Die Migration der Roma in der Europäischen Union. Eine ethnische Minderheit als Spielball europäischer Politik

Titelbild von transform! Europäische Zeitschrift für kritisches Denken und politischen Dialog 10/2012
Titel­bild von trans­form! Euro­päi­sche Zeit­schrift für kri­ti­sches Den­ken und poli­ti­schen Dia­log 10/2012

Frank­reich schickt Roma nach Rumä­ni­en zurück, Roma rei­sen «frei­wil­lig» nach Maze­do­ni­en aus, Tsche­chi­sche Roma suchen Asyl in Kana­da – die Schlag­zei­len der letz­ten Jah­re haben wie­der­holt den öffent­li­chen Blick auf die Migra­ti­on der Roma in Euro­pa gelenkt. Die Debat­ten, die dar­aus ent­ste­hen, ori­en­tie­ren sich stark am Rechts­sta­tus der Migran­tIn­nen. So lös­te die Aus­wei­sung rumä­ni­scher und bul­ga­ri­scher Roma aus Frank­reich 2010 eine euro­päi­sche Debat­te zum EU-Recht auf Frei­zü­gig­keit aus. Roma aus Maze­do­ni­en und Ser­bi­en, die seit der Visa­li­be­ra­li­sie­rung 2010 in die EU ein­ge­reist sind, wur­den hin­ge­gen zum Gegen­stand einer Debat­te um «Asyl­miss­brauch». Als Reak­ti­on auf ihre Migra­ti­on wird in Brüs­sel inten­siv über die Über­prü­fung von Per­so­nen anhand eth­ni­scher Zug­hö­rig­keit (Eth­nic Pro­fil­ing) an den Außen­gren­zen der EU und über eine tem­po­rä­re Wie­der­ein­füh­rung der Visa­pflicht für Maze­do­ni­en und Ser­bi­en debat­tiert (ESI 2011).

In Deutsch­land the­ma­ti­siert die Men­schen­rechts­kam­pa­gne «Alle blei­ben» die Lage der Koso­vo-Roma, die in den 1990er Jah­ren in Deutsch­land Zuflucht fan­den, jedoch nie eine unbe­fris­te­te Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung erhiel­ten. Seit der Unter­zeich­nung eines Rück­über­nah­me­ab­kom­mens zwi­schen Deutsch­land und dem Koso­vo 2009 sind sie akut von Abschie­bun­gen bedroht (Kropp/Striethorst 2010). Weni­ger öffent­li­che Auf­merk­sam­keit erhält die Migra­ti­on tsche­chi­scher und unga­ri­scher Roma nach Kana­da. Nach zahl­rei­chen Asyl­ge­su­chen von Roma kam es im Som­mer 2009 zu einer diplo­ma­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Kana­da und der EU, als Kana­da uni­la­te­ral Visa für alle Ein­rei­sen­den aus Tsche­chi­en ein­führ­te (Tóth 2010).

All die­se ver­schie­de­nen Facet­ten der Migra­ti­on der Roma müss­ten eigent­lich par­al­lel betrach­tet wer­den, denn sie haben gemein­sa­me Ursa­chen. Roma über­schrei­ten Gren­zen, um ähn­li­chen Erfah­run­gen von Armut, Dis­kri­mi­nie­rung und offe­ner Roma­feind­lich­keit zu ent­kom­men. Gleich­zei­tig kon­stru­iert die Rhe­to­rik von Regie­run­gen und Medi­en sie als homo­ge­ne Grup­pe; expli­zit gegen Roma gerich­te­te Poli­ti­ken unter­schei­den nicht nach ihrer jewei­li­gen Natio­na­li­tät. Die übli­che Abgren­zung nach Her­kunft und Rechts­sta­tus ver­stellt leicht den Blick auf die­se unfrei­wil­li­gen Gemein­sam­kei­ten. Obschon die­ser Bei­trag sich auf die Migra­ti­on der Roma inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on beschränkt, soll­te des­halb die Roma-Migra­ti­on aus den Nach­bar­län­dern der EU in der Debat­te um poli­ti­sche Lösungs­an­sät­ze bewusst mit­ge­dacht werden.

Infol­ge ihrer Migra­ti­on ist die Lage der Roma inzwi­schen eine The­ma­tik für die meis­ten Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on gewor­den. Dabei steht das Han­deln der ein­zel­nen Regie­run­gen in deut­li­chem Wider­spruch zu den selbst pro­kla­mier­ten Wer­ten der Uni­on wie Frei­heit, Gleich­heit und Wah­rung der Men­schen­rech­te. In den Ursprungs­län­dern der Migra­ti­on wer­den Roma aus­ge­grenzt, ange­fein­det, leben in extre­mer Armut und dau­er­haf­ter Segre­ga­ti­on. Den Ziel­län­dern fehlt der poli­ti­sche Wil­le, die Rech­te der Migran­tIn­nen zu schüt­zen und sie in ihre Gesell­schaf­ten zu inte­grie­ren. Die Fra­ge, wie sich die EU zur Roma-Poli­tik ihrer Mit­glieds­staa­ten ver­hält, wird somit zum Lack­mus-Test eines euro­päi­schen «Raums der Sicher­heit, der Frei­heit und des Rechts».

Die­ser Bei­trag geht der Fra­ge nach, was den Anstieg der Migra­ti­on der Roma inner­halb der EU aus­ge­löst hat und in wel­chem poli­ti­schen und recht­li­chen Span­nungs­feld sie sich heu­te gestal­tet. In der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Poli­tik der west­eu­ro­päi­schen Ziel­län­der soll ins­be­son­de­re die fran­zö­si­sche Affai­re des Roms genau­er unter­sucht wer­den. Der Fokus des Bei­trags liegt auf der Roma-Poli­tik der Euro­päi­schen Uni­on: Wel­che Zie­le ver­folgt die EU hin­sicht­lich der Migra­ti­on der Roma? Was müss­te sie tun, um die uni­ons­bür­ger­schaft­li­chen Rech­te der Roma gegen­über den Mit­glieds­staa­ten durchzusetzen?

