«Das Problem heißt Rassismus»

Gespräch über die Lebens­si­tua­ti­on von Migran­ten in der BRD, staat­li­chen Ras­sis­mus und Ver­säum­nis­se lin­ker Poli­tik mit Koray Yıl­maz-Gün­ay, Refe­rent für Migra­ti­on bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung

 

Sie enga­gie­ren sich seit Jah­ren nicht nur beruf­lich für Migran­ten. Wie ist es aktu­ell um deren Rech­te in der Bun­des­re­pu­blik bestellt?

Ich wünsch­te, die Fra­ge wäre ein­fach zu beant­wor­ten. Wir könn­ten das Zuwan­de­rungs­ge­setz auf­schla­gen und noch ein paar Grund­la­gen­tex­te und wüss­ten, wie es um Teil­ha­be und Gleich­be­hand­lung bestellt ist. Lei­der ist die Situa­ti­on anders. Jede Bun­des­re­gie­rung legt ein Tole­ranz­pro­gramm auf. Für man­che Grup­pen wird hier und da eini­ges ver­bes­sert, ande­res ver­schlech­tert sich. Es gibt ja kei­ne ein­heit­li­che Grup­pe «der Migranten».

Die Situa­ti­on von ser­bi­schen oder maze­do­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen ist anders als die von bul­ga­ri­schen und rumä­ni­schen. Die EU-Mit­glied­schaft garan­tiert aber auch für sie nicht die­sel­ben Rech­te wie für Staats­an­ge­hö­ri­ge Schwe­dens oder Polens. Die Her­kunft von Men­schen, die hier­her geflüch­tet sind, ent­schei­det ganz wesent­lich dar­über, wie will­kom­men sie sind. Den­ken Sie nur an die Debat­ten zur Auf­nah­me christ­li­cher Flücht­lin­ge aus dem Nahen Osten im Gegen­satz zur Debat­te zur Abschie­bung von Roma in den west­li­chen Bal­kan, die per­fi­der Wei­se gleich am Tag nach der Eröff­nung des Denk­mals für die vom Nazi­re­gime ermor­de­ten Sin­ti und Roma Euro­pas von Bun­des­in­nen­mi­nis­ter ange­kün­digt wur­den. Aus Frank­reich wur­den Roma ja sogar voll­kom­men rechts­wid­rig als EU-Bür­ge­rin­nen und ‑Bür­ger abgeschoben.

Gera­de, wenn es um Flucht und Asyl geht, sto­ßen wir an die Gren­zen von «Rech­ten in der BRD». Ich glau­be, dass die Debat­te hier ver­gleichs­wei­se ruhig ver­läuft, weil die meis­ten Men­schen, die den zum Teil lebens­ge­fähr­li­chen Flucht­weg über­haupt über­le­ben, in Zypern, Grie­chen­land, Ita­li­en oder Spa­ni­en lan­den und wegen der EU-Über­ein­kunft Dub­lin II auch dort blei­ben müs­sen. Die BRD pro­fi­tiert auch in die­sem Zusam­men­hang von ihrer wirt­schaft­li­chen Stär­ke, sie kann es sich leis­ten zu sagen, wen sie hier haben will und wen nicht. Das Land ist umge­ben von lau­ter «siche­ren Dritt­staa­ten», ein Begriff, der Anfang der 1990er ent­stan­den ist. Wie auch alle ande­ren Instru­men­te der Flücht­lings­ab­wehr also zu Zei­ten, als das Land selbst noch EU-Außen­gren­zen hat­te. Die BRD wird aber auch heu­te alles tun, um selbst einen ande­ren Ver­tei­lungs­schlüs­sel inner­halb der EU zu verhindern.

