Im Juni 2012 wurde die religiöse Beschneidung der Vorhaut bei Jungen in der Bundesrepublik Deutschland zu einem öffentlichen Thema. Hatte es zuvor im deutschsprachigen Raum auch in emanzipatorischen und linken Zusammenhängen keine diesbezüglichen Diskussionen gegeben, entbrannte im Anschluss an die Entscheidung einer juristischen Institution nun in Artikeln und Kommentaren von Zeitschriften und Blogs ein «Lauffeuer» der Entrüstung über die Vorhautbeschneidung (Zirkumzision). Dabei wurde viel vorausgesetzt. Ausgehend von einer Befragung der Debatte auf ihre diskursiven Bezüge und disziplinären Argumentationsfiguren werden im Folgenden insbesondere einige der medizinischen und medizinethischen Positionen beleuchtet. Unter welchen Bedingungen gerinnt ein Vorgang zu einem Ereignis, und unter welchen Voraussetzungen wächst ein Ereignis sich zum öffentlichen Thema aus?
1. Das Urteil und der schlagartige Diskurs – tatsächlich?
Die öffentliche Debatte um die Vorhautbeschneidung startete am 26. Juni 2012. Im Anschluss an einen Artikel der Financial Times Deutschland veröffentlichten in den darauffolgenden Tagen dutzende bundesdeutsche wie internationale Zeitschriften Beiträge zum Thema. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass es in den Jahren und Jahrzehnten zuvor im deutschsprachigen Raum keinen Beitrag zur Vorhautbeschneidung gegeben hatte, der zum medialen Thema wurde – bei, wohlgemerkt, unveränderter Beschneidungspraxis. Auch im wissenschaftlichen Kontext erschienen aus dem deutschen Sprachraum nur sehr vereinzelt Beiträge, die sich mit der Vorhautbeschneidung befassten. Mindestens ebenso erwähnenswert wie die jahre- bis jahrzehntelange Nicht-Thematisierung ist auch der folgende Sachverhalt: Bis zum Juni 2012 gab es im deutschsprachigen Raum keine Selbstorganisation von Menschen, die sich gegen die Vorhautbeschneidung – aus religiösen oder hygienischen Motiven – äußerten. Internetforen, in denen gegen die Vorhautbeschneidung gestritten wird, kamen erst ab Juli 2012 auf. Ihre Betreiber rekrutieren sich interessanterweise nicht aus Selbstorganisationen, etwa agnostischer oder atheistischer Männer jüdischen oder muslimischen Elternhauses, sondern aus anderen Personenkreisen, mit eigenen Motiven.[acp footnote]Vgl. etwa die Foren von Edwin Manfred Reichhart (Graz und Freiburg) und Guy Sinden (Freiburg) bzw. Steffen Wasmund (Berlin) www.beschneidungsforum.de, www.beschneidung-von-jungen.de und www.zwangsbeschneidung.de, die im Juli und August 2012 online gegangen sind (Zugriff: 7.5.2013 sowie Denic-Auskunft [29.1.2013]).[/acp]
Nicht minder interessant ist ein Blick auf Ereignisse, die vor dem Debattenbeginn am 26. Juni 2012 liegen. Etwa die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte Urteilsverkündung des Kölner Landgerichts am 7. Mai 2012. Erst sechs Wochen später, nachdem die Financial Times Deutschland davon berichtet hatte, sah das Kölner Landgericht sich veranlasst, die einsetzende Anfrageflut mit einer Pressemitteilung zu parieren. Den Verfahrensverlauf ebenso wie den aufkommenden Diskurs hat der Jurist und Journalist Jost Müller-Neuhof (2012) ausführlich aufgearbeitet; alle wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den juristischen Vorgängen im Vorfeld der Debatte beziehen sich auf die Recherchen Müller-Neuhofs.[acp footnote]Vgl. etwa Widmann 2012; Çetin/Wolter 2012.[/acp]
«Eine verstörte Mutter, gebürtige Tunesierin, kommt mit ihrem Vierjährigen in die Klinik.» (Müller-Neuhof 2012) Das Kind war zuvor von einem niedergelassenen Arzt beschnitten worden und zeigte Nachblutungen. Da die Mutter sich nur unzureichend ausdrücken und die Situation schildern und erklären konnte, setzte ein behördliches Verfahren ein. Das Hinzuziehen der Polizei markiert einen Punkt, an welchem ein bis dato privater Vorgang seine Sphäre verlässt und zu einem offiziellen Vorgang wird. Der ursprüngliche Sachverhalt (ärztliche Vorhautbeschneidung mit anschließenden Nachblutungen) erfährt bereits mit der Erweiterung der zuständigen Stellen einen eklatanten Bedeutungswandel. Darüber hinaus ergeben sich einige schwer zu übergehende Fragen zum Ereignishergang im Kölner Klinikum: Einerseits wird sogleich die Polizei gerufen – verfügt sie etwa über die medizinische Expertise, um die Nachblutungen zu stillen? Zugleich wird die als unzureichend empfundene Kommunikation mit dem Krankenhauspersonal der Mutter angelastet, womit der soziale, der gemeinschaftliche Aspekt gelingender Kommunikation und die Verantwortung des Klinikums, geeignete Dolmetschdienste vorzuhalten, aus dem Blick gerät. Auch dieser Fall lässt sich lesen als ein Hinweis darauf, dass «Integration» in Deutschland noch immer als primär einseitiges Projekt verstanden wird, zu dessen Kennzeichen eher eine verhaltensspezifische Erwartungshaltung und weniger ein Interesse am Gegenüber zählt.