Hin­ter­grün­de der Roma-Migration

Ange­sichts des euro­päi­schen Rechts auf Frei­zü­gig­keit kann zunächst infra­ge gestellt wer­den, ob nicht der posi­ti­ver besetz­te Begriff Mobi­li­tät ange­mes­sen für die Migra­ti­on der Roma inner­halb der EU ist. Sind Roma nicht ein­fach eini­ge der vie­len Mil­lio­nen Euro­päe­rIn­nen, die auf der Suche nach Arbeit vor­über­ge­hend in ein ande­res Land der EU zie­hen? Jedoch üben vie­le Roma ihr Recht auf Frei­zü­gig­keit «im Kon­text gewich­ti­ger Aus- und Ein­wan­de­rungs­grün­de» (FRA 2009, S. 21) aus: In nicht weni­gen Fäl­len machen sich gan­ze Fami­li­en auf den Weg; als Moti­va­ti­on reicht manch­mal schon die vage Hoff­nung, 40 oder 50 Euro im Monat nach Hau­se schi­cken zu kön­nen (Eben­da, S. 31). Des­halb soll an die­ser Stel­le bewusst von Migra­ti­on gespro­chen wer­den, denn der Begriff Mobi­li­tät unter­stellt eine Wahl­frei­heit, die die meis­ten Roma ange­sichts feh­len­der Per­spek­ti­ven kaum haben.

Die heu­te etwa zehn Mil­lio­nen Roma in der EU leben mehr­heit­lich in den mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Län­dern, in Bul­ga­ri­en, Rumä­ni­en, der Slo­wa­kei und Ungarn. Auch in Spa­ni­en und Frank­reich stel­len Roma tra­di­tio­nell einen ver­gleichs­wei­se gro­ßen Anteil der Bevöl­ke­rung. Zusam­men mit Ita­li­en sind die­se Län­der Haupt­ziel der mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Migran­tIn­nen, denn sie hof­fen auf kul­tu­rel­le und sprach­li­che Nähe und auf die Unter­stüt­zung ansäs­si­ger oder zuvor aus­ge­wan­der­ter Roma. Die Migra­ti­on nach Groß­bri­tan­ni­en hat dort über­haupt erst eine signi­fi­kan­te Roma-Bevöl­ke­rung ent­ste­hen las­sen. Eini­ge Län­der in Mit­tel­eu­ro­pa sind gleich­zei­tig Aus- und Ein­wan­de­rungs­län­der für Roma.[acp foot­no­te] Exak­te Daten dar­über, wie vie­le Roma der­zeit von ihrem Recht auf Frei­zü­gig­keit inner­halb der EU Gebrauch machen, lie­gen bis­her aller­dings nicht vor. Für Schät­zun­gen zur Prä­senz von Roma-Migran­tIn­nen in aus­ge­wähl­ten Groß­städ­ten vgl. Euro­ci­ties 2011. Zur sen­si­blen Fra­ge der Daten­er­fas­sung nach eth­ni­schen Kri­te­ri­en aus­führ­lich ERIO 2009.[/acp]

Die Ursprün­ge der Migra­ti­on der Roma rei­chen in die 1990er Jah­re zurück. Nach dem Zusam­men­bruch des Staats­o­zia­lis­mus ver­lo­ren vie­le der meist gering qua­li­fi­zier­ten Roma Arbeit und Aus­kom­men in tra­di­tio­nel­len Nischen. Sie stürz­ten in extre­me Armut ab und wur­den zu den «größ­ten Ver­lie­rern der Trans­for­ma­ti­on» zum Kapi­ta­lis­mus (Soros/Wolfensohn, zitiert nach Sigo­na, Nidhi 2009, S. 3). Ent­sprach die Arbeits­lo­sig­keit männ­li­cher Roma in Ungarn im Jahr 1985 etwa der der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung, so liegt sie heu­te bei min­des­tens 70 Pro­zent. Par­al­lel zur Ver­ar­mung der Roma führ­ten gesell­schaft­li­che Ver­tei­lungs­kämp­fe und eine Neu­de­fi­ni­ti­on von Staat und Nati­on zu einem Auf­flam­men roma­feind­li­cher Res­sen­ti­ments in den Län­dern Mit­tel- und Ost­eu­ro­pas (Sigo­na 2011, S. 3). In der Fol­ge ist es in den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­zehn­ten immer wie­der zu Brand­an­schlä­gen und ande­ren Gewalt­ta­ten gegen Roma gekommen.[acp footnote]Insbesondere in Ungarn hat es in der Ver­gan­gen­heit stets ein hohes Niveau roma­feind­li­cher Gewalt­ta­ten gege­ben, und in den letz­ten Jah­ren ist ein wei­te­rer Anstieg der Gewalt zu ver­zeich­nen. Zuletzt star­ben 2008 und 2009 acht Men­schen bei einer Mord­se­rie. Auch in Tsche­chi­en fin­den immer wie­der Über­grif­fe auf Sied­lun­gen der Roma statt. Im Sep­tem­ber 2011 kam es zu «Auf­mär­schen» vor Roma-Unter­künf­ten, die von der Poli­zei müh­sam im Zaum gehal­ten wur­den. Zur anstei­gen­den Gewalt gegen Roma aus­führ­lich Amnes­ty Inter­na­tio­nal: Report Ungarn 2010; Amnes­ty Inter­na­tio­nal: Report Tsche­chi­en 2010; ENAR 2010.[/acp]

Die­se Bedro­hun­gen und die wirt­schaft­li­che Per­spek­tiv­lo­sig­keit lie­ßen Roma schon in den 1990er Jah­ren in west­eu­ro­päi­sche EU-Län­der und nach Kana­da aus­wan­dern. Dazu wur­den Asyl­an­trä­ge gestellt, die in der Regel mit der Angst vor ras­sis­tisch moti­vier­ter Gewalt begrün­det wur­den. Die Medi­en berich­te­ten erst­mals über die The­ma­tik, als 1997 tau­sen­de tsche­chi­sche Roma nach Kana­da reis­ten und dort Asyl bean­trag­ten. Im Jahr 2001 erhiel­ten meh­re­re Roma-Fami­li­en aus dem unga­ri­schen Dorf Zámo­ly Asyl in Frank­reich. Die Auf­fas­sung der EU und ihrer Mit­glieds­staa­ten, dass die Migra­ti­on der Roma vor allem wirt­schaft­li­che Ursa­chen hat­te, recht­fer­tig­te in jenen Jah­ren eine weit­ge­hend restrik­ti­ve Auf­nah­me­po­li­tik. Zu den Maß­nah­men der EU-Mit­glieds­staa­ten zur Redu­zie­rung der Asyl­an­trä­ge gehör­ten unter ande­rem rechts­wid­ri­ge «Pre-Scree­nings» am Flug­ha­fen Prag, mit denen im Auf­trag Groß­bri­tan­ni­ens poten­ti­el­le Asyl­be­wer­be­rIn­nen iden­ti­fi­ziert und abge­wie­sen wur­den (Gugliel­mo, Waters 2005, S. 773).

