Ein Interview mit dem libanesischen Wissenschaftler Karim Sadek über den Islam, die Demokratie und den tunesischen Denker und Mitbegründer der islamischen Partei Ennahda, Rachid al-Ghannouchi.
Einer der Hauptkritikpunkte am Islam ist die Behauptung, Islam und Demokratie seien nicht miteinander vereinbar. Wie stehen Sie hierzu?
Erlauben Sie mir zunächst folgende Bemerkung: Selbst wenn wir der Diskussion zuliebe annähmen, dass diese Behauptung zutrifft, sollten wir uns fragen, warum es denn eine Kritik am Islam darstellen würde, wenn sich dieser als inkompatibel mit der Demokratie erweist?
Es ist wichtig, dies nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, insbesondere wenn wir an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit denen interessiert sind, die uns kritisieren. Darüber hinaus sind die Begriffe dieser Frage unklar. Sprechen wir beispielsweise über Islam und Demokratie auf gesellschaftlicher Ebene, auf individueller Ebene oder auf staatlicher Ebene? Befassen wir uns für einen Moment mit der staatlichen Ebene. Für einen sinnvollen Ansatz hinsichtlich der Frage, ob Islam und Demokratie auf staatlicher Ebene miteinander vereinbar sind oder nicht, müssen wir zwei wenig hilfreiche, wenn nicht sogar sinnentleerte Extreme außen vor lassen. Wenn wir beispielsweise Demokratie oberflächlich nur im Sinne demokratischer Wahlen verstehen, dann ist die Vorstellung eines demokratischen islamischen Staates leicht aufrechtzuerhalten. Wenn wir hingegen Demokratie umfassender als kraftvollen lebendigen offenen und freien demokratischen öffentlichen Raum verstehen, könnten wir uns immer noch leicht einen schwächer ausgestalteten islamischen Staat vorstellen, der ebenfalls demokratisch ist. Je nachdem von welcher Ebene wir sprechen und je nachdem wie wir die Begriffe auslegen, werden wir zu unterschiedlichen Antworten kommen und die Aussagekraft unserer Antworten wird sich deutlich unterscheiden.
In meiner eigenen Forschung befasse ich mich mit den Arbeiten von Rachid al-Ghannouchi, als Vertreter eines Trends des islamischen Erweckungsgedankens und der Erweckungsbewegung, und trete für ein dem Wesen nach islamisches und gleichzeitig radikal-demokratisches Politikverständnis ein. Mit radikal-demokratisch beziehe ich mich auf Demokratieverständnisse, die sich auf die demokratische Willensbildung der Öffentlichkeit konzentrieren, anstatt auf Wahlen und verfassungsrechtlichen Rechtsschutz (ohne diese jedoch außer Acht zu lassen). Also ja, meiner Meinung nach sind Islam und Demokratie miteinander vereinbar.
Warum begannen Sie sich mit den Arbeiten Rached al-Ghannouchis zu beschäftigen? Und was interessiert Sie an seinem Werk?
Während ich in Philosophie an der Georgetown University promovierte, kam ich erstmals mit der kritischen Sozialtheorie von Axel Honneth in Kontakt, die auf Anerkennung basiert. Diese schien mir potentiell hilfreich, um das Aufkommen der islamischen Bewegungen im Sinne des Kampfs um Anerkennung zu erklären. Dies wiederum führte mich zur näheren Beschäftigung mit den islamischen Bewegungen, sodass ich an einem Kurs zu islamischem Denken des Fachbereichs für Arabische Studien teilnahm. Damals las ich zum ersten Mal Ghannouchi.
Was mich an Ghannouchis Texten am meisten interessierte, war dessen kritische Haltung. Ghannouchi lehnt westliche Modelle der Demokratie und/oder Moderne weder ab, noch übernimmt er sie vorbehaltlos. Im Grunde genommen lehnt Ghannouchi die blinde Übernahme einer säkularen westlichen Sicht und ihrer zentralen Annahme ab, sie könne die Kriterien setzen, anhand derer sich bestimmen lässt, ob und wenn ja wie der Islam demokratisch und/oder modern sein kann. Diese Einstellung unterstütze ich voll und ganz. Des Weiteren, und dies ist entscheidend, betrachtet Ghannouchi, wiederum differenziert, auch die islamischen Erweckungsbewegungen kritisch. Während er die verschiedenen Errungenschaften dieser Bewegungen anerkennt, sieht er ihre Fähigkeit, die alltägliche Realität der Muslime als Mitglieder einer Gesellschaft zu verstehen und an diese anzuknüpfen, kritisch. Beispielsweise führt er das Scheitern der islamischen Bewegung (in Tunesien), die Arbeiterklasse und die Frauen anzusprechen auf ihre Unfähigkeit zurück, an die Schwierigkeiten dieser Gruppen hinsichtlich ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten anzuknüpfen. Wir können mit Ghannouchis Position und Argumenten übereinstimmen oder nicht, aber ich finde seine kritische Haltung sehr gesund und seine Aufmerksamkeit und sein Einfühlungsvermögen gegenüber der alltäglichen Realität der Gesellschaft extrem wichtig.