Und dann gibt es per­fi­de Rege­lun­gen, die selbst unter deut­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen Hier­ar­chien nach Her­kunft eta­blie­ren. Die 2007er Novel­le des Zuwan­de­rungs­ge­set­zes hat bei­spiels­wei­se den Nach­zug von Ehe- und Lebens­part­ne­rin­nen und ‑part­nern aus Nicht-EU-Län­dern neu gere­gelt. Dem­nach muss der aus­län­di­sche Teil bereits im Her­kunfts­land Deutsch ler­nen. Die Rege­lung gilt nicht für Staa­ten, deren Ange­hö­ri­ge visums­frei ein­rei­sen, also etwa Japan, Aus­tra­li­en oder die USA. Wer indes jeman­den aus der Tür­kei, einem ara­bi­schen, afri­ka­ni­schen oder den meis­ten asia­ti­schen Län­dern hei­ra­ten möch­te, fin­det sich trotz deut­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit benach­tei­ligt. Dies wird in den weit­aus meis­ten Fäl­len Ein­ge­bür­ger­te betreffen.

Also wird nach wie vor nicht akzep­tiert, dass die Bun­des­re­pu­blik ein Ein­wan­de­rungs­land ist?

Dem Selbst­ver­ständ­nis nach ist sie das ohne­hin nie gewe­sen. Die­ses Unwort von der Zuwan­de­rung ist ja das Maxi­mum, was seit 2005 geht. Zuwan­dern heißt: am Rand dazu­kom­men. Zu etwas, das eigent­lich schon kom­plett ist. Ein­wan­de­rung wür­de in die Mit­te gehen. Die­ser fei­ne Unter­schied zieht sich durch, egal wohin Sie gucken: Wer der gän­gi­gen Vor­stel­lung von Deutsch­sein nicht ent­spricht, kriegt mal einen Zeit­ver­trag oder soll sich ehren­amt­lich ein­brin­gen. Die gut bezahl­ten, unbe­fris­te­ten Stel­len sind auf lan­ge Sicht für ande­re vor­ge­se­hen. Oder: Wäh­rend alle OECD-Bil­dungs­stu­di­en den sys­te­ma­ti­schen Aus­schluss von Kin­dern aus armen Fami­li­en und aus Fami­li­en mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund bele­gen, wird die Ver­ant­wor­tung für Bil­dungs­be­nach­tei­li­gung fein den Benach­tei­lig­ten selbst in die Schu­he gescho­ben: Die Eltern för­der­ten die Kin­der nicht genug, sie soll­ten Deutsch ler­nen etc. Ich sage das nicht gern, aber es ent­spricht der Rea­li­tät: Die soge­nann­te freie Wirt­schaft ist in vie­len Punk­ten wesent­lich wei­ter als alles, was Staat und Poli­tik sagen und tun, natür­lich auch, weil der neo­li­be­ra­le Kapi­ta­lis­mus sehr schnell ist im Ein­ver­lei­ben einer Iden­ti­täts­po­li­tik, die ohne sozia­le Gerech­tig­keit funktioniert.

Und eins möch­te ich unter­strei­chen: Es geht hier nicht dar­um, was die soge­nann­ten Migran­tin­nen und Migran­ten machen oder unter­las­sen. Wenn jemand an der Dis­ko­tür abge­wie­sen wird, eine Woh­nung nicht bekommt oder ver­dachts­un­ab­hän­gig von der Poli­zei kon­trol­liert wird, ist das Ent­schei­den­de nicht eine omi­nö­se Migra­ti­ons­ge­schich­te oder die Staats­an­ge­hö­rig­keit. Die sind Men­schen nicht anzu­se­hen. Es ist ein ras­sis­ti­scher Blick, der da wirkt. Die Prä­senz jüdi­scher Gemein­den geht belegt zwei­tau­send Jah­re zurück, neh­men Sie deut­sche Sin­ti und Roma oder Schwar­ze Deut­sche: Nach Jahr­hun­der­ten sol­len sie immer noch «nicht­deut­scher Her­kunft» sein? Der Begriff des Deutsch­seins ist immer noch weiß, immer noch christ­lich. Bestimm­te Namen gehö­ren dazu, ein bestimm­tes Aus­se­hen, man­che Akzen­te etc. Alles ande­re soll «fremd» sein und blei­ben. Das ist doch der Wahnsinn.