Die Furcht der EU-Mit­glieds­staa­ten vor einem Anstieg der Migra­ti­on wur­de gleich­zei­tig zu einem ent­schei­den­den Fak­tor in den Ver­hand­lun­gen zur EU-Ost­erwei­te­rung 2004. Dabei erschien es oppor­tun, die wirt­schaft­li­che und recht­li­che Posi­ti­on der Roma in den Bei­tritts­län­dern zu stär­ken. Wäh­rend der Bei­tritts­ver­hand­lun­gen sahen auch Roma-Orga­ni­sa­tio­nen eine Chan­ce, Min­der­hei­ten­rech­te auf die poli­ti­sche Agen­da zu set­zen – nicht nur in den Bei­tritts­län­dern, son­dern auch in der EU selbst. Ihre gemein­sa­me Erklä­rung aus dem Jahr 2003 pran­ger­te die Dis­kri­mi­nie­rung der Roma an und for­der­te ins­be­son­de­re Maß­nah­men zur sozia­len Inte­gra­ti­on und zur poli­ti­schen Par­ti­zi­pa­ti­on (Eben­da, S. 775).

Es ist umstrit­ten, inwie­weit die ver­stärk­te Auf­merk­sam­keit wäh­rend der Bei­tritts­ver­hand­lun­gen tat­säch­lich zu einer Ver­bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se der Roma geführt hat. In jedem Fall ver­än­der­te sich mit der EU-Erwei­te­rung schlag­ar­tig ihr Sta­tus: «Mit dem Bei­tritt ließ eine Uni­on, deren Mit­glie­der zuvor mas­si­ve Anstren­gun­gen zur Begren­zung der Roma-Migra­ti­on unter­nom­men hat­ten, an einem ein­zi­gen Tag über eine Mil­li­on Roma zu – Men­schen, die damit zugleich Bür­ge­rIn­nen der Uni­on und Mit­glie­der ihrer größ­ten Min­der­heit wur­den.» (Eben­da, S. 777)

Seit­her besit­zen Roma wie alle ande­ren EU-Bür­ge­rIn­nen die Uni­ons­bür­ger­schaft nach Art. 20 AEUV. Zu den Rech­ten, die ihnen aus der Uni­ons­bür­ger­schaft ent­ste­hen, gehö­ren ins­be­son­de­re das Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot gemäß Art. 18 AEUV, und das Recht auf Frei­zü­gig­keit gemäß Art. 21 AEUV und Art. 45 der Char­ta der Grund­rech­te. Dem­nach haben EU-Bür­ge­rIn­nen und ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen das Recht, sich im Hoheits­ge­biet der EU frei zu bewe­gen und auf­zu­hal­ten. Im Jahr 2004 gaben die Euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen die­sem Recht mit der Ver­ab­schie­dung der so genann­ten Frei­zü­gig­keits-Richt­li­nie 2004/38/EG eine kon­kre­te Ausformung.

Abwehr statt Inte­gra­ti­on – die Poli­tik der Zielländer

Die Erfah­run­gen, die Roma im Zuge der inner­eu­ro­päi­schen Migra­ti­on machen, unter­schei­den sich stark von­ein­an­der. So erfah­ren man­che eine erheb­li­che Ver­bes­se­rung ihrer wirt­schaft­li­chen Situa­ti­on, und ihnen schlägt im All­tag weni­ger Ras­sis­mus als in ihren Ursprungs­län­dern ent­ge­gen. Ins­be­son­de­re der Zugang zum Arbeits­markt ist wesent­lich für eine posi­ti­ve Migra­ti­ons­er­fah­rung: Wenn sich Roma eine Beschäf­ti­gung im for­mel­len Sek­tor sichern kön­nen, fällt ihnen der Zugang zu ande­ren Diens­ten wie z. B. dem Woh­nungs­we­sen leich­ter (FRA 2009, S. 7). Ande­re müs­sen nach ihrer Ankunft fest­stel­len, dass ihre Erwar­tun­gen zu opti­mis­tisch waren. Sie fin­den kei­ne Arbeit, haben Pro­ble­me, sich im Behör­den­dschun­gel zu ori­en­tie­ren, und in nicht weni­gen Fäl­len stellt sich ihre Lage am Ende noch aus­weg­lo­ser dar als die, wegen der sie ihr Land ver­las­sen haben (Eben­da, S. 41 ff).