Es kommt zu einem Verfahren gegen den niedergelassenen Arzt, ihm wird ein Behandlungsfehler, ein «Kunstfehler» zur Last gelegt. Er wird erstinstanzlich freigesprochen, und das Gericht stellt fest: «[D]er Junge wurde korrekt und unter Betäubung beschnitten. […] Der Eingriff sei [dem Amtsrichter zufolge] kein Verstoß gegen das Kindeswohl. Die Eltern hätten im Hinblick auf Religionsfreiheit und Erziehungsrecht wirksam eingewilligt.» (Müller-Neuhof 2012) Dieses Urteil jedoch stimmt keineswegs alle mit dem Fall Befassten zufrieden, weshalb eine Kölner Oberstaatsanwältin in Berufung und der Fall an die nächsthöhere Instanz geht. Der dortige Urteilsspruch stellt fest, dass der Arzt eben nicht dem Kindeswohl entsprechend gehandelt habe. Da ihm dies während des Eingriffs aber nicht klar gewesen sei («Verbotsirrtum»), spricht ihn das Gericht von «seiner Schuld» frei. Dieses Urteil entfaltet weitreichende Wirkung – es betrifft immerhin Grundrechte (Religionsfreiheit) – und hätte entsprechend an die juristischen höheren Stellen weitergeleitet werden müssen, wie es die juristischen Vorgaben in Nordrhein-Westfalen bei Verfahren von «grundsätzlicher Bedeutung» vorsehen. Dies erfolgt nicht, womit auch die Möglichkeit, innerhalb von Wochenfrist vor dem Oberlandesgericht gegen das Urteil in Revision zu gehen, ungenutzt verstreicht. Erst nach Ablauf der Frist werden die Medien breiter informiert – und hier kommt ein wesentlicher Protagonist dieser Debatte ins Spiel: Holm Putzke, Strafrechtler. Bereits seit Jahren engagierte er sich auf diesem Themenfeld, referierte in Fachkreisen, «profilierte» sich als Fachmann zu diesem Thema. Allerdings war die Debatte bislang auf kleine juristische Fachkreise beschränkt geblieben und hatte weder eine mediale Öffentlichkeit erreicht, noch bestimmenden Einfluss auf die Rechtsprechung erlangt. Diese Gelegenheit sollte sich nun ergeben; nachweislich war es Holm Putzke, der über einen Freund bei der Financial Times Deutschland den Artikel lancierte, der am 26. Juni 2012 erschien, und der die öffentliche Debatte forcieren sollte. (vgl. Müller-Neuhof 2012)
«Der einzige Experte, der [in dem Beitrag der Financial Times Deutschland, Anm. d.V.] zu Wort kommt, ist Holm Putzke. ‹Das Urteil ist für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben.› Das Gericht habe sich nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden. ‹Anders als viele Politiker.›
Rechtssicherheit kann es durch Urteile von Untergerichten nicht geben. Verschwiegen wird, dass es um eine Berufung ging, bei der die Kammer mit nur einem einzigen juristisch gebildeten Richter besetzt ist. Kein Wort, dass der Richterspruch schon sechs Wochen alt ist, dass ein Amtsgericht zuvor das Gegenteil entschieden hatte. Nichts davon, dass weder andere Gerichte noch Staatsanwälte an das Urteil gebunden sind. Nichts, was auf die persönliche Nähe zwischen Putzke und dem Verfasser des Artikels hindeutet. Der FTD-Journalist sagt, er habe sich für die Anfrage bei Putzke aus fachlichen Gründen entschieden. Putzke gibt mittlerweile zu, von sich aus an die Presse herangetreten zu sein.» (Müller-Neuhof 2012)
Es ist wichtig, den Entstehungshintergrund der Debatte im Kopf zu haben, um sich zu vergegenwärtigen, wessen Interessen in dieser öffentlichen Auseinandersetzung verhandelt wurden und werden. Über die gesellschaftliche Tragweite des Urteils wie des besagten Zeitungsartikels scheint beim Strafrechtler Holm Putzke keine Unklarheit geherrscht zu haben; es zeigt sich zumindest der Hinweis, dass er durchaus im Blick hatte, dass grundlegende Traditionen jüdischer (und muslimischer) Religionspraxis durch das Urteil betroffen sein würden.
