Anlässlich des heutigen 25. Jahrestages des Brandanschlags in Solingen am 29.5.1993 gedenken wir der Opfer: Gürsün İnce (* 4. Oktober 1965), Hatice Genç (* 20. November 1974), Gülüstan Öztürk (* 14. April 1981), Hülya Genç (* 12. Februar 1984), Saime Genç (* 12. August 1988). Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15 Jahre alte Bekir Genç wurden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen. Wir dokumentieren gerne und dankbar einen Redebeitrag, den der hoch geschätzte Bremer Menschenrechtsanwalt Rolf Gössner anlässlich einer Gedenkveranstaltung am 23. Mai 2018 im Theater- und Konzerthaus Solingen hielt, an der über 300 Menschen teilgenommen haben:
„Wir gedenken heute der Opfer eines der schwersten Verbrechen in der Geschichte der Republik: des Solinger Brand- und Mordanschlags vom 29. Mai 1993, bei dem fünf junge Angehörige der Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor dem rassistisch motivierten Anschlag hatte — nach einer verantwortungslosen Debatte um „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ — eine große Koalition aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl demontiert. „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“. Klarer kann man den Zusammenhang dieser beiden Ereignisse kaum formulieren, wie er seinerzeit auf einer Mauer entlang der Unteren Wernerstraße nahe des Anschlagsorts zu lesen war. Auf diesen Zusammenhang hatte ich bereits in meiner Rede anlässlich des Gedenkens zum 20. Jahrestag vor fünf Jahren hier in Solingen aufmerksam gemacht. Derzeit befinden wir uns wieder in einer äußerst prekären Phase, in der eine rechtspopulistische Debatte bis hinein in die Mitte der Gesellschaft stattfindet — eine Debatte um Überfremdung, Asylmissbrauch und kriminelle Ausländer, um Asyl- und Abschiebezentren und beschleunigte Abschiebungen — eine unheilvolle Angstdebatte, die von Seiten der Politik, insbesondere von CSU-Heimatschutzminister Horst Seehofer und anderen, befeuert wird und die geeignet ist, die Situation hierzulande gefährlich aufzuheizen.
Seit 2015 ist angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen zwar viel von „Wir schaffen das“ und von „Willkommenskultur“ die Rede, die in der Tat auch in weiten Teilen der Republik anzutreffen ist und die die allermeisten Betroffenen zu schätzen wissen. Doch diese weitgehend zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit wird zunehmend begleitet und konterkariert — zum einen von einem weiter verschärften Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: >Grenzen dicht, sichere Herkunftsländer küren, massenhaft schneller abschieben<; zum anderen von alltäglicher rassistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt – eine besorgniserregende Entwicklung, die trotz ihrer blutigen Bilanz gegenüber der so medienwirksamen und angstbesetzten islamistischen Terrorgefahr mehr und mehr aus dem öffentlichen Blick gerät.
Doch die Terrorangriffe gegen Migranten, Asylbewerber und andere Geflüchtete gehen weiter und die Täter sind mitten unter uns. Immer wieder brennen Flüchtlingsheime, die rassistischen Übergriffe auf Geflüchtete, ehrenamtliche Helfer, auch auf Moscheen reißen nicht ab – und die Angriffe kommen mehr und mehr aus der Mitte einer nach rechts driftenden und sozial gespaltenen Gesellschaft: 2015 kam es zu fast 1.500 einschlägigen Gewalttaten, darunter über 1.000 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte – das sind fünfmal mehr als 2014. 2016 kam es nach Angaben der Bundesregierung zu mehr als 3.500 Übergriffen auf Flüchtlingsheime sowie auf Geflüchtete – also zu fast zehn pro Tag. 2017 waren es noch über 1.500 Übergriffe. Das heißt: Menschen, die Schutz vor Verfolgung, Ausbeutung und Tod suchen, müssen hierzulande um Leib und Leben fürchten.
In der Bundesrepublik sind allein seit 1990 fast 200 Menschen von rassistisch und fremdenfeindlich eingestellten Tätern umgebracht worden. Der Mordanschlag von Solingen war der vorläufige „Höhepunkt“ – besser: Tiefpunkt — einer Serie weiterer fremdenfeindlicher Attentate: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus, Lübeck und Mölln sind zu traurigen Fanalen geworden für diesen gewalttätigen, menschenverachtenden Rassismus. Nach den NSU-Morden mussten wir zehn und nach dem Münchener Amoklauf vom Juli 2016 neun weitere Tote hinzurechnen. Wir müssen also konstatieren: Nach dem Solinger Brandanschlag ist hierzulande nicht etwa Besinnung eingekehrt, sondern viel Entsetzliches passiert.