In vie­len Mit­glieds­staa­ten ver­hin­dern hohe büro­kra­ti­sche Hür­den bei der Anmel­dung des Wohn­sit­zes den Zugang zu Sozi­al­leis­tun­gen, Schul­be­such und öffent­li­chen Diens­ten. Es kommt zu einem Domi­no­ef­fekt zu Unguns­ten der Betrof­fe­nen, die in der Aus­übung grund­le­gen­der poli­ti­scher, wirt­schaft­li­cher und sozia­ler Rech­te behin­dert wer­den (Eben­da, S. 8 ff). Vie­ler­orts kommt es zu einer fal­schen Anwen­dung der Frei­zü­gig­keits­richt­li­nie durch die natio­na­len Behör­den, da es ihnen an Wis­sen, geeig­ne­ten Ver­fah­ren und Erfah­run­gen im Umgang mit aus­län­di­schen Min­der­hei­ten­an­ge­hö­ri­gen fehlt.[acp footnote]Zu Erfah­run­gen und Lösungs­an­sät­zen der Behör­den in aus­ge­wähl­ten Groß­städ­ten vgl. Euro­ci­ties 2011. Eine Her­aus­for­de­rung für vie­le Behör­den ist ins­be­son­de­re die Dis­kre­panz zwi­schen dem Rechts­sta­tus der Uni­ons­bür­ger­schaft und der extre­men Armut der Roma; dies zeigt das Bei­spiel der Stadt Ber­lin: Als im Som­mer 2009 meh­re­re rumä­ni­sche Groß­fa­mi­li­en in einem Ber­li­ner Park ihre Zel­te auf­schlu­gen, wur­den die­se wochen­lang zwi­schen ver­schie­de­nen Ämtern hin und her gescho­ben und erhiel­ten schließ­lich ein Hand­geld für ihre «frei­wil­li­ge» Aus­rei­se nach Rumä­ni­en. Als Nicht-Deut­sche hat­ten sie kei­nen Anspruch auf sozia­le Unter­stüt­zung; und als EU-Bür­ge­rIn­nen konn­ten sie kein Asyl in Deutsch­land bean­tra­gen und auf die­se Wei­se Unter­stüt­zung erhalten.[/acp] Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und Schu­lun­gen fin­den aber bis­her fast aus­schließ­lich auf zivil­ge­sell­schaft­li­cher Ebe­ne statt (z. B. Euro­pean Dia­lo­gue 2009).

Das Behör­den­han­deln ist immer auch von poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen abhän­gig, und die­se fal­len oft zu Unguns­ten der Roma aus. Den natio­na­len und loka­len Ent­schei­dungs­trä­gern ist gemein, dass sie die Migra­ti­on der Roma bis­her nicht als selbst­ver­ständ­li­che Erschei­nung eines ver­ein­ten Euro­pas, son­dern als Pro­blem oder sogar Bedro­hung wahr­neh­men. Ein im Auf­trag von OSZE und Euro­pa­rat erstell­ter Bericht beschreibt die rechts­wid­ri­ge Über­wa­chung der Migran­tIn­nen und die damit ein­her­ge­hen­de Ver­let­zung ihrer Pri­vat­sphä­re, den feh­len­den Schutz der per­sön­li­chen Sicher­heit der Roma und Eth­nic Pro­fil­ing durch die Polizei[acp footnote]Der Bericht nennt eine Rei­he an Emp­feh­lun­gen zur Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on der Roma. Für die Mit­glieds­staa­ten wer­den Schu­lun­gen zur Umset­zung des Euro­pa­rechts und die effek­ti­ve Imple­men­tie­rung der euro­päi­schen Anti­dis­kri­mi­nie­rung-Vor­schrif­ten gefor­dert. Die Euro­päi­sche Uni­on wird ange­wie­sen, eine Roma-Abtei­lung in der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on ein­zu­rich­ten, ihr Moni­to­ring zur Situa­ti­on der Roma aus­zu­wei­ten und euro­päi­sche Poli­ti­ken dahin­ge­hend zu über­prü­fen, inwie­weit sie Migran­tIn­nen beim Abschluss von Kran­ken­ver­si­che­run­gen unter­stüt­zen (Cahn/Guild 2010, S. 83 f).[/acp] (Cahn, Guild 2010, S. 6 f).

Mit den Maß­nah­men gegen Roma geht eine mas­siv popu­lis­ti­sche Rhe­to­rik der poli­ti­schen Akteu­re ein­her. Damit reagie­ren die­se einer­seits auf die Hor­ror­sze­na­ri­en der Medi­en, ande­rer­seits trei­ben sie den ras­sis­ti­schen Dis­kurs selbst vor­an. Die Migra­ti­on der Roma wird sys­te­ma­tisch kri­mi­na­li­siert, indem Ver­bin­dun­gen zu Men­schen­han­del und Ban­den­kri­mi­na­li­tät gezo­gen wer­den. Kri­mi­na­li­täts­be­kämp­fung hat den euro­päi­schen Regie­run­gen in den letz­ten Jah­ren mehr­fach als Vor­wand gedient: Sie hielt sowohl dafür her, die Sied­lun­gen der Roma als ver­meint­li­che «Kri­mi­na­li­täts­her­de» zu zer­stö­ren (FRA 2009, Amnes­ty Inter­na­tio­nal 2010) als auch EU-Bür­ge­rIn­nen auf Grund­la­ge ihrer eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit aus­zu­wäh­len und aus­zu­wei­sen. Fast ohne Medi­en­echo haben in den letz­ten Jah­ren kol­lek­ti­ve Aus­wei­sun­gen von Roma in Däne­mark, Schwe­den, Bel­gi­en und Ita­li­en stattgefunden.

In eini­gen Ziel­län­dern – allen vor­an Ita­li­en – besteht die bedenk­li­che Ten­denz, eine all­ge­mei­ne «Ant­wort auf die Roma-Fra­ge» zu ent­wi­ckeln. Eige­ne Staats­bür­ge­rIn­nen mit Roma-Hin­ter­grund und aus­län­di­sche Roma wer­den zusam­men­ge­fasst und in Ghet­tos weit außer­halb der Städ­te gedrängt. Auf die­se Wei­se wer­den pass­ge­naue Inte­gra­ti­ons­stra­te­gien für Roma aus ande­ren Mit­glieds­staa­ten ver­hin­dert (FRA 2009, S. 9). Im Jah­re 2008 gab es einen öffent­li­chen Auf­schrei, als die ita­lie­ni­sche Regie­rung eine bio­me­tri­sche Daten­bank ein­führ­te, in der die Fin­ger­ab­drü­cke aller in Ita­li­en leben­den Roma regis­triert wur­den (ERRC u. a. 2008, Amnes­ty Inter­na­tio­nal 2008). Die ita­lie­ni­sche Roma-Poli­tik und zahl­rei­che ras­sis­ti­sche Gewalt­ta­ten gegen Roma in Ita­li­en und ande­ren west­li­chen EU-Staa­ten lenk­ten schlag­ar­tig die Auf­merk­sam­keit auf die gesamt­eu­ro­päi­sche Dimen­si­on der Lage der Roma: «Die Fol­gen sowohl der EU-Erwei­te­rung als auch der Aus­gren­zung der Roma stell­ten gemein­sam nicht nur eine Bedro­hung für die Bezie­hun­gen zwi­schen zwei Mit­glieds­staa­ten dar, son­dern auch für das Grund­recht der Frei­zü­gig­keit inner­halb der EU. […] Die beun­ru­hi­gen­den Ereig­nis­se beton­ten die oft über­se­he­ne Tat­sa­che, dass sys­te­mi­sche Dis­kri­mi­nie­rung und spo­ra­di­sche Gewalt in West­eu­ro­pa ver­brei­tet sind und sich nicht auf die ehe­mals kom­mu­nis­ti­schen Staa­ten beschrän­ken.» (Guy 2009, S. 25)

