25 Jahre Solingen: „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“

Demons­tra­ti­on am Tat­ort des Brand­an­schla­ges von Solin­gen in der Unte­ren-Wer­n­er­stra­ße              Foto: Von Sir James, CC BY-SA 2.0 de, https://​com​mons​.wiki​me​dia​.org/​w​/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​?​c​u​r​i​d​=​4​1​1​9​3​6​5​C​C​-​l​i​z​e​n​z​i​ert

Anläss­lich des heu­ti­gen 25. Jah­res­ta­ges des Brand­an­schlags in Solin­gen am 29.5.1993 geden­ken wir der Opfer: Gür­sün İnce (* 4. Okto­ber 1965), Hati­ce Genç (* 20. Novem­ber 1974), Gülü­st­an Öztürk (* 14. April 1981), Hülya Genç (* 12. Febru­ar 1984), Sai­me Genç (* 12. August 1988). Ein sechs Mona­te alter Säug­ling, ein drei­jäh­ri­ges Kind und der 15 Jah­re alte Bekir Genç wur­den mit lebens­ge­fähr­li­chen Ver­let­zun­gen ins Kran­ken­haus gebracht. 14 wei­te­re Fami­li­en­mit­glie­der erlit­ten zum Teil lebens­ge­fähr­li­che Ver­let­zun­gen. Wir doku­men­tie­ren ger­ne und dank­bar einen Rede­bei­trag, den der hoch geschätz­te Bre­mer Men­schen­rechts­an­walt Rolf Göss­ner anläss­lich einer Gedenk­ver­an­stal­tung am 23. Mai 2018 im Thea­ter- und Kon­zert­haus Solin­gen hielt, an der über 300 Men­schen teil­ge­nom­men haben: 

Wir geden­ken heu­te der Opfer eines der schwers­ten Ver­bre­chen in der Geschich­te der Repu­blik: des Solin­ger Brand- und Mord­an­schlags vom 29. Mai 1993, bei dem fünf jun­ge Ange­hö­ri­ge der Fami­lie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor dem ras­sis­tisch moti­vier­ten Anschlag hat­te — nach einer ver­ant­wor­tungs­lo­sen Debat­te um „Asy­lan­ten­flut“ und „Über­frem­dung“ — eine gro­ße Koali­ti­on aus CDU, FDP und SPD das Grund­recht auf Asyl demon­tiert. „Erst stirbt das Recht – dann ster­ben Men­schen“. Kla­rer kann man den Zusam­men­hang die­ser bei­den Ereig­nis­se kaum for­mu­lie­ren, wie er sei­ner­zeit auf einer Mau­er ent­lang der Unte­ren Wer­n­er­stra­ße nahe des Anschlags­orts zu lesen war. Auf die­sen Zusam­men­hang hat­te ich bereits in mei­ner Rede anläss­lich des Geden­kens zum 20. Jah­res­tag vor fünf Jah­ren hier in Solin­gen auf­merk­sam gemacht. Der­zeit befin­den wir uns wie­der in einer äußerst pre­kä­ren Pha­se, in der eine rechts­po­pu­lis­ti­sche Debat­te bis hin­ein in die Mit­te der Gesell­schaft statt­fin­det — eine Debat­te um Über­frem­dung, Asyl­miss­brauch und kri­mi­nel­le Aus­län­der, um Asyl- und Abschie­be­zen­tren und beschleu­nig­te Abschie­bun­gen — eine unheil­vol­le Angst­de­bat­te, die von Sei­ten der Poli­tik, ins­be­son­de­re von CSU-Hei­mat­schutz­mi­nis­ter Horst See­ho­fer und ande­ren, befeu­ert wird und die geeig­net ist, die Situa­ti­on hier­zu­lan­de gefähr­lich aufzuheizen.
