Seit den späten 1980er Jahren und vor allem verknüpft mit der Gründung der islamisch argumentierenden Organisation Hamas im Kontext der ersten Intifada, dem palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzung, hat sich der politische Islam in den Palästinensischen Gebieten etabliert. Obwohl die palästinensische Gesellschaft ohnehin stark von patriarchal-religiösen Strukturen und Traditionen geprägt ist, haben sich religiöse Bezugnahme und Argumentation seitdem als zentrale Charakteristika von Politik und Gesellschaft konsolidieren können, und die Tendenz ist steigend. Besonders autoritär zeigt sich der politische Islam im Gazastreifen, der seit 2007 von der Hamas regiert wird. Israel reagierte auf die Regierungsübernahme der Hamas mit einer Blockadepolitik, die bis heute anhält und die jegliche Bewegung von Menschen und Waren nach Gaza hinein und von dort hinaus einem komplexen Restriktionsregime unterwirft. Die Abriegelung des Gazastreifens, seit dem Jahr 2013 auch von ägyptischer Seite, hat katastrophale Folgen für das Leben der Menschen vor Ort: ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit und Armut, ein eingeschränkter Zugang zu Trinkwasser und Strom, große Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung angesichts fehlender Lebens- und Entwicklungsoptionen sowie der andauernden Bedrohung durch militärische Auseinandersetzungen. Die Bevölkerung des Gazastreifens befindet sich nicht nur in einem permanenten humanitären Ausnahmezustand, sie ist darüberhinaus auch der Politik der Hamas förmlich ausgeliefert.
Bei den Wahlen im Jahr 2006 noch als Alternative zu der als wenig erfolgreich und zudem korrupt wahrgenommen Partei Fatah gefeiert, ist die Sicht auf Hamas mittlerweile deutlich kritischer geworden. Dass sie Meinungsumfragen zufolge immer noch vergleichsweise hohe Popularität genießt, lässt sich mit der Marginalisierung des Gazastreifens durch die palästinensische Regierung in Ramallah, mit der federführenden Rolle der Hamas im militanten Widerstand gegen Israel und schlichtweg mit einem Mangel an erfolgversprechenden Alternativen erklären.
Gerade mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse hat die Hamas-Politik gravierende Folgen, so ist es heute in vielen Teilen des Gazastreifens Frauen nicht mehr möglich, ohne Kopfbedeckung das Haus zu verlassen und viele Frauen folgen mittlerweile dem islamischen Dress-Code, um sich weiter im öffentlichen Raum bewegen zu können. Religionslehrerinnen schreiben Mädchen und Frauen vor, wie sie sich richtig zu kleiden und zu verhalten haben, wie sie eine gute Ehefrau und Mutter werden und ein gottgefälliges Leben führen, Einschüchterungen und Bedrohungen sind dabei an der Tagesordnung.
Allerdings wäre es verkürzt, die zunehmende Stärke und Sichtbarkeit patriarchal-religiöser Strukturen und Diskurse allein auf das Wirken der Hamas zurückzuführen, auch andere, in der Vergangenheit (mehr oder weniger) säkular argumentierende Akteure – allen voran Fatah – bemühen seit Jahren den Faktor Religion im Wettstreit um politische Legitimation, Macht und Anhängerschaft. Auch im Westjordanland schießen Moscheen aus dem Boden, sind die Straßen zur Zeit des Freitagsgebets wie leergefegt. Selbst in Ramallah, der liberalsten Stadt in den Palästinensischen Gebieten, prägt die Religion mittlerweile das Alltagsleben, den Kleidungsstil vieler Menschen, die Lehrpläne und Debatten an Schulen und Universitäten. Im Fastenmonat Ramadan, einer der rituell wichtigsten Zeiten im Islam, erinnern Aufrufe an die Regeln eines gottgetreuen Lebens und werden jene, die sich nicht an die religiösen Kodierungen halten, beleidigt und ausgegrenzt.
Nicht nur, aber besonders in Zeiten politisch-militärischer Eskalation, wie beispielsweise während des Gaza-Kriegs 2014, werden Allianzen zwischen religiösen und linken Parteien sichtbar, die mehr als rein taktischer Natur sind. So lassen sich beispielsweise immer wieder Schulterschlüsse zwischen der marxistisch orientierten Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und Hamas beobachten, begründet durch ihre gemeinsame Ablehnung der Oslo-Abkommen sowie des «Systems Oslo», ihre Unterstützung des militanten Widerstandes und ihre Fundamentalopposition zur herrschenden Fatah. Insbesondere die PFLP verzeichnet zudem eine starke Traditionalisierung ihres Umfeldes, bei dem sich revolutionärer Sprech mit konservativen Identitätspolitiken wie die Rückbesinnung auf das palästinensisch-arabische Erbe und auf die Mehrheits-Religion mischen.
