Aufklären und Einmischen

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Kup­pel des Gerichts­saals des NSU Pro­zess in Mün­chen. Foto von Fritz Burschel

Eine Ver­an­stal­tung ver­sucht das auf­klä­re­ri­sche Gehalt des Frank­fur­ter Ausch­witz Pro­zess und dem Münch­ner NSU-Pro­zess herausarbeiten

Das Leben von Fritz Bau­er, der Gene­ral­bun­des­an­walt, der die Ver­bre­chen in Ausch­witz vor Gericht brach­te, erfreut sich neu­er cine­as­ti­scher Auf­merk­sam­keit. Nach einer Ver­fil­mung aus dem Jahr 2014 erschien am 01.10.2015 eine neu­er Film über den „Nazi­jä­ger“ Fritz Bau­er. Aber auch absei­tes von Spiel­fil­men ist das Leben und Werk von Fritz Bau­er durch­aus inter­es­sant für die aktu­el­le Zeit. Eine Ver­an­stal­tung in Ber­lin ergrün­det Fritz Bau­ers Ver­ständ­nis des Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zes­se als mög­li­che Per­spek­ti­ve auf das Münch­ner NSU- Ver­fah­ren. Ein Gast­bei­trag von Ingolf Seidel.

 

Kann mit­hil­fe der Sraf­jus­tiz poli­ti­sche Auf­klä­rung geleis­tet wer­den? Fritz Bau­ers Ver­ständ­nis der Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zes­se als mög­li­che Per­spek­ti­ve auf das Münch­ner NSU- Verfahren

Im Mit­tel­punkt der Ver­an­stal­tung  „Kann mit­hil­fe der Sraf­jus­tiz poli­ti­sche Auf­klä­rung geleis­tet wer­den? Fritz Bau­ers Ver­ständ­nis der Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zes­se als mög­li­che Per­spek­ti­ve auf das Münch­ner NSU- Ver­fah­ren“ stand die Fra­ge­stel­lung, ob ein Ver­ständ­nis von poli­ti­schen Straf­ver­fah­ren als „Pro­zess­füh­rung im öffent­li­chen Raum“ mit der Ziel­rich­tung von Sach­auf­klä­rung, wie es der hes­si­sche Gene­ral­staats­an­walt Fritz Bau­er mit dem ers­ten Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zess inten­dier­te, heu­te noch zeit­ge­mäß und mög­lich ist.

Ein­ge­la­den hat­te zu der gut besuch­ten Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung der Repu­bli­ka­ni­sche Anwäl­tin­nen- und Anwäl­te­ver­ein (RAV) in die Juris­ti­sche Fakul­tät der Ber­li­ner Hum­boldt Universität.

Wer­ner Renz, sei­nes Zei­chens wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter des Frank­fur­ter Fritz Bau­er Insti­tuts und aus­ge­wie­se­ner Exper­te für den von 1963 bis 1965 dau­ern­den Ausch­witz-Pro­zess, refe­rier­te zu Fritz Bau­ers durch­aus wider­sprüch­li­chem Ver­ständ­nis des Pro­zes­ses. Gene­ral­staats­an­walt Bau­er, jüdi­scher Remi­grant und Athe­ist, Sozi­al­de­mo­krat und Mit­be­grün­der der Huma­nis­ti­schen Uni­on, ver­stand sich als Patri­ot. Die­se Selbst­ka­te­go­ri­sie­rung, die heu­te befremd­lich erscheint, muss für den zur Flucht nach Däne­mark und Schwe­den gezwun­ge­nen Juris­ten aber sicher­lich als eine Hal­tung gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus und die im Nach­kriegs­deutsch­land durch­gän­gig ver­brei­te­te Erin­ne­rungs- und Schuld­ab­wehr ver­stan­den wer­den. Dem­entspre­chend waren Pro­zes­se gegen NS-Täter für Bau­er im Wesent­li­chen volks­päd­ago­gi­sche Ver­an­stal­tun­gen, mit denen er hoff­te, die deut­sche Bevöl­ke­rung in ihrer ver­stock­ten Hal­tung gegen­über den Nazi­ver­bre­chen, in die sie zutiefst ver­strickt war, zu erschüt­tern. Fritz Bau­er woll­te im Sin­ne Ibsens „Gerichts­tag hal­ten über uns selbst“. Renz benutz­te nicht zu Unrecht in die­sem Zusam­men­hang den moder­nen Begriff der „Men­schen­rechts­bil­dung“, bezie­hungs­wei­se den der „Geschichts­stun­de für die Deut­schen“. Daher spiel­ten auch die Über­le­ben­den der deut­schen Ver­nich­tungs­po­li­tik in der „Straf­sa­che gegen Mul­ka und ande­re“, wie der offi­zi­el­le Titel des ers­ten Ausch­witz-Pro­zes­ses lau­te­te, eine zen­tra­le Rol­le. Im Wider­spruch zur erzie­he­ri­schen Aus­rich­tung des Ausch­witz-Pro­zes­ses stand das geplan­te Pro­zess­kon­zept des Staats­an­walts, der im Übri­gen nie selbst vor Gericht erschien. Die eigent­li­che Ankla­ge­ver­tre­tung über­nah­men die Staats­an­wäl­te Joa­chim Küg­ler, Georg Fried­rich Vogel und Ger­hard Wie­se. Das Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz war für den Gene­ral­staats­an­walt ein Fall von recht­li­cher Hand­lungs­ein­heit. Das bedeu­te­te für ihn, dass sämt­li­che Hand­lun­gen und Taten Teil des Ver­bre­chen­s­kom­ple­xes Ausch­witz gewe­sen wären und nicht indi­vi­du­ell den Ange­klag­ten nach­zu­wei­sen sei­en. Dem­entspre­chend ging Bau­er in der Kon­zep­ti­on des Pro­zes­ses nur von vier Ver­hand­lungs­ta­gen aus. Es ist offen­sicht­lich, dass die­se Her­an­ge­hens­wei­se im Wider­spruch zur päd­ago­gi­schen Inten­ti­on stand; ein Wider­spruch, der Bau­er durch­aus bewusst war. Wir wis­sen, dass sich sowohl Bau­ers volks­päd­ago­gi­sche Absicht, als auch die Pro­zess­kon­zep­ti­on ent­lang der Argu­men­ta­ti­on der tat­säch­li­chen Hand­lungs­ein­heit in der Rea­li­tät brach und die Taten von Mul­ka und ande­ren indi­vi­dua­li­siert wurden.