Seit 2015 ist ange­sichts der zu Hun­dert­tau­sen­den in die Bun­des­re­pu­blik geflüch­te­ten Men­schen zwar viel von „Wir schaf­fen das“ und von „Will­kom­mens­kul­tur“ die Rede, die in der Tat auch in wei­ten Tei­len der Repu­blik anzu­tref­fen ist und die die aller­meis­ten Betrof­fe­nen zu schät­zen wis­sen. Doch die­se weit­ge­hend zivil­ge­sell­schaft­li­che Unter­stüt­zungs­ar­beit wird zuneh­mend beglei­tet und kon­ter­ka­riert — zum einen von einem wei­ter ver­schärf­ten Aus­län­der- und Asyl­recht nach dem Mot­to: >Gren­zen dicht, siche­re Her­kunfts­län­der küren, mas­sen­haft schnel­ler abschie­ben<; zum ande­ren von all­täg­li­cher ras­sis­ti­scher Het­ze, Aus­gren­zung und Gewalt – eine besorg­nis­er­re­gen­de Ent­wick­lung, die trotz ihrer blu­ti­gen Bilanz gegen­über der so medi­en­wirk­sa­men und angst­be­setz­ten isla­mis­ti­schen Ter­ror­ge­fahr mehr und mehr aus dem öffent­li­chen Blick gerät.
Doch die Ter­ror­an­grif­fe gegen Migran­ten, Asyl­be­wer­ber und ande­re Geflüch­te­te gehen wei­ter und die Täter sind mit­ten unter uns. Immer wie­der bren­nen Flücht­lings­hei­me, die ras­sis­ti­schen Über­grif­fe auf Geflüch­te­te, ehren­amt­li­che Hel­fer, auch auf Moscheen rei­ßen nicht ab – und die Angrif­fe kom­men mehr und mehr aus der Mit­te einer nach rechts drif­ten­den und sozi­al gespal­te­nen Gesell­schaft: 2015 kam es zu fast 1.500 ein­schlä­gi­gen Gewalt­ta­ten, dar­un­ter über 1.000 Anschlä­ge auf Flücht­lings­un­ter­künf­te – das sind fünf­mal mehr als 2014. 2016 kam es nach Anga­ben der Bun­des­re­gie­rung zu mehr als 3.500 Über­grif­fen auf Flücht­lings­hei­me sowie auf Geflüch­te­te – also zu fast zehn pro Tag. 2017 waren es noch über 1.500 Über­grif­fe. Das heißt: Men­schen, die Schutz vor Ver­fol­gung, Aus­beu­tung und Tod suchen, müs­sen hier­zu­lan­de um Leib und Leben fürchten.
In der Bun­des­re­pu­blik sind allein seit 1990 fast 200 Men­schen von ras­sis­tisch und frem­den­feind­lich ein­ge­stell­ten Tätern umge­bracht wor­den. Der Mord­an­schlag von Solin­gen war der vor­läu­fi­ge „Höhe­punkt“ – bes­ser: Tief­punkt — einer Serie wei­te­rer frem­den­feind­li­cher Atten­ta­te: Hoyers­wer­da, Hün­xe, Ros­tock, Qued­lin­burg, Cott­bus, Lübeck und Mölln sind zu trau­ri­gen Fana­len gewor­den für die­sen gewalt­tä­ti­gen, men­schen­ver­ach­ten­den Ras­sis­mus. Nach den NSU-Mor­den muss­ten wir zehn und nach dem Mün­che­ner Amok­lauf vom Juli 2016 neun wei­te­re Tote hin­zu­rech­nen. Wir müs­sen also kon­sta­tie­ren: Nach dem Solin­ger Brand­an­schlag ist hier­zu­lan­de nicht etwa Besin­nung ein­ge­kehrt, son­dern viel Ent­setz­li­ches passiert.