2. Politische und medizinische Reaktionen
Die Reaktionen aus verantwortlichen politischen Kreisen – insbesondere den Bundestagsfraktionen – waren deutlich und unaufgeregt. Im Juli äußert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel klar: «Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation» (vgl. Spiegel 2012). Selbst Alice Schwarzer, seit den letzten Jahren oft mit rassistischen Positionierungen gegen Muslim_innen aufgefallen, nimmt in dieser Frage eine klare Position für die Religionsfreiheit von Muslim_innen und Jüd_innen ein: «Die Verurteilung der männlichen Beschneidung halte ich für eine realitätsferne politische Correctness.» Im Weiteren hebt sie die gesundheitlichen Vorteile der Vorhautbeschneidung hervor: «Etwa jeder dritte männliche Mensch weltweit ist beschnitten. Und das nicht nur aus religiösen oder kulturellen Gründen, sondern auch aus hygienischen. Bereits 2007 rieten sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die UN dringend zur Beschneidung von Männern: als Prävention gegen Aids, Peniskrebs und Gebärmutterhalskrebs. Denn letzterer wird verursacht von einem verunreinigten männlichen Penis.» (Schwarzer 2012)
Prominente medizinische Kreise zeigten sich von dem Urteil erschüttert. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, beurteilte das Urteil des Kölner Landgerichts als «für die Ärzte unbefriedigend und für die betroffenen Kinder sogar gefährlich». Der Bundesverband der deutschen Urologen und – in gleichem Wortlaut – die Deutsche Gesellschaft für Urologie erklärte mit ähnlicher Sichtweise wie Montgomery und unter Verweis auf die begrenzte Reichweite des Kölner Urteils:
«Es handelt sich hier um eine sogenannte Güterabwägung, wobei das Gericht in der Urteilsbegründung selbst einräumt, dass auch die gegenteilige Auffassung vertretbar sei. Ein Gericht in München oder Hamburg könnte denselben Sachverhalt also durchaus anders bewerten. […] Endgültige Rechtssicherheit können nur ein höchstrichterliches Urteil oder der Gesetzgeber herbeiführen. […] Bei der Diskussion darüber, ob zukünftig rituelle Beschneidungen durch Ärzte rechtssicher durchgeführt werden können, sollte auch der Aspekt berücksichtigt werden, dass man rituelle Beschneidungen durch Gerichtsurteile in Deutschland nicht einfach abschaffen kann. Damit besteht die konkrete Gefahr, dass rituelle Beschneidungen vermehrt von medizinischen Laien durchgeführt werden.» (DGU 2012, Juli)
Von diesen medizinischen Gesellschaften wurde die daraufhin von den Parlamentarier_innen gefundene und am 12. Dezember 2012 verabschiedete Lösung – das Gesetz zum «Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes» (Drucksache 17⁄11295) – schließlich explizit begrüßt, da sie Rechtssicherheit für die Mediziner_innen schaffe (DGU 2012, Dezember).
Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie verwies auf die Möglichkeit, dass auch mit der Vorhautbeschneidung traumatisierende Erfahrungen verbunden sein könnten, wobei es allerdings schwierig sei, ein singuläres Ereignis für Traumatisierungen verantwortlich zu machen. Deutlich warnt die Gesellschaft vor den traumatisierenden Auswirkungen, die mit der «Missachtung [von] kulturellen und religiösen Identität[en]» und auch von «Migrationsschicksalen» verbunden sein könnten – und regt zu einer toleranten gesellschaftlichen Aushandlung an:
«Im Sinne kumulativer Traumatisierungen wirken solche Umweltbedingungen leise und nachhaltig. Ein Eingriff in zentrale Elemente religiöser Identität kann von vielen Familien durchaus als Labilisierung, Verunsicherung und Missachtung in einem wesentlichen Kernpunkt ihres Lebens empfunden werden – mit ebenfalls gravierenden psychischen Folgen für die Kinder. In diesem Kontext gilt es daher, aus fachlichen Gründen sorgfältig zwischen verschiedenen möglichen psychischen Gefährdungen zu unterscheiden und nicht vorschnell ein singuläres, potentiell traumatisches Ereignis in den Vordergrund zu stellen. Der derzeitige Stand der Diskussion ist unseres Erachtens noch zu sehr davon geprägt, dass um den Vorrang jeweils einer Perspektive gerungen wird. Ein Reflexionsraum über die Bedeutung religiöser Zugehörigkeit unter Berücksichtigung der sozialpsychologischen und historischen Bedingungen jüdischen und muslimischen Lebens in Deutschland kann dabei nicht entstehen.» (DGPT 2012)
Einzig Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie und in ihrem Nachgang die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin befürworten das Kölner Urteil, bei gleichzeitiger Kenntnis um seine Bedeutung für religiöse Minderheiten. Aber auch hier ist ein diskurstheoretischer Einblick erhellend: So publizierte Maximilian Stehr, der den Vorsitz der Deutsche[n] Gesellschaft für Kinderchirurgie führt und die Pressemitteilung nach dem Kölner Urteil verfasste, seit einigen Jahren immer wieder gemeinsam mit Holm Putzke. Nun sind die Einschätzungen Stehrs jedoch gerade nicht in der wissenschaftlichen Differenziertheit verfasst wie bei den zuvor benannten Gesellschaften und dem Präsidenten der Bundesärztekammer. Stehr selbst weist darauf hin, dass die Einschätzung vor allem auf die steten Vorarbeiten in Zusammenarbeit mit Holm Putzke zurückzuführen ist. So schreibt er im Namen der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie:
