­le Rol­le des Ver­fas­sungs­schutz genann­ten Inlands­ge­heim­diens­tes her­aus­zu­ar­bei­ten. So hielt Neben­kla­ge­an­walt Sebas­ti­an Sch­ar­mer einen bemer­kens­wer­ten Foli­en­vor­trag über das Netz von V‑Personen, also Zuträ­gern des Staa­tes aus der Nazi-Sze­ne, wel­ches das NSU-Kern­trio nach­weis­lich eng­ma­schig umge­ben hat: In bizar­rem Gegen­satz zu Die­mers Behaup­tun­gen las­sen sich min­des­tens 40 sol­cher Spit­zel in unmit­tel­ba­rer Nähe von Mund­los, Böhn­hardt und Zsch­ä­pe aus­ma­chen. Und die­se Erkennt­nis­se las­sen sich zusam­men­tra­gen, obwohl das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz und eine gan­ze Rei­he der eigen­stän­di­gen Lan­des­äm­ter red­lich bemüht waren, ent­schei­den­de Nach­wei­se und Akten sys­te­ma­tisch zu ver­nich­ten oder Ermitt­lern, Par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schüs­sen und dem Gericht selbst vor­zu­ent­hal­ten. In ihrem ful­mi­nan­ten Plä­doy­er zeich­ne­te Neben­kla­ge­an­wäl­tin Anto­nia von der Beh­rens die Ent­wick­lung des NSU und sei­nes Netz­werks im „Unter­grund“ nach — der kei­ner war, die Unter­ge­tauch­ten beweg­ten sich lan­ge Zeit frei und offen in der Chem­nit­zer Nazi­sze­ne — und par­al­le­li­sier­te die­ses Wis­sen mit dem, was „Sicher­heits­be­hör­den“ zu die­ser Zeit unter­nah­men und von den Flüch­ti­gen wuss­ten. Sie kommt zu dem Schluss, „dass das Netz­werk des NSU groß und bun­des­weit war und dass von einem abge­schot­tet agie­ren­den Trio eben­so­we­nig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behör­den kei­ne Kennt­nis­se über Ursprung und Exis­tenz des NSU hat­ten“. Trotz die­sem Wis­sen hät­ten die Behör­den nicht ein­ge­grif­fen, um die Ver­bre­chen zu ver­hin­dern, die vor ihren Augen vor­be­rei­tet und began­gen wur­den. Im Gegen­teil, meh­re­re Neben­kla­ge­an­wäl­te wie­sen dar­auf hin, dass ohne staat­li­che Hil­fe etwa über den thü­rin­ger V‑Mann Tino Brandt, dem für sei­ne Spit­zel­diens­te 200.000 DM und reich­lich Spe­sen und tech­ni­scher Sup­port zuteil gewor­den waren, die dor­ti­ge Nazi­sze­ne nicht in der Wei­se hät­te gedei­hen kön­nen, so dass dar­aus zunächst der „Thü­rin­ger Hei­mat­schutz“ (THS) und dann eben der NSU haben ent­ste­hen können.
War­um aber las­sen staat­li­che Stel­len der­ar­tig mons­trö­se Struk­tu­ren ent­ste­hen? Die Fra­ge nach einem Motiv für das Han­deln der Sicher­heits­be­hör­den sei unbe­ant­wor­tet, so von der Beh­rens. Die dar­ge­stell­ten Vor­gän­ge zeig­ten aber deut­lich, „dass nichts für Feh­ler, son­dern alles für geziel­tes Han­deln spricht“. Die Auf­merk­sam­keit des Mün­che­ner Senats war auch dem Neben­kla­ge­an­walt Peer Stol­le gewiss, als er strin­gent den Nach­weis erbrach­te, dass die Jena­er Nazi-Kame­rad­schaft als „Sek­ti­on Jena“ des THS bereits lan­ge vor dem Unter­tau­chen des NSU-Kern­tri­os eine ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gung gewe­sen sei und das Abtau­chen zur Bege­hung ras­sis­ti­scher Mor­de und ande­rer Gewalt­ta­ten sich schon in von etli­chen Zeu­gen geschil­der­ten Gewalt-Dis­kus­sio­nen in die­sen „eli­tä­ren“ Struk­tu­ren abge­zeich­net habe.
Inwie­weit das Gericht, das das Urteil im Tenor sicher schon fer­tig in der Schub­la­de lie­gen hat, sich von den mas­si­ven und zwin­gend her­ge­lei­te­ten Vor­wür­fen der Neben­kla­ge gegen die ras­sis­tisch oder igno­rant ermit­teln­de Poli­zei, gegen aktiv in Ver­bre­chen invol­vier­ten Inlands­ge­heim­diens­te, gegen eine ech­te Ermitt­lun­gen ver­wei­gern­de Bun­des­an­walt­schaft und gegen eine die­se skan­da­lö­se Ver­wei­ge­rung und die Ver­tu­schun­gen abschir­men­de Poli­tik beein­dru­cken lässt, bleibt abzu­war­ten. Da die Bun­des­an­walt­schaft mehr­fach unge­wohnt enga­giert gegen Ver­su­che der Ver­tei­di­gung inter­ve­niert hat­te, das Rede­recht der Neben­kla­ge ein­zu­schrän­ken, ist abseh­bar, dass sie die har­sche Kri­tik der Neben­kla­ge an ihrer Rol­le als Ankla­ge­be­hör­de am Ende ihrer zu erwar­ten­den Inter­pre­ta­ti­on des Jahr­hun­dert­pro­zes­ses als tri­um­pha­le rechts­staat­li­che Erfolgs­ge­schich­te ganz im Sin­ne der repres­si­ven Tole­ranz schlicht ein­ver­lei­ben wird.

Erschie­nen in gekürz­ter Ver­si­on zuerst in kon­kret 01/2018