Dabei haben uns die lang­jäh­ri­ge Nicht­auf­klä­rung der NSU-Mord­se­rie sowie die Aus­blen­dung ihres ras­sis­ti­schen Hin­ter­grunds dras­tisch vor Augen geführt, dass „Ver­fas­sungs­schutz“ und Poli­zei im Bereich „Rechts­extre­mis­mus / Neo­na­zis­mus“ gran­di­os ver­sagt haben, was auf dem Hin­ter­grund der deut­schen Geschich­te beson­ders scho­ckie­rend ist. Das waren nicht nur Pan­nen und Unfä­hig­keit, wie ger­ne kol­por­tiert — nein, da waren ideo­lo­gi­sche Scheu­klap­pen und stuk­tu­rel­ler Ras­sis­mus im Spiel, die zu Igno­ranz und sys­te­ma­ti­scher Ver­harm­lo­sung des Nazispek­trums führ­ten und damit zu einem bei­spiel­lo­sen Staats­ver­sa­gen – begüns­tigt übri­gens auch durch eine jahr­zehn­te­lang ein­sei­tig gegen sog. Links­extre­mis­mus, Aus­län­der­ex­tre­mis­mus und Isla­mis­mus aus­ge­rich­te­te „Sicher­heits­po­li­tik“. Hier wer­den bekannt­lich alle Regis­ter gezo­gen, die den Sicher­heits­be­hör­den zur Ver­fü­gung ste­hen und die im Zuge eines exzes­si­ven „Anti­ter­ror­kamp­fes“, beson­ders nach 911, erheb­lich ver­schärft und aus­ge­wei­tet wurden.
Las­sen Sie mich — einem Wunsch der Orga­ni­sa­to­ren die­ser Gedenk­ver­an­stal­tung fol­gend — noch auf ein beson­ders bri­san­tes Pro­blem ein­ge­hen: Es geht um die ver­häng­nis­vol­le Rol­le des Inlands­ge­heim­diens­tes „Ver­fas­sungs­schutz“ und sein V‑Leute-Sys­tem, das sich als unkon­trol­lier­bar und erheb­li­ches Gefah­ren­po­ten­ti­al für Demo­kra­tie, Bür­ger­rech­te und Rechts­staat her­aus­ge­stellt hat. Im Lau­fe der 1990er Jah­re ist in Neo­na­zi-Sze­nen und ‑Par­tei­en ein regel­rech­tes Netz­werk aus V‑Leuten, Ver­deck­ten Ermitt­lern und Lock­spit­zeln ent­stan­den – das den Kaba­ret­tis­ten Jür­gen Becker zu dem bösen Scherz ver­lei­te­te: Bei Nazi-Auf­mär­schen sei er sich oft nicht mehr ganz so sicher, ob es sich um ech­te Nazis han­delt oder um einen „Betriebs­aus­flug des Ver­fas­sungs­schut­zes“. In die­ser kaba­ret­tis­ti­schen Über­spit­zung liegt ein wah­rer Kern.
Dabei muss man sich ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass in Neo­na­zi­sze­nen rekru­tier­te V‑Leute nicht etwa „Agen­ten“ des demo­kra­ti­schen Rechts­staa­tes sind, son­dern staat­lich ali­men­tier­te Nazi-Akti­vis­ten – also meist gna­den­lo­se Ras­sis­ten und Gewalt­tä­ter, über die sich der Ver­fas­sungs­schutz heil­los in kri­mi­nel­le Machen­schaf­ten ver­strickt. Brand­stif­tung, Kör­per­ver­let­zung, Tot­schlag, Mord­auf­ru­fe, Waf­fen­han­del, Grün­dung ter­ro­ris­ti­scher Ver­ei­ni­gun­gen – das sind nur eini­ge der Straf­ta­ten, die V‑Leute im und zum Schutz ihrer Tar­nung begehen.
Erin­nert sei etwa an den V‑Mann Lep­zi­en, der in den 80er Jah­ren als Spreng­stoff-Lie­fe­rant für die Nazi-Sze­ne tätig war und dafür auch ver­ur­teilt, aller­dings recht bald begna­digt wur­de. Erin­nert sei gera­de hier in Solin­gen an den V‑Mann Bernd Schmitt, des­sen Kampf­sport­ver­ein “Hak Pao” Treff­punkt und Trai­nings­cen­ter der mili­tan­ten Neo­na­zi-Sze­ne in Solin­gen war; aus die­sem Kreis stamm­ten drei jener jun­gen Män­ner, die für den Solin­ger Brand­an­schlag ver­ur­teilt wur­den. Aus heu­ti­ger Sicht stellt sich die­se Kampf­sport­schu­le als Gemein­schafts­pro­jekt des Ver­fas­sungs­schut­zes und sei­nes V‑Manns dar – als brau­ne Kon­takt­bör­se unter den Augen des Geheim­diens­tes, als Schu­lungs­zen­trum für die Nazi-Sze­ne, in dem gewalt­be­rei­te Neo­na­zis zusam­men mit Ori­en­tie­rung suchen­den Jugend­li­chen zum Nah­kampf aus­ge­bil­det wor­den sind. Da ver­su­chen Sozi­al­ar­bei­ter, jun­ge Men­schen müh­sam aus der rech­ten Sze­ne her­aus­zu­bre­chen – und hier gab ein Geheim­dienst Steu­er­gel­der für einen V‑Mann aus, der exakt das Gegen­teil betrie­ben hat.