Das Ergebnis dieser gesunden kritischen Haltung ist, dass der Ausweg für die muslimischen Gesellschaften weder über eine pauschale Ablehnung westlicher Vorstellungen, Ideale und Errungenschaften führt, noch über die dogmatische Umsetzung einer überholten Auffassung islamischer Grundsätze und Werte. Dies verspricht meiner Meinung nach die Möglichkeit, sowohl die Sorge vieler Muslime aufzugreifen, die islamische Identität könnte in einer modernen Welt nicht überleben, und gleichzeitig der Sorge Rechnung zu tragen, die viele andere Muslime und Nicht-Muslime hinsichtlich des mutmaßlich undemokratischen und exklusiven Charakters des Islams haben.
Wie vereinbart Ghannouchi Ihrer Meinung nach die Vorstellung, der Staat sollte einerseits einen islamischen Charakter haben, anderseits aber allen BürgerInnen, also auch sekulären, andersgläubigen, ethnischen und sexuellen Minderheiten die gleichen Rechte und Freiheiten garantieren?
Ghannouchi tritt für gleiche Rechte und Freiheiten auf Grundlage des Islams ein. Aus der Perspektive des von ihm befürworteten theoretischen Modell eines islamischen Staates sollen alle BürgerInnen gerade wegen und nicht trotz des islamischen Charakters des Staates gleiche Rechte und Freiheiten genießen.
Ghannouchi sagt deutlich, dass allen Personen das Recht zusteht, ihre Religion ohne Druck oder Zwang zu wählen. Diese Freiheit ist die Folge der gottgegebenen Verantwortung und Handlungsfähigkeit des Menschen. In seiner Beschreibung der Auswirkungen der Religionsfreiheit beispielsweise argumentiert Ghannouchi, dass allen Menschen die Freiheit zusteht, ihre Religion oder ihre Überzeugungen allgemeiner auszuüben, auszudrücken und zu verteidigen, auch die der AtheistInnen. Die Idee dieser Inklusion ist es, den Respekt widerzuspiegeln, den der Islam allen Menschen entgegenbringt, die für ihn gleiche und freie AkteurInnen sind und zwar unabhängig ihrer Religion, Hautfarbe, ethnischen Herkunft etc. Dementsprechend muss der Staat, in seinem theoretischen Modell, diese Offenheit und Vielfalt respektieren und schützen. Alle BürgerInnen sind in den Augen des Staates gleich, unabhängig davon, ob sie Muslime sind oder nicht.
Ghannouchi stellt ebenfalls klar, dass Gleichbehandlung nicht notwendigerweise auch undifferenzierte Behandlung bedeutet. Manchmal müssen BürgerInnen unterschiedlich behandelt werden, um Gleichbehandlung zu gewährleisten. Aus Ghannouchis Sicht ist eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt, wenn sie sich aus Glaubensgründen ergibt. Beispielsweise hält er ein Alkoholverbot für Nicht-Muslime für ungerecht und ebenso unfair, wie den Muslimen die Scheidung zu verbieten. Ghannouchis Bemühungen um Bürgerbeteiligung in seinem theoretischen Modell eines islamischen Staates werden ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Implikationen ansehen, die eine Anerkennung der Glaubensüberzeugungen eines Menschen mit sich bringt. Ghannouchi ist der Auffassung, dass den Glauben der Anderen zu akzeptieren auch bedeutet, deren Rechte auf Schutz und Benennung der Vor- und Nachteile der eigenen Religion gegenüber anderen anzuerkennen. Aus diesem Grund gestattet er den nicht-muslimischen BürgerInnen auch, vor muslimischen zu predigen und zu versuchen, sie vom Übertritt in die eigene Religionsgemeinschaft zu überzeugen. BürgerInnen aller Glaubensrichtungen sind eingeladen, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen, ihre eigenen Sichtweisen zu verteidigen, die anderer zu kritisieren etc. Ghannouchis Modell erkennt die unterschiedlichen Gruppen an, indem er ihnen die Möglichkeit garantiert, ihre Identität öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Sollte diese Öffnung der öffentlichen Debatte zur Untergrabung des muslimischen Glaubens führen, muss sich die muslimische Bevölkerung, so Ghannouchi, eben in ihrer Religion auf die Suche nach stärkeren und überzeugenderen Argumenten begeben. Nichtübereinstimmung mit Anderen stellt keine Bedrohung dar, sondern eine Chance zu wachsen. Dies ist für uns alle, die wir in einer pluralistischen Welt leben, eine wichtige Schlussfolgerung.