Da kolo­ni­sie­ren euro­päi­sche Staa­ten den größ­ten Teil der Erde und rui­nie­ren neben all dem Mord, der Skla­ve­rei und der Aus­beu­tung von Res­sour­cen gan­ze Kon­ti­nen­te, kar­to­gra­phie­ren und archi­vie­ren, bau­en Muse­en und errich­ten Insti­tu­te an Uni­ver­si­tä­ten – und erzäh­len heu­te immer noch, dass die­se und jene «fremd» sei­en. So bekannt wie das meis­te «Frem­de» ist wenig ande­res. Die­ser Mythos von der «Zivi­li­sa­ti­on», der «Bür­de des wei­ßen Man­nes», ist heu­te noch so ver­brei­tet wie in der Ver­gan­gen­heit, die nicht so gern im Schul­un­ter­richt behan­delt wird. Nur dass die Nach­kom­men der Kolo­ni­sier­ten inzwi­schen auch im eige­nen Land leben. Nur in die­sem Zusam­men­hang sind Begrif­fe wie Par­al­lel­ge­sell­schaft wirk­lich verstehbar.

Aber der Kolo­nia­lis­mus, die Ent­ste­hungs­ge­schich­te die­ser zutiefst häss­li­chen Vor­stel­lung von der eige­nen Nor­ma­li­tät und der kol­lek­ti­ven Zurück­ge­blie­ben­heit ande­rer, wird hier­zu­lan­de nicht gern bespro­chen. Dabei ist er in Prak­ti­ken wie dem «Racial Pro­fil­ing», in Geset­zen wie dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, dem Reden von «Aus­län­der­feind­lich­keit» oder dem Den­ken in natio­nal­staat­li­chen Gren­zen all­ge­gen­wär­tig. Das Pro­blem ist ein­deu­tig benenn­bar. Es heißt Rassismus.

Wobei die eta­blier­te Poli­tik Ras­sis­mus ein­zig bei neo­fa­schis­ti­schen Par­tei­en und Grup­pen oder bei soge­nann­ten Rechts­po­pu­lis­ten verortet…

Ich glau­be, es hat kei­nen Sinn, die­se Din­ge getrennt von­ein­an­der zu dis­ku­tie­ren. Es gibt nicht die Neo­na­zis und dann, irgend­wo anders, den Rechts­po­pu­lis­mus Heinz Busch­kow­skys oder von Par­tei­en wie «Pro Deutschland».

Der Ras­sis­mus der einen steht mit dem Ras­sis­mus der ande­ren in Ver­bin­dung. Ich den­ke in die­sen Tagen oft zurück an den soge­nann­ten Asyl­kom­pro­miss. Ist es nicht legi­tim zu sagen, dass vor ziem­lich genau 20 Jah­ren eine ganz brei­te Front von durch­schnitt­li­cher Bevöl­ke­rung, Neo­na­zis und Poli­tik ein­an­der in die Hän­de gespielt haben? Die Pogro­me mit Würst­chen­stand wur­den mit der fak­ti­schen Abschaf­fung des Grund­rechts auf Asyl belohnt.

Sym­bo­lisch gelingt es immer wie­der, die sagen­um­wo­be­ne Men­schen­wür­de aus Arti­kel eins des Grund­ge­set­zes hin­über­zu­lü­gen, aber seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei­den Deutsch­län­der sind de fac­to rie­si­ge Rück­schrit­te zu ver­zeich­nen, hüben wie drü­ben. Vie­les wird heu­te als gege­ben hin­ge­nom­men, was in mei­ner Lebens­span­ne zwar nicht gut, aber wesent­lich bes­ser gere­gelt war. Die Ein­füh­rung der Ras­ter­fahn­dun­gen an Uni­ver­si­tä­ten, neu­er­dings die Zusam­men­ar­beit von Poli­zei­be­hör­den und Inlands­ge­heim­diens­ten zur soge­nann­ten Ter­ror­ab­wehr, das Chip­kar­ten­sys­tem für Asyl­su­chen­de – all das ist für mich immer noch schwer zu schlucken.