Im Fall des Nicht­er­mitt­lungs­skan­dals rund um die NSU-Mord­se­rie waren Geheim­diens­te mit Dut­zen­den V‑Leuten — etwa Tino Brandt, ali­as „Otto“ — auch in dem Neo­na­zi-Sam­mel­be­cken „Thü­rin­ger Hei­mat­schutz“ aktiv, in dem die spä­te­ren mut­maß­li­chen Mör­der orga­ni­siert waren und aus dem her­aus sich der NSU und sein Unter­stüt­zer­um­feld unter den Augen der Geheim­diens­te ent­wi­ckeln konn­ten. Der „Ver­fas­sungs­schutz“, wie wir inzwi­schen wis­sen, war mit vie­len sei­ner bezahl­ten und hoch­kri­mi­nel­len V‑Leute haut­nah dran an den spä­te­ren mut­maß­li­chen Mör­dern, ihren Kon­takt­per­so­nen und Unter­stüt­zern; sie mor­de­ten qua­si unter staat­li­cher Auf­sicht. Trotz­dem – oder muss man sagen: des­we­gen? – wol­len die Inlands­ge­heim­diens­te so gut wie nichts mit­be­kom­men haben, haben sie die NSU-Mord­se­rie über lan­ge Jah­re hin­weg weder ver­hin­dert noch zu ihrer Auf­de­ckung bei­getra­gen kön­nen oder wol­len. Die­se Mord­se­rie hät­te, so viel ist inzwi­schen klar gewor­den, wohl ver­hin­dert wer­den kön­nen, wenn der Ver­fas­sungs­schutz sei­ne straf­rechts­re­le­van­ten Erkennt­nis­se über die Unter­ge­tauch­ten und ihre Unter­stüt­zer recht­zei­tig an die Poli­zei wei­ter­ge­ge­ben hät­te, wozu er gesetz­lich ver­pflich­tet war.
Auf der Ankla­ge­bank des Ober­lan­des­ge­richts Mün­chen müss­ten jeden­falls weit mehr Ange­klag­te sit­zen als Zsch­ä­pe, Wohl­le­ben & Co.: Hier feh­len die invol­vier­ten V‑Leute, ihre V‑Mann-Füh­rer und alle für Ver­sa­gen, Unter­las­sun­gen und Ver­tu­schen Ver­ant­wort­li­chen aus Ver­fas­sungs­schutz, Poli­zei und Sicherheitspolitik.
Das Erschre­ckends­te, was ich bei mei­nen Recher­chen zu mei­nem Buch „Gehei­me Infor­man­ten. V‑Leute des Ver­fas­sungs­schut­zes: Neo­na­zis im Dienst des Staa­tes“ selbst erfah­ren muss­te, ist, dass der Ver­fas­sungs­schutz sei­ne kri­mi­nel­len V‑Leute regel­recht deckt und sys­te­ma­tisch gegen poli­zei­li­che und jus­ti­ti­el­le Ermitt­lun­gen abschirmt, um sie vor Ent­tar­nung zu schüt­zen und wei­ter abschöp­fen zu kön­nen – anstatt sie unver­züg­lich abzu­schal­ten. So war es auch im Umfeld des NSU: Auch hier hat er Fahn­dungs­maß­nah­men tor­pe­diert, Akten und Bewei­se ver­nich­tet, sei­nen brau­nen V‑Leuten poli­zei­li­che Obser­va­tio­nen ver­ra­ten oder Kon­takt­per­so­nen vor poli­zei­li­chen Abhör­ak­tio­nen gewarnt. Das ist straf­ba­re Straf­ver­ei­te­lung im Amt, psy­chi­sche Unter­stüt­zung und Bei­hil­fe zu Straf­ta­ten — doch die Ver­ant­wort­li­chen sind dafür nie zur Rechen­schaft gezo­gen wor­den, selbst wenn Unbe­tei­lig­te schwer geschä­digt wurden.