Wenn es in Ghannouchis Werk Ihrer Meinung nach konzeptionelle Herausforderungen gäbe, wie könnten diese überwunden werden?
Wie in allen anderen Werken sieht sich auch die Arbeit Ghannouchis mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Ich werde eine solche Herausforderung kurz umreißen, indem ich auf meine Antwort auf die vorherige Frage aufbaue. Wie ich gerade erläutert habe, kommen dem theoretischen Werk Ghannouchis zufolge alle BürgerInnen in den Genuss gleicher Rechte und Freiheiten. Ich habe bereits in einem anderen Zusammenhang argumentiert, dass aus der Sicht der staatlichen Perspektive (beispielsweise wie der Staat seine BürgerInnen wahrnimmt und mit ihnen in Beziehung tritt) Ghannouchis Modell erfolgreich gleiche Rechte und Freiheiten für alle BürgerInnen garantiert. Die Dinge liegen allerdings komplizierter, wenn wir in die Perspektive der BürgerInnen wechseln (beispielsweise wie sie den Staat, seine Grundlagen und seine Gesetze wahrnehmen). Zu diesem Zweck betrachten wir einmal die Voraussetzung, dass nicht-muslimische BürgerInnen dem islamischen Staat gegenüber zu Loyalität verpflichtet sind, indem sie beispielsweise den islamischen Charakter des Staates anerkennen und sich diesem verpflichten. Doch was genau bedeutet und beinhaltet eine solche Anerkennung und Verpflichtung? Die Herausforderung besteht hierbei darin, den „islamischen Charakter des Staates“ so zu definieren, dass er tatsächlich islamisch ist, ohne hiermit die Gleichheit der nicht-muslimischen Bevölkerung zu beschneiden, wenn sie diesem Staat Gefolgschaft leistet. Ich habe dargelegt, dass einer der Wege mit dieser Herausforderung umzugehen, die Suche nach einem übergreifenden Konsens (um den Begriff von John Rawl aufzugreifen) hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen für Maslaha ist – das Gemeingut oder Gemeinwohl, ein Konzept der traditionellen islamischen Rechtslehre. (Diesen Aspekt erläutere ich ausführlich in „Maṣlaḥa and Rāchid al-Ghannūshī’s Reformist Project“, in: Maqasid Al-Shari’a and Contemporary Muslim Reformist Thought: An Examination, Adis Duderija (Hg.), Palgrave 2014.)
Eine weitere Herausforderung, mit der sich Ghannouchi konfrontiert sieht, ist die gleichzeitige Verpflichtung zu Pluralismus und islamischer Einigkeit bzw. gesellschaftlicher Solidarität innerhalb eines islamischen Staates, die aus einer islamischen Gesellschaft heraus entsteht. Die Herausforderung hier besteht darin, dass Pluralismus zur Inklusion neigt, während Solidarität eher zu Exklusion tendiert. Wichtig hierbei ist die Feststellung, dass dieses Problem nicht nur für das politische Denken Ghannouchis besteht. Solidarität ist für alle Gesellschaften von Bedeutung und Pluralismus ist ein Merkmal moderner Gesellschaften. Jede politische Verfassung einer modernen Gesellschaft sieht sich daher mit dieser Herausforderung konfrontiert. Vor diesem Hintergrund ist Ghannouchis eigene Reaktion hierauf interessant und vielversprechend. Seiner Ansicht nach muss im Islam Einigkeit durch Pluralismus erzielt werden. Leider hat Ghannouchi diesen Gedanken nicht ausreichend weiterentwickelt. Wir können diese Aufgabe für ihn übernehmen, und das tue ich in meinen eigenen Arbeiten auch.
Dr. Karim Sadek schloss seine Promotion in Philosophie mit einer Dissertationsschrift zu islamischer Demokratie ab. Seither hat er als Post-Doctoral Fellow der Mellon-Stiftung in Kunst und Sozialwissenschaften der American University of Beirut (AUB) sowie als Research Fellow am Oxford Center of Islamic Studies gearbeitet und Philosophie an der AUB sowie der Boğaziçi University in Istanbul unterrichtet. Bis Juli 2015 war er als Stipendiat im Forschungsprogramm Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa am Forum Transregionale Studien in Berlin.
Tanja Tabbara leitet das Referat Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.