Auch die Besatzungsmacht beteiligt sich an dem patriarchalen Schulterschluss mit den traditionellen palästinensischen Eliten aus dem Umfeld von Regierung, Administration und religiösem Establishment. Mit der Lockerung der Einreisemodalitäten nach Israel während des Fastenmonats Ramadan beispielsweise stärkt die Besatzungsmacht nicht nur entsprechende Akteure auf palästinensischer Seite; angesichts des umfassenden Systems von Kontrolle und Restriktion der Bewegungsfreiheit, die es dem Großteil der palästinensischen Bevölkerung seit Jahren unmöglich macht, innerhalb der Palästinensischen Gebiete, nach Israel oder ins Ausland zu reisen – und wenn dann nur im Rahmen eines komplexen Antragsverfahrens –, bemühen solche Politiken vor allem das Bild eines religiösen Konfliktes, der angeblich schlicht dadurch entspannt werden kann, dass Menschen die Möglichkeit gegeben wird, zum Beten nach Jerusalem zu fahren. Die vergleichsweise lockere Handhabung im Umgang mit religiösen Traditionen ist bekannter Ausdruck einer komplexen Verzahnung von Unterdrückung und Dienstbarmachung im Kontext kolonialer Politiken, die dazu beiträgt, traditionelle Strukturen und Akteure zu stärken.
Die Gründe für die zunehmende Stärke und Bedeutung von Religion in Palästina, sei es im individuellen Leben oder als politisches Projekt, sind vielfältig. Neben dem regionalen Trend der Inanspruchnahme von Religion als zentralem Charakteristikum kollektiver arabischer Identität, ist es im palästinensischen Kontext vor allem das Scheitern des säkular argumentierenden palästinensischen Nationalismus und darin insbesondere des linken Projekts, das ein großes Vakuum und viel Platz für Alternativen hinterlassen hat. Mit dem Scheitern aller bisherigen Widerstandskonzepte im Kampf gegen die Besatzung Palästinas, vom militanten zum gewaltfreien Widerstand sowie jahrzehntelanger Verhandlungsprozesse, mit der Zementierung von Besatzung und Blockade des Westjordanlandes und des Gazastreifens sowie mit der weitreichenden geographischen, politischen und sozio-ökonomischen Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft ist der Rückgriff auf Religion zur vermeintlich oder tatsächlich letzten Hoffnung geworden. Dies gilt umso mehr, wenn diese mit dem militanten Ansatz der Hamas verknüpft wird, der in der palästinensischen Gesellschaft mehrheitlich nicht nur als legitim, sondern auch als vergleichsweise erfolgreich bewertet wird, und zwar quer durch alle gesellschaftlichen und politischen Strömungen.
Im zermürbenden und unproduktiven Wettstreit zwischen Fatah und Hamas gibt es den Raum und vor allem die dringliche Notwendigkeit für eine progressive Alternative, die sich neben dem Befreiungskampf auch für die Gestaltung einer säkularen sowie sozial und ökonomisch gerechten Gesellschaft starkmacht. Die palästinensische Gesellschaft hat eine reiche Erfahrung mit Formen demokratischer, progressiver und auch säkular argumentierender Selbstorganisation, die vor allem im Rahmen der ersten Intifada große Wirkung und Bekanntheit erzielen konnte. Neben Formen des Widerstands gegen die Besatzung war es vor allem die kritische Auseinandersetzung mit den patriarchalen Geschlechterverhältnissen, die diese Zeit geprägt haben. Auch wenn es wenig hilfreich ist, diese Phase der palästinensischen Geschichte nostalgisch zu überhöhen, lassen sich dort doch wertvolle Anknüpfungspunkte finden, die aufgegriffen und für die jetzigen gesellschaftlichen und politischen Bedürfnisse nutzbar gemacht werden können.
Noch gibt es progressive Nischen im Umfeld feministischer Organisationen, kultureller Zentren, Jugendorganisationen und Basisinitiativen, die sich gegen den Trend einer zunehmenden Islamisierung und Traditionalisierung stellen und alternative Räume gestalten. Linke politische Parteien haben es dagegen bislang nicht geschafft, sich als politische Kraft zu reetablieren und bieten insbesondere der jungen Generation keine Alternative. Ein neues linkes Projekt in Palästina müsste damit anfangen, die unterschiedlichen noch bestehenden progressiven Strömungen, Gruppen und Einzelpersonen zu vernetzen, Orte für Diskussion und Auseinandersetzung, für gemeinsames Lernens und Handeln zu kreieren, und alternative Räume zu sichern.
Dr. Katja Hermann ist Leiterin des Regionalbüros Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.