Seit Auf­de­ckung der NSU-Mord­se­rie sind die „Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den“ mit gera­de­zu kri­mi­nel­ler Ener­gie damit beschäf­tigt, die Spu­ren ihres Ver­sa­gens, ihrer ideo­lo­gi­schen Ver­blen­dung und Ver­flech­tun­gen in das NSU-Umfeld zu ver­dun­keln und zu ver­nich­ten. Auch die Behin­de­run­gen der poli­zei­li­chen Ermitt­lun­gen im Fall des V‑Mann-Füh­rers Andre­as Tem­me, ali­as „Klein-Adolf“, der am Tat­ort eines NSU-Mor­des anwe­send war, sind sym­pto­ma­tisch für die­se sys­te­ma­ti­sche Abschottung.
Zusam­men­fas­send kann man sagen: Der „Ver­fas­sungs­schutz“ hat nicht nur im NSU-Kom­plex, son­dern ins­ge­samt Neo­na­zi-Sze­nen und ‑Par­tei­en über sei­ne bezahl­ten Spit­zel mit­fi­nan­ziert, ras­sis­tisch geprägt, gegen poli­zei­li­che Ermitt­lun­gen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwä­chen. Über sein kri­mi­nel­les und unkon­trol­lier­ba­res V‑Leu­te-Sys­tem ver­strickt er sich heil­los in kri­mi­nel­le und mör­de­ri­sche Machen­schaf­ten der Nazi­sze­nen. Auf die­se Wei­se, so mein Fazit, ist er selbst inte­gra­ler Bestand­teil des Neo­na­zi-Pro­blems gewor­den, jeden­falls konn­te er kaum etwas zu des­sen Lösung oder Bekämp­fung bei­tra­gen. Denn trotz der hohen Zahl an V‑Leuten im Nazi-Spek­trum haben sich die Erkennt­nis­se des Ver­fas­sungs­schut­zes kaum gestei­gert, jeden­falls hat er als „Früh­warn­sys­tem“, das er sein soll, ins­ge­samt sys­tem- und ideo­lo­gie­be­dingt versagt.
Doch aus­ge­rech­net sol­che skan­dal­träch­ti­gen und letzt­lich demo­kra­tie­wid­ri­gen Geheim­in­sti­tu­tio­nen erhal­ten im Zuge des Anti­ter­ror­kampfs wie­der unver­dien­ten Auf­trieb. Statt ernst­haf­te Kon­se­quen­zen aus ihren skan­dal­rei­chen Kar­rie­ren und Desas­tern zu zie­hen, wird der „Ver­fas­sungs­schutz“ – geschichts­ver­ges­sen — wei­ter auf­ge­rüs­tet und mas­sen­über­wa­chungs­taug­li­cher gemacht – anstatt die Bevöl­ke­rung end­lich wirk­sam vor ssei­nen Machen­schaf­ten zu schüt­zen. Ja, er darf sich inzwi­schen sogar ganz legal kri­mi­nel­ler V‑Leute bedie­nen und die­se gegen Ermitt­lun­gen der Poli­zei abschir­men – ein rechts­staats­wid­ri­ger Frei­brief für kri­mi­nel­les Han­deln in staat­li­cher Mis­si­on. So unglaub­lich es klin­gen mag: Bis­he­ri­ge Skan­da­le und ille­ga­le Prak­ti­ken wer­den prak­tisch lega­li­siert – und damit die obzö­nen Ver­flech­tun­gen des VS in gewalt­tä­ti­ge Naziszenen.