«Mit der prinzipiellen Feststellung der Rechtswidrigkeit medizinisch nicht indizierter Beschneidungen bei nicht einwilligungsfähigen Knaben bestätigt das Gericht die von der DGKCH vertretene und viel diskutierte Meinung. In den letzten Jahren wurde von verschiedenen Autoren in mehreren Publikationen hierzu kritisch Stellung genommen, zuletzt 2008 im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Ärztebl 2008; 105(34–35); A 1778–80).» (DGKCH 2012)
Jener Artikel im Deutschen Ärzteblatt wurde verfasst von Maximilian Stehr, Holm Putzke und Hans-Georg Dietz – als Kontaktperson ist Holm Putzke angegeben. Indessen handelt es sich bei diesem Beitrag keineswegs um den jüngsten zum Thema; 2010 publizierten die gleichen drei Autoren gemeinsam auch in Der Urologe eine Erwiderung auf einen anderen Beitrag. Umso interessanter ist der diskutierte Sachstand: Zahlreiche bundesweite und internationale medizinische Beiträge zur Vorhautbeschneidung, u.a. solche mit zum Teil widersprüchlichen Positionen, werden von den drei Autoren überhaupt nicht rezipiert. Stattdessen werden, etwa im besagten Artikel im Deutschen Ärzteblatt, insbesondere solche Beiträge angeführt, die geeignet sind, die eigene Position zu stützen – und zudem oft selbst verfasst sind. Ein Beispiel:
«Der Nutzen überwiegt die Nachteile allerdings nur dann, wenn eine Zirkumzision das Risiko einer späteren Erkrankung nicht nur unerheblich verringert. Das Erkrankungsrisiko ist in den genannten Fällen allerdings sehr gering: Bei Harnwegsinfekten liegt die Inzidenz bei 1,12 Prozent (10). Für Peniskrebs wies die American Cancer Society darauf hin, dass die dabei bestehende Sterblichkeitsrate von der durch Zirkumzisionen verursachten aufgehoben werden dürfte (7). Auch die Wahrscheinlichkeit, später an einer manifesten Phimose, Paraphimose oder einer Balanoposthitis zu erkranken, ist gering – sie liegt zwischen zwei und vier Prozent (11). Nicht viel anders ist die Sache zu sehen bei Syphilis oder Gonorrhö.» (Stehr et al. 2008)
Die angeführten Quellen 10 und 11 verweisen auf eigene Ausführungen aus den Jahren 2001 (Dietz et al. 2001; Stehr et al. 2001). Es handelt sich hierbei um knappe deutschsprachige Beiträge mit Umfang von drei bzw. vier Seiten, die in eher populär orientierten medizinischen Veröffentlichungen untergebracht sind. Quelle 7 hingegen verweist auf den deutschsprachigen Sammelband «Das verletzte Geschlecht. Die Geschichte der Beschneidung», der im Jahr 2002 im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Im angeführten Absatz werden keine – und im übrigen Beitrag nur vereinzelt – wissenschaftliche Quellen herangezogen, die in medizinischen Fachdatenbanken indiziert sind. Lediglich in Bezug auf den von der Weltgesundheitsorganisation beschriebenen Nutzeffekt der Vorhautbeschneidung für die Verminderung des HIV-Infektionsrisikos, aufgrund dessen die WHO die Vorhautbeschneidung als Vorbeugemaßnahme für Länder Afrikas empfiehlt, werden internationale und indizierte Fachbeiträge herangezogen. Diese Bezugnahme wird von den drei Autoren allerdings sogleich als für die Bundesrepublik Deutschland unbedeutend zurückgewiesen, da in der BRD HIV-Infektionen nur selten aufträten.
Ein nicht geringes Maß an Selbstreferenz auf eigene Arbeiten sowie die fehlende Bezugnahme auf wissenschaftliche Fachartikel kennzeichnet die Qualität des Beitrages, der für die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie und ihren Vorsitzenden Maximilian Stehr die zentrale Basis ihrer Argumentation darstellt und entsprechend prominent immer wieder rezipiert wird (vgl. auch Putzke 2012). Ein Umstand, der nicht folgenlos bleibt. Denn auch für die Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ 2012) stellt die Positionierung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie eine der zentralen Bezugnahmen dar. Christoph Kupferschmid, einer der Verfasser dieser Stellungnahme, bezieht sich – wiederum im Deutschen Ärzteblatt – in seiner Positionierung, die jüdische und muslimische Tradition der Vorhautbeschneidung abzulehnen, zentral auf Stehr: «Bereits vor elf Jahren stellten die Münchner Kinderchirurgen um Prof. Dr. med. Maximilian Stehr medizinisch nicht indizierte Beschneidungen infrage. Die Komplikationsrate von zwei Prozent, Schmerzen und Unwohlsein standen für sie nicht im Einklang mit unseren Vorstellungen von Kinderrechten und Selbstbestimmung.» (Kupferschmid 2012; Hervorhebung d.V.).
Interessant ist der Blick auf die Rezeption auch deshalb, weil eine nicht zu übersehende Zahl von populären medialen Beiträgen auf diesen beiden Pressemitteilungen fußt. Der leichtfertige Umgang mit Datenbeständen in einer für viele Menschen so grundlegenden Diskussion ist bedenklich, vor allem jedoch hinterlässt er dringenden Klärungsbedarf.