Das auf­klä­re­ri­sche Gehalt des NSU — Prozess

Im Anschluss an den Vor­trag von Wer­ner Renz kom­men­tier­te Rechts­an­wäl­tin Anna Luc­zak das Gehör­te aus ihrer Sicht als Anwäl­tin der Neben­kla­ge im Münch­ner Ver­fah­ren gegen den so genann­ten Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grund (NSU). Sie ging dabei ein­gangs der Fra­ge nach, ob es in die­sem Ver­fah­ren ana­log zum ers­ten Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zess Akteu­re gebe, die ein Inter­es­se an der Sach­auf­klä­rung hät­ten, die also auf­zei­gen wol­len, dass es sich bei der Mord­se­rie um mehr als ein iso­lier­tes Phä­no­men han­delt. Es ist nahe­lie­gend, dass die Rol­le der Bun­des­an­walt­schaft der Fritz Bau­ers ent­spricht – in ver­fah­rens­recht­li­cher Hin­sicht. Hier erschöpft sich, Luc­zak zufol­ge, bereits die Ana­lo­gie. Seit dem Pro­zess­be­ginn in 2012 hat die Bun­des­an­walt­schaft kei­ne wei­te­ren Beweis­mit­tel in das Ver­fah­ren ein­ge­bracht. Ihre bis­he­ri­ge Pro­zess­kon­zep­ti­on sieht offen­sicht­lich vor, das Ver­fah­ren gegen den NSU als rei­nen Straf­pro­zess unter mög­lichst weit­ge­hen­der Aus­blen­dung ideo­lo­gi­scher Aspek­te zu füh­ren. Die, wie kru­de auch immer erschei­nen­de, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ideo­lo­gie des NSU wird folg­lich nach Mög­lich­keit eben­so aus­ge­blen­det wie die dazu gehö­ri­ge neo­na­zis­ti­sche Netz­werk­struk­tur. Eben­so unter­be­lich­tet bleibt die staat­li­che Ver­stri­ckung in Form von V‑Leuten der ver­schie­de­nen Ämter des Ver­fas­sungs­schut­zes oder die Ver­nich­tung ent­spre­chen­der Akten. Auf Ver­su­che sei­tens der Neben­kla­ge­ver­tre­tung, die die Opfer des NSU und ihre Ange­hö­ri­gen vor Gericht ver­tritt, wei­te­re Beweis­mit­tel und Gut­ach­ten ein­zu­brin­gen, reagiert die Bun­des­an­walt­schaft meist ableh­nend. Nicht wesent­lich anders sind, so die Rechts­an­wäl­tin, die Reak­tio­nen des Vor­sit­zen­den Rich­ters Man­fred Götzl. Von den ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mög­lich­kei­ten, selb­stän­dig Beweis­mit­tel ein­zu­füh­ren, macht das Gericht kei­nen Gebrauch. Kennt­nis­se von Rich­ter Man­fred Götzl, was neo­na­zis­ti­sche Grup­pie­run­gen wie Com­bat 18 betrifft, den mili­tan­ten Arm des Neo­na­zi-Netz­werks Blood & Honour, waren in den ers­ten Mona­ten der Ver­fah­rens prak­tisch nicht vor­han­den. Hin­zu kommt: Seit den 1960er-Jah­ren wur­de die Rol­le der Neben­kla­ge­ver­tre­tung geschwächt. Auch ver­fügt sie nahe­lie­gen­der­wei­se nicht über die­sel­ben Ermitt­lungs­mög­lich­kei­ten wie staat­li­che Stel­len. Rechts­an­wäl­tin Luc­zak ver­mu­tet, dass die heu­ti­ge gesell­schaft­li­che Reak­ti­on auf das NSU Ver­fah­ren ähn­lich gering ist, wie sie sei­ner­zeit die zeit­ge­nös­si­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Ausch­witz­pro­zess war. In der nach­fol­gen­den Dis­kus­si­on äußer­te Anna Luc­zak die Hoff­nung, der NSU-Pro­zess, bezie­hungs­wei­se vor allem die Neben­kla­ge dar­in kön­ne der wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit der extre­men Rech­ten Mate­ri­al und Ansatz­punk­te lie­fern, um bei­spiels­wei­se zu dem sub­kul­tu­rel­len Netz­werk Blood & Honour wei­ter zu for­schen, das mit den unter­ge­tauch­ten NSU-Mit­glie­dern Mund­los, Böhn­hard und Zsch­ä­pe in Ver­bin­dung gebracht wird. Aller­dings sei es auf­grund der pro­zess­recht­lich rela­tiv schwa­chen Posi­ti­on der Neben­kla­ge ver­hält­nis­mä­ßig schwie­rig, eige­ne Akzen­te im Pro­zess­ge­sche­hen, bei­spiels­wei­se durch Gut­ach­ten, zu set­zen. Dies hin­ge vom Inter­es­se des Gerichts ab. Die von Fritz Bau­er anvi­sier­te Pro­zess­kon­zep­ti­on, sämt­li­che Taten in Ausch­witz als eine natür­li­che Hand­lungs­ein­heit zu betrach­ten, nach der eine Mehr­heit von Ein­zel­ak­ten ver­schie­den­ar­ti­ge Straf­tat­be­stän­de ver­wirk­li­chen wür­de, käme für das NSU-Ver­fah­ren nicht in Betracht.