Und all dies, obwohl Geheim­diens­te ohne­hin Fremd­kör­per sind in der Demo­kra­tie. War­um? Weil die­se Insti­tu­tio­nen, die Ver­fas­sung und Demo­kra­tie eigent­lich schüt­zen sol­len, selbst demo­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en der Trans­pa­renz und Kon­trol­lier­bar­keit wider­spre­chen. Die regu­lä­re par­la­men­ta­ri­sche Kon­trol­le geheim­dienst­li­cher Arbeit erfolgt ihrer­seits geheim, also wenig demo­kra­tisch; und Gerichts­pro­zes­se, in denen etwa V‑Leute eine Rol­le spie­len, wer­den ten­den­zi­ell zu Geheim­ver­fah­ren, in denen Akten geschred­dert, mani­pu­liert und geschwärzt sowie Zeu­gen ganz oder teil­wei­se gesperrt wer­den. Die­ses Ver­dun­ke­lungs­sys­tem frisst sich weit hin­ein in Jus­tiz und Par­la­men­te, die Geheim­diens­te kon­trol­lie­ren sol­len — und meist dar­an schei­tern. Des­halb nei­gen Geheim­diens­te auch in Demo­kra­tien zu Ver­selb­stän­di­gung und Macht­miss­brauch, wie ihre Geschich­te ein­drucks­voll belegt. Wer sol­che Geheim­diens­te wei­ter auf­rüs­tet, statt sie rechts­staat­lich wirk­sam zu zügeln, schä­digt Demo­kra­tie, Bür­ger­rech­te und Rechtsstaatlichkeit.
Letzt­lich wird sich nur dann etwas grund­le­gend ändern, wenn die Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den als Geheim­diens­te auf­ge­löst, ihnen die Lizenz zur Gesin­nungs­kon­trol­le, zum Füh­ren von V‑Leuten und zum Infil­trie­ren von poli­ti­schen Sze­nen und Grup­pen grund­sätz­lich ver­sagt wer­den. Die­ser For­de­rung nam­haf­ter Bür­ger­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen steht nicht etwa das Grund­ge­setz ent­ge­gen und auch kei­ne Lan­des­ver­fas­sung. Denn danach muss der Ver­fas­sungs­schutz kei­nes­wegs Geheim­dienst sein.
Und wir for­dern dar­über hin­aus eine rück­halt­lo­se Auf­klä­rung und kon­se­quen­te Ahn­dung aller Neo­na­zi-Ver­bre­chen und aller staat­li­chen Ver­stri­ckun­gen in gewalt­be­rei­te Neo­na­zi-Sze­nen. Wir for­dern ernst­haf­te Anstren­gun­gen gegen struk­tu­rel­len und insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus in Staat und Gesell­schaft, eine huma­ne Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik, unab­hän­gi­ge Stel­len zur Kon­trol­le der Poli­zei, die Stär­kung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Pro­jek­te gegen Rechts und bes­se­re Unter­stüt­zung von Opfern rech­ter Gewalt und ihren Angehörigen.
Und nicht zuletzt: Auch nach der bevor­ste­hen­den Urteils­ver­kün­dung im NSU-Pro­zess vor dem Ober­lan­des­ge­richt Mün­chen darf es kei­nen Schluss­strich unter Auf­ar­bei­tung und Auf­klä­rung des NSU-Kom­ple­xes geben. Denn es ist noch all­zu viel im Dunkeln.“

Dr. Rolf Göss­ner ist Rechts­an­walt, Publi­zist und Kura­to­ri­ums­mit­glied der Inter­na­tio­na­len Liga für Men­schen­rech­te (Ber­lin), seit 2007 stellv. Rich­ter am Staats­ge­richts­hof der Frei­en Han­se­stadt Bre­men. Mit­her­aus­ge­ber der Zwei­wo­chen­schrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietz­ky“ sowie des jähr­lich erschei­nen­den „Grund­rech­te-Reports. Zur Lage der Bür­ger- und Men­schen­rech­te in Deutsch­land“ (Fischer-TB). Aus­ge­zeich­net mit der Theo­dor-Heuss-Medail­le 2008; 2012 mit dem Köl­ner Karls­preis für enga­gier­te Lite­ra­tur und Publi­zis­tik und 2013 mit dem Bre­mer Kul­tur- und Frie­dens­preis. Sach­ver­stän­di­ger in Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren von Bun­des­tag und Land­ta­gen. Mit­glied in der Jury zur Ver­lei­hung des Nega­tiv­prei­ses BigBrotherAward.