In einem Dossier des Deutschen Ärzteblattes, in dem verschiedene Mediziner zu Wort kommen, geben interessanterweise ebenfalls die drei Autoren Stehr, Putzke und Dietz eine gemeinsame Stellungnahme ab, zudem die einzige (!), die über die religiöse Bedeutung schlicht hinweggeht. Sie verweisen ebenfalls erneut zentral auf ihren Beitrag im Deutschen Ärzteblatt (Stehr 2008). Alle anderen befragten Mediziner_innen hingegen gelangen zu einer differenzierten Position. Hans-Peter Bruch, Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen etwa, kommt auf Grundlage der medizinischen Datenbasis zu einem gänzlich anderen Urteil als das Autorentrio Stehr/Putzke/Dietz:
«Aus großen statistischen Erhebungen unserer Tage geht hervor, dass durch die Beschneidung das Risiko an Aids zu erkranken, erheblich gesenkt wird und die Beschneidung auch eine Prophylaxe für die Übertragung von HPV (human papilloma virus) ist, welcher den Gebärmutterhalskrebs auslöst. Darüber hinaus wird natürlich auch die Übertragung von Darmkeimen, Pilzen und anderen Viren durch die Beschneidung eingeschränkt. […] Die Diskussion sollte daher vor allen Dingen freigehalten werden von Vorurteilen und emotionaler Überlagerung. Aus Sicht des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen muss sichergestellt werden, dass eine Beschneidung durch dafür exzellent ausgebildete Chirurgen in optimaler Operationsumgebung schmerzfrei durchgeführt wird. Der Gesetzgeber muss nach Auffassung des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen (BDC) dafür Sorge tragen, dass Rechtssicherheit hergestellt wird und Muslime und Juden nicht gezwungen sind, ihren religiösen Gesetze folgend ins Ausland reisen zu müssen, wo die Beschneidung möglicherweise unter Umständen stattfindet, die mit den Grundsätzen der Patientensicherheit und der modernen Asepsis nicht übereinstimmen.» (Bruch 2012)
Zwei Professoren an den Urologischen Kliniken Berlin und Rostock, Ahmed Magheli und Oliver Hakenberg, erklären mit ähnlicher Lesart der medizinischen Daten im gleichen Dossier:
«Da es für in Europa lebende Kinder keine guten medizinischen Gründe für eine Zirkumzision gibt, andererseits aber auch keine medizinisch relevanten Bedenken gegen eine Zirkumzision bestehen, muss diese Diskussion auf anderer Ebene geführt werden. […] Daher ist es notwendig, dass die Abwägung der hier berührten Grundrechte durch den Gesetzgeber geregelt wird oder eine Ausnahmeregelung für die rituelle Zirkumzision definiert wird. Wenn man die zum Teil sehr hitzige Diskussion dieses Themas in den Medien verfolgt – die geradezu zum Kulturkampf geworden ist –, dann verläuft die Grenze ziemlich deutlich zwischen eher religiösen Befürwortern einer Tolerierung der rituellen Zirkumzision und eher areligiösen Gegnern einer solchen Tolerierung. Völlig abwegig ist jedoch der Vergleich der Zirkumzision, die im Kindesalter keine funktionellen Auswirkungen hat, mit der erheblichen Genitalverstümmelung von Mädchen durch ‹Beschneidung›, d. h. Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen.» (Magheli/Hakenberg 2012)
Über die Auswirkungen der Vorhautbeschneidung gibt es mittlerweile einen medizinisch weitreichenden Kenntnisstand. So sind etwa in der internationalen medizinischen Fachdatenbank PubMed allein unter dem Stichwort «circumcision» 5566 Beiträge zu finden. Die Veröffentlichungen umfassen dabei teils sehr große Studien mit über 100.000 Untersuchten, oftmals wurden zumindest einige Hundert bis Tausend Jungen und Männer untersucht – für andere Eingriffe sind häufig weit geringere Proband_innen-Gruppen üblich. Die in PubMed gelisteten Studien decken dabei zahlreiche Fragestellungen ab, etwa Fragen zu Komplikationsraten, Empfindsamkeit der Eichel, sexuelle Zufriedenheit und psychologische Auswirkungen (die etwa durch Diskriminierungen von Kindern und Teenagern auf Grund des Beschneidungsstatus in geschlechtshomogenen Gruppen vorkommen).[acp footnote]Ein Überblick über die Studien und Studienergebnisse findet sich an anderer Stelle: Voß 2012a; vgl. auch: Deusel 2012a; Deusel 2012b. Einzig auffällig ist, dass in den Studien stets ein normativ-penetrierendes und zudem heterosexuelles Verständnis angewandt wird, um Fragen nach der Empfindsamkeit nachzugehen.[/acp] Die Datenlage zu Auswirkungen von Vorhautbeschneidungen ist also vergleichsweise sehr gut – gleichwohl ließ die Medizinerin und Vorsitzende des Ethikrates Christiane Woopen verlauten, zunächst einmal müssten deutlich mehr Forschungen stattfinden.
«Die Vorsitzende des Ethikrates […] plädierte dafür, dass der Ethikrat jetzt Rahmenanforderungen für weitere Forschungen entwickelt. ‹Eine solche Datenlage würden wir in anderen Bereichen nie akzeptieren›, sagte sie am Rande der Sitzung in Berlin zur ‹Ärzte Zeitung›. Es gebe Hinweise darauf, dass schwere Folgen eintreten könnten, aber bei den bisherigen Studien sei überhaupt nichts über die Umstände der Beschneidungen bekannt, auch nicht, wer sie vorgenommen hat, so Woopen. Ihre Forderung wurde von weiteren Medizinern im Nationalen Ethikrat ausdrücklich unterstützt.» (Mißlbeck 2012)
Der Ruf nach weiteren Forschungen, ohne deren Ergebnisse die Basis für die eigene Positionsbestimmung fehle, scheint unter Medizinethiker_innen eine nicht unübliche Strategie zu sein. Das Risiko einer womöglich unpopulären Festlegung wird damit weitgehend minimiert. Eine grundlegende Klärung anstehender Fragen wird – zumindest mittelfristig – umgangen, wie sich auch bei der problematisch zu nennenden Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Intersexualität zeigte (vgl. Voß 2012b). Hier wie dort liegen klare Erkenntnisse vor, die eine Richtung der Entscheidung aus medizinischer Perspektive anzeigen.[acp footnote]Die Richtung der Entscheidung ist dabei unterschiedlich. Während sich medizinisch ein deutlicher Vorteil der Vorhautbeschneidung bei Jungen zeigt, ist dies bei Intersexualität anders. Die medizinischen Behandlungen führen bei Intersexualität zu einer hohen Rate schwerer Komplikationen (fast immer sind mehrere Operationen nötig; bei Entfernung der Keimdrüsen schließen sich Hormonersatztherapien an etc.), zu schlechten funktionalen Ergebnissen und zu einer hohen Rate psychischer Leiden bei den Behandelten (vgl. ausführlich: Voß 2012b).[/acp]
3. Was ausgeschlossen bleibt – rassistische Motive in der Debatte
Der ungeplante Verlauf (Strafanzeige nach Klinikbesuch) eines durchaus üblichen Vorgangs (Vorhautbeschneidung nach erfolgter Einwilligung der Eltern durch approbierten Arzt) hatte diesen Vorgang zu einem Ereignis (Urteilsspruch mit Verbot religiöser Vorhautbeschneidung) werden lassen, welches sich durch gezielte Intervention (interessengerichtete Kommentierung des Urteils in der Presse) zu einem öffentlichem Ereignis auswuchs. Diese Bühne nutzten vor allem Gegner der bislang gängigen Praxis, um aus den unterschiedlichsten Gründen ein Verbot medizinisch nichtindizierter Vorhautbeschneidung zu fordern. Ihre Argumentationen waren von Vorannahmen geprägt, wie etwa derjenigen, dass ein solcher Eingriff äußerst gefahrvoll und traumatisierend sei. Obwohl der medizinische Sachstand dieser Vorannahme widerspricht, war für die Wirksamkeit der Argumentation eine nähere Begründung nicht nötig. Innerhalb des in der BRD dominanten – christlichen, christlich-atheistischen – Verständnisses erschloss sich die «Plausibilität» der Argumente unmittelbar.