Die­se Neu­jus­tie­rungs­pro­zes­se sind beson­ders schmerz­haft, wenn sie gesell­schaft­lich breit getra­gen wer­den. Den Asyl­rechts­ar­ti­kel haben ja nicht Neo­na­zis de fac­to abge­schafft, son­dern eine ganz gro­ße «demo­kra­ti­sche» Koali­ti­on auf der Stra­ße und im Par­la­ment. Bis in kon­kre­te For­mu­lie­run­gen bau­te er auf Argu­men­ten von Neo­na­zis auf, aber er war ein Kom­pro­miss der Mit­te. Wie vie­le maß­geb­li­che Leu­te sind denn des­we­gen aus der SPD aus­ge­tre­ten? 521 zu 132 Stim­men im Bun­des­tag, das kommt nicht so oft vor.

Sehen Sie, ein Thi­lo Sar­ra­zin, der von jüdi­schen Genen schwa­dro­niert und von über­ver­hält­nis­mä­ßig hoher Intel­li­genz, der gegen Mus­li­me hetzt und gegen Frau­en aus der Unter­schicht, ver­steht sehr wohl, wie Ras­sis­mus in einer Klas­sen­ge­sell­schaft funk­tio­niert. Es ist durch­aus funk­tio­nal für so einen, sich die­ser Ver­schrän­kun­gen zu bedienen.

Es ist ver­hee­rend, dass eine blei­ben­de Kri­tik meist nur von den «Betrof­fe­nen» for­mu­liert wird. Eine der Aus­weg­lo­sig­kei­ten, die mich am meis­ten beschäf­ti­gen, ist die Abkop­pe­lung von mar­xis­ti­scher Ana­ly­se, Femi­nis­mus und Ras­sis­mus­kri­tik. Wenn eine Rei­ni­gungs­kraft mit Kopf­tuch noch nie Anstoß erregt hat, dafür aber buch­stäb­lich jede Kopf­tuch­trä­ge­rin, die Leh­re­rin wer­den woll­te, dann müs­sen wir in der Ana­ly­se Sexis­mus, Ras­sis­mus und Klas­sen­ver­hält­nis­se zusammendenken.

Die­sem Anspruch wer­den jedoch auch die meis­ten lin­ken Orga­ni­sa­tio­nen nicht gerecht, oder?

Wei­te Tei­le der deut­schen Lin­ken sind weit davon ent­fernt, den per­ma­nent andau­ern­den Akti­vis­mus und die Theo­rie­bil­dung von soge­nann­ten Min­der­hei­ten wahr­zu­neh­men. Um die geht es in aller Regel nur, wenn Stim­men für die Wahl oder Teil­neh­men­de für die nächs­te Demons­tra­ti­on mobi­li­siert wer­den sol­len. Ich sage soge­nann­te Min­der­hei­ten, weil es mir nicht um Zah­len geht. Es ist rela­tiv gleich­gül­tig, wie groß eine Bevöl­ke­rungs­grup­pe ist, das sind Macht­fra­gen. Es gibt genug zah­len­mä­ßi­ge Mehr­hei­ten, die nicht selbst­be­stimmt leben – wie auch zah­len­mä­ßi­ge Min­der­hei­ten, die außer­or­dent­lich pri­vi­le­giert sind, weil sie die Insti­tu­tio­nen, das Kapi­tal oder die Gesetz­ge­bung in Hän­den hal­ten. Wir müs­sen end­lich los­kom­men von der Vor­stel­lung, Ras­sis­mus sei das Vor­ur­teil oder der Hass von ein­zel­nen. Das ist er sicher auch. Das wesent­lich Wich­ti­ge­re sind aber die Struk­tu­ren, die Ein­zel­ne ein- oder aus­schlie­ßen und ihnen einen Platz in der Gesell­schaft zuwei­sen. Die­se Struk­tu­ren sind his­to­risch geron­nen und wesent­lich bestän­di­ger als der gute oder böse Wil­le von einzelnen.