Die fran­zö­si­sche Affai­re des Roms als Test­fall für die euro­päi­sche Freizügigkeit

Im Som­mer 2010 wies die fran­zö­si­sche Regie­rung unter Ver­wen­dung mas­si­ver het­ze­ri­scher Rhe­to­rik knapp 1.000 Roma aus Frank­reich aus.[acp footnote]Frankreich nimmt wie ande­re euro­päi­sche Län­der schon seit 2007 «huma­ni­tä­re» Aus­wei­sun­gen vor, oft mit einer finan­zi­el­len Ver­gel­tung von 300 Euro pro Per­son und 100 Euro für Min­der­jäh­ri­ge. Anschlie­ßend wer­den die bio­me­tri­schen Daten der Aus­ge­wie­se­nen in der Daten­bank OSCAR erfasst, um einen «Miss­brauch» der finan­zi­el­len Ver­gel­tung zu ver­hin­dern (Carrera/Faure Atger 2010, S. 5). Die Zah­len gehen in die Tau­sen­de; allein in der ers­ten Jah­res­hälf­te 2010 wur­den über 8000 rumä­ni­sche und bul­ga­ri­sche Roma aus Frank­reich aus­ge­wie­sen. Den­noch erfolg­te der öffent­li­che Pro­test erst, als Nico­las Sar­ko­zy die Mas­sen­aus­wei­sun­gen als Teil sei­nes popu­lis­ti­schen «Krie­ges gegen Kri­mi­nel­le» inszenierte.[/acp] Par­al­lel ließ sie allein im August 2010 mehr als vier­zig «nicht-geneh­mig­te» Roma-Sied­lun­gen räu­men. Zahl­rei­che Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen pro­tes­tier­ten gegen die Maß­nah­men und wie­sen dar­auf hin, dass Frank­reich viel­mehr ver­pflich­tet wäre, mehr Hal­te­plät­ze für fah­ren­de Roma zur Ver­fü­gung zu stel­len und das Recht auf ange­mes­se­nen Wohn­raum zu garan­tie­ren (Kropp 2010).

Das Vor­ge­hen der fran­zö­si­schen Behör­den ver­stieß zugleich gegen meh­re­re euro­päi­sche Rechts­nor­men, allen vor­an gegen die euro­päi­sche Frei­zü­gig­keit: Die Begren­zung der Frei­zü­gig­keit von Uni­ons­bür­ge­rIn­nen ist auf Grün­de der öffent­li­chen Ord­nung, Sicher­heit oder Gesund­heit beschränkt; das Nicht-Vor­han­den­sein finan­zi­el­ler Mit­tel ist kein hin­rei­chen­der Grund für eine Aus­wei­sung. Des Wei­te­ren hät­te die fran­zö­si­sche Regie­rung den Grund­satz der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit wah­ren und eine Ein­zel­fall­prü­fung vor­neh­men müs­sen. Sowohl nach Art. 27 der Frei­zü­gig­keits-Richt­li­nie als auch nach Art. 19 der Char­ta der Grund­rech­te sind Kol­lek­tiv­ab­schie­bun­gen unzu­läs­sig – aus­schlag­ge­bend darf aus­schließ­lich das per­sön­li­che Ver­hal­ten der Betrof­fe­nen sein.

Eine Beson­der­heit lag dar­in, dass die fran­zö­si­sche Regie­rung ent­ge­gen ihrer Beteue­rung expli­zit die Roma ins Visier nahm und sie damit auf Grund­la­ge ihrer eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit für die Aus­wei­sung aus­wähl­te. So wur­de nach­träg­lich ein Rund­schrei­ben vom 5. August 2010 bekannt, wonach die fran­zö­si­schen Behör­den die Abschie­be­maß­nah­men auf die Grup­pe der Roma kon­zen­trie­ren sol­len. Damit ver­stieß Frank­reich über­dies gegen euro­päi­sche Rechts­in­stru­men­te, die Dis­kri­mi­nie­rung aus Grün­den der Ras­se und der eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit ver­bie­ten (Car­rera, Fau­re Atger 2010, S. 5).

Die Reak­ti­on des Euro­päi­schen Par­la­ments fiel reso­lut aus: In sei­ner Ent­schlie­ßung vom 9. Sep­tem­ber 2010 beton­te das Euro­päi­sche Par­la­ment, dass kol­lek­ti­ve Aus­wei­sun­gen durch die Char­ta der Grund­rech­te und die Euro­päi­sche Kon­ven­ti­on zum Schutz der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten unter­sagt sind. Sie brand­mark­ten die Maß­nah­men als Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­stoß gegen die Frei­zü­gig­keits-Richt­li­nie und sahen die Euro­päi­schen Ver­trä­ge ver­letzt (Euro­päi­sches Par­la­ment 2010). Der fran­zö­si­sche Minis­ter für Inte­gra­ti­on, Eric Bes­son, reagier­te dar­auf ledig­lich mit der Ver­laut­ba­rung: «Frank­reich wird wei­ter­hin EU-Bür­ge­rIn­nen, die sich irre­gu­lär auf fran­zö­si­schem Boden auf­hal­ten, zurück­schi­cken» (zit. nach Carrera/Faure Atger 2010, S. 1).