Meldeten sich hingegen Verbände der betroffenen Gruppen zu Wort – insbesondere die Interessensvertretungen von Jüd_innen und Muslim_innen in der Bundesrepublik Deutschland –, fanden sich in den Kommentarspalten von Zeitschriften rasche Reaktionen, in denen ihre Ausführungen diskreditiert wurden. Die Positionierungen wurden als parteiisch eingeordnet und kaum ernst genommen. Stattdessen stellten nicht-jüdische und nicht-muslimische Kommentator_innen Mutmaßungen an, wonach jüdische und muslimische Eltern das Wohl ihrer Kinder aufs Spiel setzen würden. In einem unerhörten Akt der Umkehrung tritt hierbei ein wesentliches Normativ westlicher Gesellschaft zutage: Nur der rational nachvollziehbare Umgang mit einem Gegenüber (z.B. Kind) könne überhaupt ein richtiger und damit ein guter sein. Dieses Deutungsmuster taugt als Positiv- wie als Negativschablone, um bereits auf den ersten Blick «richtiges» von «falschem» Handeln zu unterscheiden. Dass gerade andersherum, etwa von jüdischen und muslimischen Mediziner_innen und bei jüdischen und muslimischen Beschneidungsspezialisten, eine Expertise zu Fragen der Vorhautbeschneidung zu erwarten sei, wurde in solchen Diskussionen schlichtweg nicht für möglich gehalten.
In Folge dieses kulturellen blinden Flecks wurde die christliche und atheistische weiße (also: hegemoniale) Position gerade nicht als eine parteiische, wertende ausgestellt, sondern im Gegenteil als eben eine solche, die unbeeinflusst einen Außenblick ermögliche. Die Unsichtbarkeit des eigenen weißen Hintergrunds erregt auch deshalb kaum einen Verdacht, weil er im Zuge der Diskurse der letzten Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte zunächst hegemonial durchgesetzt und dann für universell erklärt wurde. So gerät aus dem Blick, dass die Vorstellung eines vom «profanen Leben» abgespaltenen geistigen Bereichs mit der christlichen Religion verbunden ist (vgl. Çetin/Wolter 2012: 24ff). Erst aus dieser Trennungsperspektive wird die Vorhautbeschneidung religiös unnötig. Verbunden mit einer solchen Abspaltung des Glaubens vom «profanen Leben» wurde die Anerkennung der weltlichen Ordnung gefordert, in der jeder Mensch an dem Platz sei, der ihm zukomme. Nicht nur Sklaverei und Leibeigenschaft wurden auf dieser Basis gerechtfertigt (Çetin/Wolter 2012). Mit dem Protestantismus und der aufziehenden europäischen Moderne, in der etwa Körperstrafen schließlich abgeschafft werden, verfestigt sich diese Teilung. Sie grundiert heutige Regierungsweisen (vgl. Ludwig 2012; Çetin/Wolter 2012) ebenso wie sie die abgetrennte Zuständigkeit der religiösen Instanzen für den Glauben bestimmt, wohingegen die medizinischen Instanzen für das «profane Leben», für die Leiblichkeit zuständig zeichnen.[acp footnote]An dieser Stelle zeichnet sich auch die problematische Dominanz der Medizin als ein wesentliches «Dogma» der Moderne ab – aus einer Teilung lebensweltlicher Sphären und den fortan dauernden Behauptungsversuchen von legitimer Zuständigkeit. (So wurden «medizinisch indizierte» Vorhautbeschneidungen nicht einmal in der vehement geführten «Beschneidungsdebatte» diskutiert. Für die problematische Behandlung von intergeschlechtlichen Menschen sowie für ebenfalls problematische psychiatrische Behandlungen wird die Medizin als grundsätzlich zuständige Instanz nicht in Frage gestellt.)[/acp]
Mit Blick auf den zugrundeliegenden Sinn- und damit Werthorizont wird deutlich, wie an die weiße christliche und weiße atheistische Weltsicht eine Perspektive auf Gesellschaft – auf «Körper» und «Geist» – geknüpft ist, die in Debatten vollständig unhinterfragt bleibt. Statt einer Reflexion auf das historische kulturelle Gewordensein eines solchen breit geteilten Weltzugangs erwarten weiße Menschen von Menschen, die nicht in dieser Tradition stehen und anderen Weltsichten den Vorrang geben, stete Rechtfertigung. Jessica Jacobi und Gotlinde Magiriba Lwanga halten mit Blick auf das Gros der weißen Bevölkerungsmehrheit der BRD fest: «Frauen wie Männer wissen fast nie, was das spezifisch Christliche ihrer säkularen Kultur ist, weil es als quasi-natürlicher Zustand, als Selbstverständlichkeit oder als die kulturelle Normalität schlechthin empfunden wird.» (Jacobi/Magiriba Lwanga 1990: 97) Auch die säkulare Positionierung weißer Menschen und die säkulare Kultur sind aufgespannt vor einem für selbstverständlich erachteten Hintergrund, der kaum je hinterfragt wird. Für die jüdische Religion und Kultur machen die beiden Autorinnen deutlich:
«Eine sehr verbreitete Annahme ist die, Judentum sei nichts weiter als eine Religion. Und mit Religion hat die Mehrheit derer, die sich für antirassistisch halten, nichts zu tun. Aus der Kirche kann frau ja austreten. Meist sind es auch nicht die professionalisierten Kirchenfrauen, die Jüdinnen über ihren Glauben ausfragen, sondern die weniger religiös engagierten. Christen und Nicht-mehr-Christen reden vom Glauben, wo doch sie es sind, die glauben oder eben nicht mehr glauben.