Heu­te haben wir nicht ein­mal mehr Lich­ter­ket­ten oder die Auf­kle­ber «Mach mei­nen Kum­pel nicht an». Wir haben statt­des­sen eine Kanz­le­rin, die anläss­lich der Mor­de des «Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds» (NSU) zum x‑ten Mal von einer «Schan­de für unser Land» spricht – und kei­nen nen­nens­wer­ten Wider­spruch ern­tet. Nichts deu­tet dar­auf hin, dass aus den Hun­der­ten Mor­den, Hun­dert­tau­sen­den Belei­di­gun­gen und tät­li­chen Angrif­fen, Brand­schat­zun­gen, Fried­hofs­schän­dun­gen und Hetz­jag­den etwas gelernt wur­de. Die Kri­tik der soge­nann­ten Min­der­hei­ten schafft es nicht in die Bewusst­seins­in­dus­trie, weil es nach wie vor inter­es­san­ter zu sein scheint, wel­cher Dorf­na­zi wann und wo den rech­ten Arm geho­ben hat und war­um er so gewor­den ist wie er ist.

Das, was zählt, ist immer noch der Stand­ort, das Anse­hen des Dor­fes oder der Export­na­ti­on. Ob und wie die Opfer oder Hin­ter­blie­be­nen trau­ma­ti­siert sind, was mit den viet­na­me­si­schen Men­schen aus dem Son­nen­blu­men­haus in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen nach ihrer ver­spä­te­ten Ret­tung pas­siert ist, all das sind Fra­gen, die kaum jeman­den inter­es­sie­ren. Das war zwar immer unwür­dig. Ange­sichts der immer neu­en Auf­de­ckun­gen zur Kom­pli­zen­schaft staat­li­cher Stel­len mit der neo­na­zis­ti­schen Mord­ban­de ist das aber beson­ders infam.

Haben Sie Hoff­nung, dass der NSU-Ter­ror samt den Ver­stri­ckun­gen staat­li­cher Stel­len auf­ge­klärt wer­den wird?

Nein. Es ist ja nicht nur ein bered­tes Schwei­gen zu neun ras­sis­ti­schen Mor­den und einem Poli­zis­tin­nen­mord. Die Maschi­ne­rie sorgt sich um die dadurch offen­bar wer­den­de Staats- und Institutionenkrise.

Wel­che Grün­de ver­mu­ten Sie dafür, dass sich auch die poli­ti­sche Lin­ke, allen vor­an vie­le Anti­fa-Grup­pen, in Fol­ge der Ent­hül­lun­gen über den NSU-Ter­ror über Mona­te hin­weg so auf­fäl­lig bedeckt gehal­ten haben?

Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Ras­sis­mus haben oft einen instru­men­tel­len Cha­rak­ter, zum Teil auch in lin­ken Grup­pen und Par­tei­en. Vie­le füh­len sich ja oft schon als die Guten, wenn sie einen Text in eine ande­re Spra­che über­set­zen las­sen, den schon auf Deutsch kaum jemand lesen möch­te. Böse sind des­we­gen auch immer die ande­ren, die Rech­ten, die Nazis, der Main­stream. Ich weiß nicht, was es in Bezug auf den NSU mit dem brei­ten Schwei­gen auf sich hat. Es ist beängs­ti­gend, wie wenig Men­schen an den Demons­tra­tio­nen teil­neh­men, wie schnell das The­ma unter Fer­ner­lie­fen abge­legt wird.