Die euro­päi­sche Jus­tiz­kom­mis­sa­rin Vivia­ne Reding äußer­te sich zunächst dahin­ge­hend, dass die fran­zö­si­sche Regie­rung ihr ver­si­chert habe, dass die Prak­ti­ken mit EU-Recht über­ein stimm­ten und nicht expli­zit gegen die Roma ziel­ten. Die Posi­ti­on der Kom­mis­si­on blieb bis Mit­te Sep­tem­ber ambi­va­lent; dann jedoch kün­dig­te Reding an, sie wer­de ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren wegen dis­kri­mi­nie­ren­der Anwen­dung der Frei­zü­gig­keits­richt­li­nie gegen Frank­reich einleiten.[acp footnote]In den ent­spre­chen­den Pres­se­kon­fe­ren­zen brach­te Reding ihre Ver­är­ge­rung über die irre­füh­ren­den Anga­ben der fran­zö­si­schen Regie­rung zum Aus­druck und zog hin­sicht­lich der Aus­wei­sun­gen Par­al­le­len zum Zwei­ten Welt­krieg: « per­so­nal­ly have been appal­led by a situa­ti­on which gave the impres­si­on that peo­p­le are being remo­ved from a mem­ber sta­te of the Euro­pean Uni­on just becau­se they belong to a cer­tain eth­nic mino­ri­ty. This is a situa­ti­on I had thought Euro­pe would not have to wit­ness again after the Second World War.» (zit. Nach Carrera/Faure Atger 2010, S. 11) Auch wäh­rend des Tref­fens der Staats- und Regie­rungs­chefs am 16. Sep­tem­ber 2010 gab es deut­li­che Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten in der Fra­ge der Frei­zü­gig­keit der Roma. Das fran­zö­si­sche Vor­ge­hen wur­de aber letzt­lich nicht for­mal verurteilt.[/acp] Aus­schlag­ge­bend war dafür das Rund­schrei­ben vom 5. August. In der Fol­ge wur­de das Rund­schrei­ben durch die fran­zö­si­schen Behör­den geän­dert und der expli­zi­te Bezug zur Grup­pe der Roma ent­fernt. Die Kom­mis­si­on lei­te­te letzt­lich kein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Frank­reich ein (Eben­da 2010, S. 12).

Ein Jahr spä­ter nann­te Reding die Affai­re des Roms einen «Weck­ruf für Euro­pa» und beton­te, die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on wer­de «nicht zögern ihre Stim­me zu erhe­ben, wenn Mit­glieds­staa­ten… Garan­tien, die die EU-Bür­ger vor will­kür­li­cher und unver­hält­nis­mä­ßi­ger Aus­wei­sung schüt­zen sol­len, nicht ord­nungs­ge­mäß anwen­den» (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2011b, S. 2). Die Pra­xis, Roma-Sied­lun­gen zu räu­men und aus­län­di­sche Roma aus­zu­wei­sen, hält der­weil in Frank­reich und Ita­li­en wei­ter an.

Das Vor­ge­hen der fran­zö­si­schen Behör­den gegen Roma, die ledig­lich ihr Recht auf Frei­zü­gig­keit wahr­nah­men, zeigt, wie ver­letz­bar die größ­te eth­ni­sche Min­der­heit in der EU ist. Es zeigt auch, wie viel auf Sei­ten der Mit­glieds­staa­ten zu tun bleibt, um das Recht der inner­eu­ro­päi­schen Migra­ti­on für Roma Rea­li­tät wer­den zu las­sen. Die nicht ord­nungs­ge­mä­ße Anwen­dung der Frei­zü­gig­keits-Richt­li­nie durch natio­na­le Behör­den führt regel­mä­ßig zur Aberken­nung von Rech­ten und Ansprü­chen, vor allem bei Sozi­al­leis­tun­gen, beim Zugang zum Arbeits­markt und bei der Anmel­dung des Wohn­sit­zes. Die Euro­päi­sche Uni­on muss gegen­über den Mit­glieds­staa­ten durch­set­zen, dass alle Maß­nah­men, die sich direkt oder indi­rekt auf Uni­ons­bür­ge­rIn­nen mit Roma-Hin­ter­grund aus­wir­ken, den in der Grund­rech­te­char­ta fest­ge­leg­ten Grund­sät­zen und der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­richt­li­nie entsprechen.

In der Affai­re des Roms demons­trier­te die fran­zö­si­sche Regie­rung, dass sie die Berech­ti­gung der Euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen, die Umset­zung von EU-Gesetz­ge­bung zu über­wa­chen, in Zwei­fel zieht. Es bleibt unver­ständ­lich, war­um die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on als «Hüte­rin der Ver­trä­ge» kein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Frank­reich ein­lei­te­te. Auch wenn ein Ver­fah­ren die bereits durch­ge­führ­ten Aus­wei­sun­gen nicht unge­sche­hen gemacht hät­te, so wäre doch die­ses Vor­ge­hen been­det und ein kla­res Signal an Frank­reich und ande­re Mit­glieds­staa­ten gesandt worden.

Um zukünf­tig die Posi­ti­on der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on gegen­über den Mit­glieds­staa­ten zu stär­ken, soll­te über die Ein­rich­tung eines prä­ven­ti­ven Durch­set­zungs­me­cha­nis­mus für das Euro­pa­recht nach­ge­dacht wer­den. Anders als beim bis­he­ri­gen Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren wür­de auf die­se Wei­se ein sofor­ti­ges «Ein­frie­ren» von Prak­ti­ken, die euro­pa­recht­li­che Grund­sät­ze ver­let­zen, ermöglicht[acp footnote]Die Rele­vanz für einen sol­chen Mecha­nis­mus zeigt sich in der anhal­ten­den Nicht-Umset­zung der Frei­zü­gig­keits-Richt­li­nie in vie­len ande­ren euro­päi­schen Län­dern. Nach Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren im Früh­jahr 2011 pass­ten meh­re­rer Mit­glieds­staa­ten ihre Vor­schrif­ten an euro­päi­sches Recht an, doch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on muss wei­ter­hin Män­gel in drei Berei­chen fest­stel­len: «Ein­rei­se und Auf­ent­halt von Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen, ein­schließ­lich Lebens­part­nern, Aus­stel­lung von Visa und Auf­ent­halts­kar­ten für Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge aus Dritt­staa­ten und Garan­tien gegen Aus­wei­sung.» (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2011b, S. 3; aus­führ­lich Carrera/Faure Atger 2009)[/acp] (Carrera/Faure Atger 2010, S. 17).