Juden ‹wissen›. Unserer Meinung nach gibt es in diesem Sinne keinen jüdischen ‹Glauben›, genausowenig wie es eine jüdische ‹Rasse› gibt. Es gibt jedoch eine jüdische Lebensweise. Es gibt jüdisches Wissen und Sensibilität, die oft auch ohne Lebensweise und ohne Wissen durch Sozialisation erworben wird. Es gibt jüdische Geschichte und jüdische Kulturen, wovon Religion ein wesentlicher Bestandteil ist.» (Jacobi/Magiriba Lwanga 1990: 97)
So ist unser Fazit unspektakulär: Wenn es gelingt, den jeweils eigenen Blick auf Menschen, auf Gesellschaft zu befragen auf die Bedingungen seines Zustandekommens, auf den blinden Fleck seiner Herkunft, erst dann entstehen die Grundlagen für Diskussionen. Denn es ist ein ernüchterndes – oder vielmehr: erschreckendes – Zeichen, wie wenig es im «demokratischen Deutschland» bisher gelungen ist, weiße Selbstverständlichkeit und Dominanz auch nur ansatzweise in den Blick zu rücken, um sie reflektieren und befragen, auf Alternativen hin untersuchen und auflösen zu können. «Auflösen» in dem Sinne, dass unterschiedliche «Selbstverständlichkeiten» einen Platz in dieser Gesellschaft erhalten, und somit die Gesellschaft tatsächlich offen gehalten wird.
Um eine bejahende Verbindung von Lebensweise und Geschichte, Kultur und Religion, von «Wissen und Sensibilität» geht es auch Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime. Für den Islam führt er unter direkter Bezugnahme zur «Beschneidungsdebatte» aus:
«Die menschliche Gesundheit hat Priorität im Islam, die Bewahrung der menschlichen Unversehrtheit ist ein ebenso göttliches Gebot. Aus diesem Grund wird das Beschneidungsritual erlaubt und gefordert. Zumal ermöglicht es dem Individuum die religiöse und soziale Vergemeinschaftung mit der entsprechenden Religionsgemeinschaft. […] Die Gegner der Beschneidung, zu denen auch leider einige deutsche Juristen und Richter gehören, verfolgen nicht selten politische Motive und versuchen mit viel Polemik und wenig Wissen erneut Juden und jetzt auch Muslime zu kriminalisieren.» (vgl. Çetin/Wolter 2012: 44)
Es ist nicht zuletzt die neue Intensität der in der «Beschneidungsdebatte» ans Licht gelangten Vorurteile gegenüber Menschen jüdischer und muslimischer Religion und Kultur, die offen (in den Kommentarspalten) und verdeckt (in einigen medizinischen/wissenschaftlichen «Argumentationen») hervortraten, die eine Auseinandersetzung mit den unreflektierten Setzungen und Motiven der Beteiligten dringlich machen. Die folgenden Fragen könnten diese Auseinandersetzung flankieren und somit (zumindest strukturell) gegebenenfalls vereinfachen: An wessen Rechte und an wessen Freiheit wird gedacht, wenn Selbstbestimmung, Unversehrtheit und Kindeswohl eingefordert werden? Vor dem Hintergrund welcher selbstverständlichen Setzungen kommen Forderungen überhaupt erst auf? Wer kann sich vor dem Hintergrund dominanter Setzungen äußern und wer ist ausgeschlossen, wird also zum «Schweigen gebracht»?
Literatur:
Bruch, Hans-Peter (2012): Religiöse Beschneidungen. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 109, Heft 31: 3. Online: http://www.aerzteblatt.de/down.asp?id=9526 (Zugriff: 7.5.2013).
Çetin, Zülfukar/Wolter, Salih Alexander (2012): Fortsetzung einer «Zivilisierungsmission»: Zur deutschen Beschneidungsdebatte. In: Çetin, Zülfukar/Voß, Heinz-Jürgen/Wolter, Salih Alexander (Hg.): Interventionen gegen die deutsche «Beschneidungsdebatte». Münster: Assemblage.