Bei eini­gen beob­ach­te ich, dass sie her­aus­zu­fin­den wol­len, wie etwas so Gro­ßes ihnen ent­ge­hen konn­te. Die Ver­hält­nis­se waren obsku­rer und stär­ker als gedacht. So wer­den sie als Wohl­mei­nen­de irgend­wie auch zu Opfern, deren Den­ken und Han­deln erschüt­tert wur­de. Das lähmt das Han­deln. Es ver­schiebt aber zugleich auch den Fokus weg von den Mord- und Bom­ben­an­schlags­op­fern bezie­hungs­wei­se den Ange­hö­ri­gen. Es ist falsch, die­se durch­aus not­wen­di­ge Selbst­be­sin­nung der einen gegen das Leid der ande­ren auf­zu­wie­gen, aber mir wäre es trotz­dem lie­ber gewe­sen, hät­te wenigs­tens für einen Augen­blick die vol­le Auf­merk­sam­keit den Ange­hö­ri­gen der Ermor­de­ten gehört. Sie hät­ten – wenigs­tens zu die­sem Zeit­punkt – ein­mal die Deu­tungs- und vor allem For­de­rungs­ho­heit haben müs­sen, statt hier und da als einer der Pro­gramm­punk­te auf­zu­tre­ten und damit wie­der einen Objekt­sta­tus zuge­wie­sen zu bekommen.

Jen­seits der gan­zen NSU-Ange­le­gen­heit ist mei­ne Ver­mu­tung, dass es all­ge­mein an einem über­zeu­gen­den Gegen­ent­wurf man­gelt. «Gegen Nazis», das zieht und sorgt für brei­te­re Bünd­nis­se. Die Opfer von Ras­sis­mus sind da brav und müs­sen umsorgt und vor den schlim­men Neo­na­zis beschützt wer­den. Kaum eine ande­re Auf­ga­be ist so gut für das Selbst­wert­ge­fühl in einer Welt, wo die Erfol­ge von lin­ker Poli­tik rar gesät sind.

Was pas­siert aber, wenn die­sel­ben Grup­pen, Ver­ei­ne, Par­tei­en, Gewerk­schaf­ten, Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten sich mit der Fra­ge beschäf­ti­gen: Was ist unser Gesell­schafts­ver­ständ­nis, was wür­den wir tun, wenn wir nicht Hel­fer und Hel­fe­rin­nen wären, weil die Zustän­de so sind wie sie sind? Gegen Staat und Kapi­tal und eta­blier­te Poli­tik zu sein ist nicht ein­fach, das will ich nicht sagen. Mir geht es um Fol­gen­des: Es ist schwie­ri­ger, sich der Situa­ti­on im eige­nen Laden zu stel­len. Bil­det mei­ne Orga­ni­sa­ti­on in sich die gesell­schaft­li­che Viel­falt ab? Wie ver­hält es sich hier mit Herr­schafts­ver­hält­nis­sen? Wes­sen The­men wer­den wann, wo, mit wem, wie lan­ge dis­ku­tiert? Wer ent­schei­det am Ende? Wel­ches sind die Begrif­fe, mit denen wir ent­spre­chen­de Debat­ten führen?

Sie spie­len auf die aktu­ell geführ­te Debat­te über ras­sis­ti­sche Begriff­lich­kei­ten in bekann­ten Kin­der­bü­chern an?

