
Schon lange versuchen People of Color (PoC) und verschiedene Initiativen, die Kritik an der diskriminierenden Praxis des polizeilichen Racial Profiling an die Öffentlichkeit zu bringen. Besonders die Befugnis zum anlasslosen Kontrollieren rückt dabei immer wieder in den Fokus, denn gerade diese breite Ermächtigung ist prädestiniert für rassistisch motivierte Maßnahmen. Die Berliner Kampagne „Ban Racial Profiling“ [dt. sinngemäß: „Stoppt rassistische Kontrollen“] veröffentlichte im Mai 2019 das Rechtsgutachten „Verfassungsrechtliche Bewertung der Vorschrift des § 21 Abs.2 Nr. 1 des Allgemeinen Gesetzes zur Sicherheit und Ordnung in Berlin – das Konzept der ‚kriminalitätsbelasteten Orte‘“, in dem die polizeiliche Befugnis des ASOG Berlin hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit überprüft wird.
Wer entscheidet, was gefährlich ist?
Inzwischen ist grob ersichtlich, welche Berliner Gegenden als kbO klassifiziert sind, beispielsweise der Alexanderplatz, die Warschauer Brücke, Teile der Rigaer Straße und — Überraschung! — das Kottbusser Tor. Ab und an gibt es auch Änderungen und Verschiebungen der Grenzen – wie und warum bleibt weitgehend unklar. Auch wie diese „gefährlichen Orte“ eigentlich zustande kommen und wer sie aus welchen Gründen benennt, ist ein denkbar intransparenter Prozess, er hängt mehr oder weniger von der Lagebeurteilung der Polizei ab, die sich wiederum selbstredend auf ihre eigenen Statistiken bezieht. Nun gibt es zahlreiche Einflüsse auf die Entstehung der polizeilichen Statistiken wie das Anzeigeverhalten Betroffener, das öffentliche Interesse an bestimmten Straftaten und natürlich auch die Präsenz von Polizeikräften an bestimmten Orten. Je mehr Polizei, desto mehr Kriminalität in den Statistiken, worauf stets die Forderung nach mehr Präsenz folgt – es scheint ein Teufelskreis zu sein. Die Bestimmung der Orte ist also ein rein verwaltungsinterner Vorgang, der einer gerichtlichen Kontrolle und damit der Überprüfung durch Bürger*innen entzogen ist. Das Gutachten der Berliner Rechtsanwältin Dr. Maren Burkhardt und des Rechtswissenschaftler Dr. Cengiz Barskanmaz vom Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie in Halle legt dar, dass diese Intransparenz dem Gebot des Gesetzesvorbehalts widerspricht und die mangelnde Überprüfbarkeit entsprechender Maßnahmen also verfassungsrechtlich kritisch ist.
Mittelbare Diskriminierung
Zwar wird argumentiert, dass ja wirklich jeder sich an einem kbO aufhaltende Mensch von der Polizei kontrolliert werden könne, diese „Sicherheitsmaßnahmen“ also alle beträfen. Normadressat, wie es im Jurasprech heißt, ist also jede Person. Normbetroffene jedoch – das kritisiert das vorliegende Gutachten – sind in der Realität fast ausschließlich PoC. Diese Diskriminierung scheint nämlich schon in der Konzeption der kbO inhärent zu sein: Ein Ort qualifiziert sich unter anderem als kriminalitätsbelastet, wenn sich dort Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen. Das Gutachten spricht hier von einer mittelbaren Diskriminierung, welche dazu führt, dass die Polizei vermehrt die Identität von aus ihrer Sicht „ausländisch“ erscheinenden Personen feststellt, was unweigerlich zu Racial Profiling führt. Diese Praxis verstößt gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes und durch ihre enge Verbindung zur Menschenwürde wird rassistische Diskriminierung als besonders schwerwiegend angesehen.