DAKJ (2012): Stellungnahme zur Beschneidung von minderjährigen Jungen – Kommission für ethische Fragen der DAKJ, Juli 2012. Online: http://dakj.de/media/stellungnahmen/ethische-fragen/2012_Stellungnahme_Beschneidung.pdf (Zugriff: 7.5.2013).
Deusel, Antje Yael (2012a): Mein Bund, den ihr bewahren sollt: Religionsgesetzliche und medizinische Aspekte der Beschneidung. Freiburg etc.: Herder.
Deusel, Antje Yael (2012b): Medizinische Aspekte der Brit Mila. In: Heil, Johannes/Kramer, Stephan J. (Hg.): Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik – zur Debatte um das Kölner Urteil. Berlin: Metropol. S. 181–190.
DGKCH (2012): Presseerklärung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) zu dem Urteil des Landgerichts Köln vom 7.5.2012. Online: http://www.dgkic.de/index.php/presse/189-pressemitteilung-juli-2012 (Zugriff: 7.5.2013).
DGPT (2012): Pressemitteilung «Religiöse Beschneidung von Jungen Stellungnahme der DGPT zur Debatte»,13.9.2012. Online: http://dgpt.de/fileadmin/download/presse/PM-Beschneidung-120913.pdf (Zugriff: 7.5.2013).
DGU (2012, Juli): DGU-Stellungnahme zum »Beschneidungsurteil« des Landgerichts Köln, 3.7.2012. Online: http://www.dgu.de/1801.html (Zugriff: 7.5.2013).
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Widmann, Peter (2012): Ein Gerichtsurteil und seine mediale Inszenierung. In: Heil, Johannes/Kramer, Stephan J. (Hg.): Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik – zur Debatte um das Kölner Urteil. Berlin: Metropol. S. 219–227.
[acp footnote display title=„Fußnoten“ /]
Zu Ihrer Fußnote 1, Als Betreiber zweier zitierter Seiten, weise ich darauf hin dass Ihre DENIC-Recherche mangelhaft ist.
Beschneidung-von-jungen.de ging 2009 online.
Das Beschneidungsforum.de ging online, als im öffentlichen Diskurs, von Leuten wie Sie, die Existenz beschädigter Männer geleugnet wurde.
„Ihre Betreiber rekrutieren sich interessanterweise nicht aus Selbstorganisationen, etwa agnostischer oder atheistischer Männer jüdischen oder muslimischen Elternhauses, sondern aus anderen Personenkreisen, mit eigenen Motiven.“
Was möchten Sie mit ihrer vermuteten zeitlichen Übereinstimmung auf derart perfide Weise insinuieren? Was ist daran „interessant“?
Muss man Jude oder Muslime sein, um einer solchen Tätigkeit nachzugehen?
Reicht es nicht aus atheistisch und agnostisch zu sein?
Reichen nicht alleine Menschenrechte als Motiv nicht aus?
Sie hätten mich zu meinen Motiven befragen können, anstatt sie zu Ihrem Weltbild passend zu machen.
Dazu plausibel Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime (ZdE) im Mai 2015:
Schluss mit der Kinderbeschneidung – auch in islamisch geprägten Ländern
„In meiner Erinnerung ist ein Bild, es ist mehr als 50 Jahre her. Ein
kleiner Mann kommt zu uns, schmutzig und selbstbewusst. In der Hand
eine Tüte mit einer Rasierklinge. Einige Erwachsene laufen hin und her,
die Stimmung ist sehr feierlich. Von dem Zimmer, in dem mein Bruder
jetzt ist, werden wir anderen Kinder ferngehalten, plötzlich schreit er
auf und dann ist wieder Stille. […]
So war unser Leben in dem kleinen Dorf irgendwo in Norden des Iran […] und daran wird sich weltweit nichts ändern, wenn wir weiter schweigen und nichts tun. […]
Seit dem 70. Deutschen Juristentag Hannover 2014 droht auch in Europa
eine Straffreistellung der sogenannten milden Sunna (FGM Typ Ia, Ib,
Typ IV). In ihrem Rechtsgutachten empfahl Professorin Dr. Tatjana Hörnle
(Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und
Rechtsvergleichung) den deutschen Juristen und dem Gesetzgeber, die
weibliche Genitalverstümmelung Typ eins und Typ vier straffrei zu
stellen und den § 226a StGB geschlechtsneutral zu formulieren (12).
Karl-Peter Ringel und Kathrin Meyer wollen ebenfalls die islamische
FGM legalisieren, gehen aber einen anderen Weg. Sie fordern, den § 1631d
BGB so umzuformulieren, dass er künftig für Jungen wie für Mädchen
Gültigkeit hat (13). Die milde Sunna ist jedoch ein medizinisch nicht
erforderlicher und deshalb zu verbietender Eingriff.“
( Quelle: ZdE )
„Referent/innen und Teilnehmer/innen aus Deutschland, Österreich, der
Schweiz, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Finnland, der Türkei,
USA, Kanada und dem Iran tauschten sich am 08. und 09. Mai im Haus der
Jugend in Frankfurt am Main intensiv zum Thema „Genital Autonomy: Myths
and Multiple Standards“ aus. Dabei wurde das grundsätzliche Verständnis
deutlich, dass Ethik universell ist […]
Unumstrittener Höhepunkt der Konferenz war jedoch der Vortrag von
Mina Ahadi (Zentralrat der Ex-Muslime), die für ihr engagiertes
Auftreten für die genitale Unversehrtheit von Mädchen und Jungen im
muslimisch geprägten Kulturkreis und ihre mutige Arbeit im Allgemeinen
mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.“
( Quelle: hpd )