Mir geht es nicht allein um Begrif­fe. Die Debat­te um Wör­ter ras­sis­ti­scher Her­kunft ist wich­tig. Und viel­leicht soll­ten wir alle Thi­lo Sar­ra­zin dafür dank­bar sein, dass sei­ne vul­gä­ren Pam­phle­te nicht nur für ras­sis­ti­sche Argu­men­te den Arti­ku­la­ti­ons­raum erwei­tert haben, son­dern auch für ras­sis­mus­kri­ti­sche. Die Mas­si­vi­tät sei­ner öffent­li­chen Prä­senz hat Däm­me gebro­chen, kei­ne Fra­ge. Sie hat aber auch Stim­men hör­bar gemacht, die sonst gern über­hört wur­den. «Sei nicht so emp­find­lich» oder «Das denkst du nur, weil du…» sind Sät­ze, die seit­dem sel­te­ner gewor­den sind. Selbst in nicht so respek­ta­blen Nach­rich­ten­sen­dun­gen im Fern­se­hen taucht jetzt «Ras­sis­mus» als Begriff auf. Frü­her hieß das immer «Frem­den­feind­lich­keit». Die Schock­star­re, die vor kur­zem noch ein­trat, wenn die soge­nann­ten Betrof­fe­nen das R‑Wort sag­ten, wird hof­fent­lich noch wesent­lich wei­ter auf­ge­weicht. Denn betrof­fen von Ras­sis­mus sind alle. Nur eben auf unter­schied­li­che Weise.

Es wäre aller­dings falsch, anzu­neh­men, dass ein Buch oder eine Kon­ver­sa­ti­on außer­halb der ras­sis­ti­schen Ord­nung steht, weil die eine oder ande­re Bezeich­nung für Grup­pen von Men­schen durch eine ande­re For­mu­lie­rung ersetzt wur­de. Was ändert es am Prin­zip Pip­pi Lang­strumpf, dass ihr Vater jetzt «Süd­see­kö­nig» heißt? Wich­tig wäre eine Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung des Den­kens, des Füh­lens und des Han­delns. Eine Welt, in der nicht mehr der wei­ße Mann herrscht wie eh und je. Die­se Auf­ga­be bleibt bestehen. Des­we­gen ver­ste­he ich auch nicht den Reflex, mit dem die Ver­tei­di­gung – selbst­ver­ständ­lich von Kunst- und Mei­nungs­frei­heit – so vehe­ment ein­ge­setzt hat. Jedes neue lesen­de Kind kriegt doch immer noch erzählt, dass der wei­ße «Süd­see­kö­nig» voll­kom­men legi­ti­mer Wei­se über die Nicht­wei­ßen herrscht.

Ich mein­te vor­hin aber etwas ande­res. Ich fin­de es unver­zicht­bar, sich im Kla­ren dar­über zu sein, was etwa der Begriff «Inte­gra­ti­on» bedeu­tet. Oder «nicht­deut­scher Her­kunft» oder «mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund». Die­se Wör­ter ste­hen jeden Tag als Dut­zend­wa­re in der Zei­tung. Ver­meint­lich ohne ein Gramm Schwie­rig­keit mit sich zu brin­gen. In jedem Betrieb, in allen Schu­len, im Nach­bar­schafts­ge­spräch, in der Part­ner­schaft: Sie kom­men jeden Tag vor. Aber was bedeu­ten sie? Bis in die wie­viel­te Gene­ra­ti­on sind denn Men­schen «nicht­deut­scher Her­kunft»? Ist inte­griert, wer Sar­ra­zins «Deutsch­land schafft sich ab» gele­sen und ver­stan­den hat? Die­se irre Fik­ti­on vom Wes­ten und «unse­ren Wer­ten», die sich in den letz­ten zehn, zwölf Jah­ren breit­ge­macht hat, ver­hin­dert jede Refle­xi­on auf Klas­sen­ver­hält­nis­se und setzt die Ein­pas­sung von «euch» Pro­ble­ma­ti­schen in «unse­re» her­vor­ra­gen­de Gesell­schaft an die Stel­le von sehr viel drän­gen­de­ren Pro­ble­men. Die effek­tivs­te Ver­hin­de­rung sozia­ler Inte­gra­ti­on ist die Eth­ni­sie­rung des Sozialen.

 

Das Inter­view ist erschie­nen in der Wochen­end­aus­ga­be der Tages­zei­tung jun­ge Welt vom 9./10. März 2013 (Wochen­end­bei­la­ge, Sei­te 12). Das Gespräch führ­te Mar­kus Bernhardt.