Das Grenzregime vor unseren Augen
Bei einer genaueren Betrachtung des kbO-Konzepts wird die Vermutung immer stärker, dass es durch seine Vermengung mit dem Aufenthaltsrecht ein wichtiges Instrument des deutschen Grenzregimes ist. Nach außen hin dienen die polizeilichen Befugnisse an kbO der Prävention von Kriminalität. Aufenthaltsrechtliche Straftaten „entstehen“ jedoch nicht an Ort und Stelle, sondern entstehen z.B. schon durch eine illegalisierte Einreise. Das widerspricht der Präventionslogik der kbO, wie das Gutachten feststellt: „Migrationskriminalität“ wird nicht verhindert, sondern lediglich aufgedeckt. Zudem sei diese Aufgabe eigentlich eine der Bundespolizei und nicht der Berliner Landespolizei. Und es stelle sich insbesondere die Frage, so im Gutachten, warum und für wen die Anwesenheit von Menschen mit eventuell ungültigem Aufenthaltsstatus eine Gefahr darstelle. Grenzpraktiken spielen sich also nicht nur an den nationalen und europäischen Außengrenzen ab, sondern auch direkt vor aller Augen mitten in den Innenstädten.
Und was ist schlimm an Identitätskontrollen?
In rechtswissenschaftlicher Literatur wird eine Identitätsfeststellung häufig als niedrigschwelliger Eingriff gesehen, das Gutachten jedoch hält dagegen: dadurch, dass so viele Menschen so häufig kontrolliert würden, und dadurch, dass bei den anlasslosen Kontrollen ein qualifizierter Verdacht fehle, könne man durchaus von einer hohen Eingriffsintensität sprechen, besonders, wenn es immer die Gleichen trifft. Die stigmatisierende Wirkung von Polizeikontrollen sei außerdem enorm. Aufgrund der rassistischen Struktur unserer Gesellschaft sei es in der Außenwirkung nämlich nicht dasselbe, ob eine weiße Person von der Polizei angehalten werde oder eben eine PoC. Eine kriminelle Handlung einer weißen Person aus der Mehrheitsgesellschaft werde außerdem individuell und einzelfallbezogen wahrgenommen, bei der Kontrolle einer nicht-weißen Person würden hingegen Rückschlüsse auf ganze Gesellschaftsgruppen gezogen, stellen die Gutachter*innen fest. Die strukturell bedingt häufigen Kontrollen nicht-weißer Personen verstärkten demnach mit jeder erneuten Kontrolle schon existierende Ressentiments in dieser Gesellschaft.
Gefährliche Orte abschaffen!
Das Gutachten der Initiative legt ziemlich ausführlich dar, an welchen Stellen es Bedenken bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des ASOG 21 und dem dazugehörigen Konzept der „kriminalitätsbelasteten Orte“ gibt. Zu verfassungsrechtlich fragwürdigen Aspekten gehören z.B. die Vermischung mit dem Aufenthaltsrecht, die Intransparenz der Bestimmung der als gefährlich markierten Orte oder die Unvereinbarkeiten mit europarechtlichen Vorgaben, zumal sie alle die diskriminierende Praxis des Racial Profiling unterstützen. Für Betroffene gibt es kaum juristischen Möglichkeiten sich zu wehren, beziehungsweise herrscht aus verschiedenen Gründen eine große Scheu, gegen Racial Profiling zu klagen, so Rechtsanwältin Burkhardt. Die gesetzliche Grundlage der diskriminierenden Praxis einer genauen Prüfung zu unterziehen, hat also eine große Bedeutung für Betroffene. KbO sind nämlich tatsächlich eine Gefahr, und zwar für Menschen, die von der Polizei als „ausländisch“ gelesen und markiert werden
Die Politik
„Institutioneller Rassismus ist für die Koalition nicht akzeptabel“, ist im Berliner rot-rot-grünen Koalitionsvertrag zu lesen. Der Vertrag legt fest, dass klare Kante gezeigt werden soll, gegen Racial Profiling, auch, indem entsprechende Absätze des ASOG gestrichen werden. Bisher ist nichts dergleichen geschehen. Das vorliegende Gutachten bestätigt, dass die gesetzliche Grundlage für anlasslose Kontrollen auch rechtlich auf wackeligen Beinen steht und macht nochmal klar und deutlich, dass der Berliner Senat endlich in Aktion treten müsste. Das rassistische Grundrauschen im deutschen Alltag wird durch die polizeiliche Praxis des Racial Profiling immer und immer wieder mit neuen Bildern gefüttert. Es wird Zeit, der rassistischen Tendenz der polizeilichen Befugnisse Grenzen zu setzen. Eine Abschaffung des umstrittenen Konzepts der kriminalitätsbelasteten Orte wäre ein erster Schritt, Menschen in Berlin eine gleichberechtigte Teilhabe am und im öffentlichen Raum zu ermöglichen.