Wer­ner Renz ergänz­te sei­ne Aus­füh­run­gen dahin­ge­hend, dass es für den Ausch­witz-Pro­zess ange­sichts des unge­heu­er­li­chen Nor­men­bruchs der Taten juris­ti­sche Son­der­nor­men gebraucht hät­te. Auf den poli­ti­schen Feh­ler, die­se 1949 im Rah­men der Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik und der Ver­ab­schie­dung des Grund­ge­set­zes nicht ein­ge­führt zu haben, habe unter ande­rem bereits Karl Jas­pers früh hin­ge­wie­sen. Fritz Bau­er sei der Ansicht gewe­sen, dass ent­spre­chen­de Geset­ze zur Abur­tei­lung der NS-Täter auch im Nach­hin­ein hät­ten ein­ge­führt wer­den müs­sen, um die Mög­lich­keit zu schaf­fen, die­se nicht nur als „Tat­ge­hil­fen“ abzuurteilen.

Auf­klä­rung durch Beobachtung

Aus Autoren­sicht bleibt anzu­mer­ken, dass die Rol­le, die der hes­si­sche Gene­ral­staats­an­walt inne hat­te, der sich für eine Sach­auf­klä­rung des Tat­kom­ple­xes Ausch­witz ein­setz­te und dies mit der Hoff­nung auf einen auf­klä­re­ri­schen Effekt ver­band, heu­te lin­ken Initia­ti­ven wie NSU-Watch, die hier in ers­ter Linie zu nen­nen ist, sowie bei einem berufs­po­li­ti­schen Zusam­men­schluss wie dem RAV liegt. Ein staat­li­ches Auf­klä­rungs­in­ter­es­se erscheint in poli­ti­scher wie in pro­zes­sua­ler Hin­sicht, nicht zuletzt wegen der tie­fen Ver­stri­ckung staat­li­cher Akteu­re in den NSU-Kom­plex, aus­ge­spro­chen gering.

Ingolf Sei­del arbei­tet als Redak­teur und Pro­jekt­lei­ter für das Bil­dungs­por­tal www​.ler​nen​-aus​-der​-geschich​te​.de