Die Migra­ti­on der Roma und die euro­päi­sche Politik

Roma-Poli­tik ist spä­tes­tens seit der Ost­erwei­te­rung zu einem wich­ti­gen Wir­kungs­feld für die Euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen gewor­den. Davon zeu­gen zahl­rei­che Initia­ti­ven und Berich­te, die auch die Migra­ti­on der Roma behan­deln (z. B. Ara­dau u. a. 2010, FRA 2009). Das Han­deln der euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen basiert heu­te weit­ge­hend auf der Über­zeu­gung, dass die Lage der Roma in Euro­pa nicht mit den Wer­ten der Euro­päi­schen Uni­on in Ein­klang steht, und dass die EU dazu ver­pflich­tet ist, ihre Rech­te als Uni­ons­bür­ge­rIn­nen gegen­über den Mit­glieds­staa­ten zu verteidigen.

Eine Vor­rei­ter­rol­le beim Schutz der Roma spielt das Euro­päi­sche Par­la­ment: Es hat die Mit­glieds­staa­ten und die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on in der Ver­gan­gen­heit mehr­fach in Ent­schlie­ßun­gen auf­ge­for­dert, die sozia­le Lage der Roma zu ver­bes­sern, sie in den EU-Struk­tur­fonds-Pro­gram­men mit zu beden­ken, Ras­sis­mus und Segre­ga­ti­on zu bekämp­fen und das Bewusst­sein für die Geschich­te des Holo­caust, dem 500.000 Roma zum Opfer fie­len, zu schär­fen. Die Her­an­ge­hens­wei­se der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on kon­zen­triert sich dar­auf, die sozia­le Situa­ti­on der Roma in ihren mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Mit­glieds­staa­ten zu ver­bes­sern. Zu den bekann­tes­ten Maß­nah­men der Kom­mis­si­on zäh­len das PHA­RE-Pro­gramm zur Unter­stüt­zung der MOE-Län­der sowie Pro­jek­te im Rah­men der so genann­ten Roma-Deka­de. Hier­zu gehö­ren der Roma Edu­ca­ti­on Fund zur Inte­gra­ti­on der Roma in die natio­na­len Bil­dungs­sys­te­me sowie zahl­rei­che Kam­pa­gnen gegen die Dis­kri­mi­nie­rung der Roma.

All die­se Maß­nah­men zie­len impli­zit auch dar­auf ab, Migra­ti­on zu redu­zie­ren. Migra­ti­on gilt in ers­ter Linie als uner­wünsch­te Fol­ge extre­mer Armut, und Ver­bes­se­run­gen in den Hei­mat­län­dern sol­len die Moti­va­ti­on zur Emi­gra­ti­on sen­ken. In den Pro­gram­men und öffent­li­chen Ver­laut­ba­run­gen der Kom­mis­si­on spielt die Migra­ti­on der Roma ins­ge­samt jedoch eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Vor allem die Lage der Roma-Migran­tIn­nen in den west­li­chen Mit­glieds­staa­ten wird eher vom Euro­päi­schen Par­la­ment thematisiert.

Im April 2011 leg­te die Kom­mis­si­on nach viel­fa­chen Auf­for­de­run­gen durch das Euro­päi­sche Par­la­ment einen ein­heit­li­chen «EU-Rah­men für natio­na­le Stra­te­gien zur Inte­gra­ti­on der Roma bis 2020» vor (Euro­päi­sches Par­la­ment 2008, Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2011a). Die­se Euro­päi­sche Rah­menstra­te­gie soll der Idee nach für mehr Kohä­renz sor­gen und die Mit­glieds­staa­ten zum Schutz der Roma ver­pflich­ten. Sie ent­hält jedoch kei­ner­lei ver­bind­li­che Vor­ga­ben und Sank­tio­nen bei Nicht­be­ach­tung. Kon­tro­ver­se The­men wie der Schutz der Roma als natio­na­le Min­der­heit in allen Län­dern der Uni­on und ihre struk­tu­rel­le Par­ti­zi­pa­ti­on blie­ben unbe­ach­tet (Roma­ni Rose 2011, S. 4). Ins­be­son­de­re das The­ma Roma­feind­lich­keit wur­de expli­zit aus­ge­klam­mert. Dabei ist es gera­de sie, die hin­ter zahl­rei­chen Fäl­len von Dis­kri­mi­nie­rung und Repres­si­on der Roma sowohl in den Ursprungs­län­dern als auch den Ziel­län­dern der Migra­ti­on steckt.

Jen­seits der kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der Rah­menstra­te­gie ver­deut­li­chen die oben genann­ten Aus­las­sun­gen wie­der einen bestimm­ten Blick auf die Migra­ti­on der Roma. Gemein­hin gilt sie als unpo­li­ti­sches Han­deln, als «Ansturm der Ärms­ten der Armen». Die Fra­ge, inwie­weit die Migra­ti­on der Roma einen bür­ger­schaft­li­chen Akt gegen die Vor­ent­hal­tung demo­kra­ti­scher Teil­ha­be dar­stel­len könn­te, stellt sich den Euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen bis­her nicht: «Die Roma… wer­den nicht mit demo­kra­ti­scher Pra­xis in Ver­bin­dung gebracht. Die Mobi­li­tät der Roma… bleibt weit­ge­hend apo­li­tisch in dem Sinn, dass sie nicht dabei gese­hen wer­den, wie sie bewusst ver­su­chen, durch ihre Mobi­li­tät Struk­tu­ren von Macht und Auto­ri­tät neu zu ver­han­deln. Die Roma, die in Armut leben und die Dis­kri­mi­nie­rung und Ras­sis­mus erfah­ren, … wer­den oft als unge­ord­ne­te Mas­se von Indi­vi­du­en dar­ge­stellt, die von ihren Lebens­be­din­gun­gen frus­triert sind.» (Ara­dau, Huys­mans 2009, S. 6)

Weder die Finan­zie­rungs­in­stru­men­te der Kom­mis­si­on noch die euro­päi­sche Gesetz­ge­bung gegen Dis­kri­mi­nie­rung, sei es in Form der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­richt­li­nie 2000/43/EC oder des Rah­men­be­schlus­ses zur Bekämp­fung von Ras­sis­mus und Frem­den­feind­lich­keit (2008/913/JI), haben die Ursa­chen der Migra­ti­on der Roma über­win­den kön­nen. Die Bedeu­tung der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­richt­li­nie für den Kampf gegen Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung soll­te zwar nicht unter­schätzt wer­den, doch sie reicht nicht aus, um die struk­tu­rel­le Aus­gren­zung der Roma und den Teu­fels­kreis aus mise­ra­blen Wohn­ver­hält­nis­sen, schlech­ten Bil­dungs­chan­cen, Arbeits­lo­sig­keit und Armut zu durch­bre­chen (De Schutter 2005). Um die­se Pro­ble­me anzu­ge­hen, bräuch­te die EU eine sozi­al­po­li­ti­sche Kom­pe­tenz, die ihr bis­her fehlt.

Dass sie die Ursa­chen der Migra­ti­on der Roma nicht kurz­fris­tig über­win­den kann, ent­bin­det die Euro­päi­sche Uni­on indes von nicht der Pflicht, die Lage der Migran­tIn­nen in den Ziel­län­dern zu ver­bes­sern. Die Euro­päi­sche Uni­on muss die Ein­hal­tung exis­tie­ren­der euro­päi­scher Stan­dards durch­set­zen und ihre Spiel­räu­me zuguns­ten der Roma nut­zen. Ins­be­son­de­re der kon­se­quen­ten Durch­set­zung der euro­päi­schen Frei­zü­gig­keit und der Aus­wei­tung der Rech­te durch die Uni­ons­bür­ger­schaft kommt zen­tra­le Bedeu­tung für eine akti­ve euro­päi­sche Roma-Poli­tik zu.

Die Fra­ge, wie die Euro­päi­sche Uni­on mit der Migra­ti­on der Roma umgeht, wird zukünf­tig wei­ter an Rele­vanz gewin­nen. In der Poli­tik gegen­über den Bei­tritts­kan­di­da­ten im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en wie­der­ho­len sich die Debat­ten, die im Vor­feld der bis­he­ri­gen EU-Ost­erwei­te­rung bereits statt­fan­den. Viel­fach wer­den die Lebens­be­din­gun­gen der Roma in den Dis­kus­sio­nen um lau­fen­de oder mög­li­che Bei­tritts-Ver­hand­lun­gen the­ma­ti­siert (z. B. Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2010b); und ihre Migra­ti­on stellt die schon erfolg­te Visa­li­be­ra­li­sie­rung gegen­über Maze­do­ni­en und Ser­bi­en infrage.

In der Uni­on selbst ste­hen die Euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen den Ver­let­zun­gen der Grund­rech­te der Roma weit­ge­hend macht­los gegen­über. Natio­na­lis­mus und Roma­feind­lich­keit wach­sen wei­ter an, und die Fol­gen der Finanz- und Wirt­schafts­kri­se wer­den die Armut der Roma in den nächs­ten Jah­ren wei­ter ver­schär­fen. Will die Euro­päi­sche Uni­on ihre Wer­te von Frei­heit und Gleich­heit nicht nur auf dem Papier ver­tei­di­gen, braucht es eine über­ar­bei­te­te Roma-Rah­menstra­te­gie. Die­se muss die bis­her aus­ge­las­se­nen Fra­gen mit ein­be­zie­hen und alle Mit­glieds­staa­ten, auch die west­eu­ro­päi­schen, mit ver­bind­li­chen Rege­lun­gen in die Pflicht nehmen.

 

Quel­len

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  • Euro­päi­sche Kom­mis­si­on: Roma in Euro­pe. The Imple­men­ta­ti­on of Euro­pean Uni­on Instru­ments and Poli­ci­es for Roma Inclu­si­on – Pro­gress Report 2008–2010, Brussels 7. April 2010 (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2010a).
  • Euro­päi­sche Kom­mis­si­on: Croa­tia 2010 Pro­gress Report accom­pany­ing the Com­mu­ni­ca­ti­on from the Com­mis­si­on to the Euro­pean Par­lia­ment and the Coun­cil. Enlar­ge­ment Stra­tegy and Main Chal­lenges 2010–2011, Brussels 9. Novem­ber 2010 (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2010b).
  • Euro­päi­sche Kom­mis­si­on: An EU Frame­work for Natio­nal Roma Inte­gra­ti­on Stra­te­gies up to 2020, Brussels 5. April 2011 (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2011a).
  • Euro­päi­sche Kom­mis­si­on: Frei­er Per­so­nen­ver­kehr: Ent­schlos­se­nes Han­deln der Kom­mis­si­on ermög­licht Schlie­ßung von 90 Pro­zent der offe­nen Dos­siers. Pres­se­mit­tei­lung, Brüs­sel, 25. August 2011 (Euro­päi­sche Kom­mis­si­on 2011b).
  • Euro­päi­sches Par­la­ment: Ent­schlie­ßung zu einer euro­päi­schen Stra­te­gie für die Roma, 23. Janu­ar 2008.
  • Euro­päi­sches Par­la­ment: Ent­schlie­ßung zur Lage der Roma und zur Frei­zü­gig­keit in der Euro­päis­cehn Uni­on, 9. Sep­tem­ber 2010.

 

Lite­ra­tur

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  • Tóth, Judith: The Incom­pre­hen­si­ble Flow of Roma Asyl­um-See­kers from the Czech Repu­blic and Hun­ga­ry to Cana­da, Novem­ber 2010, Inter­net Publication.

 

[acp foot­no­te dis­play title=„Fußnoten“ /]

 

Der Text ist zuerst erschie­nen in der Zeit­schrift trans­form! Euro­päi­sche Zeit­schrift für kri­ti­sches Den­ken und poli­ti­schen Dia­log 10/2012, Sei­ten 173–185.