Dabei haben uns die langjährige Nichtaufklärung der NSU-Mordserie sowie die Ausblendung ihres rassistischen Hintergrunds drastisch vor Augen geführt, dass „Verfassungsschutz“ und Polizei im Bereich „Rechtsextremismus / Neonazismus“ grandios versagt haben, was auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders schockierend ist. Das waren nicht nur Pannen und Unfähigkeit, wie gerne kolportiert — nein, da waren ideologische Scheuklappen und stuktureller Rassismus im Spiel, die zu Ignoranz und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums führten und damit zu einem beispiellosen Staatsversagen – begünstigt übrigens auch durch eine jahrzehntelang einseitig gegen sog. Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus ausgerichtete „Sicherheitspolitik“. Hier werden bekanntlich alle Register gezogen, die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen und die im Zuge eines exzessiven „Antiterrorkampfes“, besonders nach 9⁄11, erheblich verschärft und ausgeweitet wurden.
Lassen Sie mich — einem Wunsch der Organisatoren dieser Gedenkveranstaltung folgend — noch auf ein besonders brisantes Problem eingehen: Es geht um die verhängnisvolle Rolle des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“ und sein V‑Leute-System, das sich als unkontrollierbar und erhebliches Gefahrenpotential für Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaat herausgestellt hat. Im Laufe der 1990er Jahre ist in Neonazi-Szenen und ‑Parteien ein regelrechtes Netzwerk aus V‑Leuten, Verdeckten Ermittlern und Lockspitzeln entstanden – das den Kabarettisten Jürgen Becker zu dem bösen Scherz verleitete: Bei Nazi-Aufmärschen sei er sich oft nicht mehr ganz so sicher, ob es sich um echte Nazis handelt oder um einen „Betriebsausflug des Verfassungsschutzes“. In dieser kabarettistischen Überspitzung liegt ein wahrer Kern.
Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass in Neonaziszenen rekrutierte V‑Leute nicht etwa „Agenten“ des demokratischen Rechtsstaates sind, sondern staatlich alimentierte Nazi-Aktivisten – also meist gnadenlose Rassisten und Gewalttäter, über die sich der Verfassungsschutz heillos in kriminelle Machenschaften verstrickt. Brandstiftung, Körperverletzung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung terroristischer Vereinigungen – das sind nur einige der Straftaten, die V‑Leute im und zum Schutz ihrer Tarnung begehen.
Erinnert sei etwa an den V‑Mann Lepzien, der in den 80er Jahren als Sprengstoff-Lieferant für die Nazi-Szene tätig war und dafür auch verurteilt, allerdings recht bald begnadigt wurde. Erinnert sei gerade hier in Solingen an den V‑Mann Bernd Schmitt, dessen Kampfsportverein “Hak Pao” Treffpunkt und Trainingscenter der militanten Neonazi-Szene in Solingen war; aus diesem Kreis stammten drei jener jungen Männer, die für den Solinger Brandanschlag verurteilt wurden. Aus heutiger Sicht stellt sich diese Kampfsportschule als Gemeinschaftsprojekt des Verfassungsschutzes und seines V‑Manns dar – als braune Kontaktbörse unter den Augen des Geheimdienstes, als Schulungszentrum für die Nazi-Szene, in dem gewaltbereite Neonazis zusammen mit Orientierung suchenden Jugendlichen zum Nahkampf ausgebildet worden sind. Da versuchen Sozialarbeiter, junge Menschen mühsam aus der rechten Szene herauszubrechen – und hier gab ein Geheimdienst Steuergelder für einen V‑Mann aus, der exakt das Gegenteil betrieben hat.
Im Fall des Nichtermittlungsskandals rund um die NSU-Mordserie waren Geheimdienste mit Dutzenden V‑Leuten — etwa Tino Brandt, alias „Otto“ — auch in dem Neonazi-Sammelbecken „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, in dem die späteren mutmaßlichen Mörder organisiert waren und aus dem heraus sich der NSU und sein Unterstützerumfeld unter den Augen der Geheimdienste entwickeln konnten. Der „Verfassungsschutz“, wie wir inzwischen wissen, war mit vielen seiner bezahlten und hochkriminellen V‑Leute hautnah dran an den späteren mutmaßlichen Mördern, ihren Kontaktpersonen und Unterstützern; sie mordeten quasi unter staatlicher Aufsicht. Trotzdem – oder muss man sagen: deswegen? – wollen die Inlandsgeheimdienste so gut wie nichts mitbekommen haben, haben sie die NSU-Mordserie über lange Jahre hinweg weder verhindert noch zu ihrer Aufdeckung beigetragen können oder wollen. Diese Mordserie hätte, so viel ist inzwischen klar geworden, wohl verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz seine strafrechtsrelevanten Erkenntnisse über die Untergetauchten und ihre Unterstützer rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte, wozu er gesetzlich verpflichtet war.
Auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts München müssten jedenfalls weit mehr Angeklagte sitzen als Zschäpe, Wohlleben & Co.: Hier fehlen die involvierten V‑Leute, ihre V‑Mann-Führer und alle für Versagen, Unterlassungen und Vertuschen Verantwortlichen aus Verfassungsschutz, Polizei und Sicherheitspolitik.
Das Erschreckendste, was ich bei meinen Recherchen zu meinem Buch „Geheime Informanten. V‑Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“ selbst erfahren musste, ist, dass der Verfassungsschutz seine kriminellen V‑Leute regelrecht deckt und systematisch gegen polizeiliche und justitielle Ermittlungen abschirmt, um sie vor Enttarnung zu schützen und weiter abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich abzuschalten. So war es auch im Umfeld des NSU: Auch hier hat er Fahndungsmaßnahmen torpediert, Akten und Beweise vernichtet, seinen braunen V‑Leuten polizeiliche Observationen verraten oder Kontaktpersonen vor polizeilichen Abhöraktionen gewarnt. Das ist strafbare Strafvereitelung im Amt, psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten — doch die Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden, selbst wenn Unbeteiligte schwer geschädigt wurden.
Seit Aufdeckung der NSU-Mordserie sind die „Verfassungsschutzbehörden“ mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens, ihrer ideologischen Verblendung und Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln und zu vernichten. Auch die Behinderungen der polizeilichen Ermittlungen im Fall des V‑Mann-Führers Andreas Temme, alias „Klein-Adolf“, der am Tatort eines NSU-Mordes anwesend war, sind symptomatisch für diese systematische Abschottung.
Zusammenfassend kann man sagen: Der „Verfassungsschutz“ hat nicht nur im NSU-Komplex, sondern insgesamt Neonazi-Szenen und ‑Parteien über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Über sein kriminelles und unkontrollierbares V‑Leute-System verstrickt er sich heillos in kriminelle und mörderische Machenschaften der Naziszenen. Auf diese Weise, so mein Fazit, ist er selbst integraler Bestandteil des Neonazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen. Denn trotz der hohen Zahl an V‑Leuten im Nazi-Spektrum haben sich die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes kaum gesteigert, jedenfalls hat er als „Frühwarnsystem“, das er sein soll, insgesamt system- und ideologiebedingt versagt.
Doch ausgerechnet solche skandalträchtigen und letztlich demokratiewidrigen Geheiminstitutionen erhalten im Zuge des Antiterrorkampfs wieder unverdienten Auftrieb. Statt ernsthafte Konsequenzen aus ihren skandalreichen Karrieren und Desastern zu ziehen, wird der „Verfassungsschutz“ – geschichtsvergessen — weiter aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher gemacht – anstatt die Bevölkerung endlich wirksam vor sseinen Machenschaften zu schützen. Ja, er darf sich inzwischen sogar ganz legal krimineller V‑Leute bedienen und diese gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen – ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission. So unglaublich es klingen mag: Bisherige Skandale und illegale Praktiken werden praktisch legalisiert – und damit die obzönen Verflechtungen des VS in gewalttätige Naziszenen.
Und all dies, obwohl Geheimdienste ohnehin Fremdkörper sind in der Demokratie. Warum? Weil diese Institutionen, die Verfassung und Demokratie eigentlich schützen sollen, selbst demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Die reguläre parlamentarische Kontrolle geheimdienstlicher Arbeit erfolgt ihrerseits geheim, also wenig demokratisch; und Gerichtsprozesse, in denen etwa V‑Leute eine Rolle spielen, werden tendenziell zu Geheimverfahren, in denen Akten geschreddert, manipuliert und geschwärzt sowie Zeugen ganz oder teilweise gesperrt werden. Dieses Verdunkelungssystem frisst sich weit hinein in Justiz und Parlamente, die Geheimdienste kontrollieren sollen — und meist daran scheitern. Deshalb neigen Geheimdienste auch in Demokratien zu Verselbständigung und Machtmissbrauch, wie ihre Geschichte eindrucksvoll belegt. Wer solche Geheimdienste weiter aufrüstet, statt sie rechtsstaatlich wirksam zu zügeln, schädigt Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Letztlich wird sich nur dann etwas grundlegend ändern, wenn die Verfassungsschutzbehörden als Geheimdienste aufgelöst, ihnen die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Führen von V‑Leuten und zum Infiltrieren von politischen Szenen und Gruppen grundsätzlich versagt werden. Dieser Forderung namhafter Bürgerrechtsorganisationen steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung. Denn danach muss der Verfassungsschutz keineswegs Geheimdienst sein.
Und wir fordern darüber hinaus eine rückhaltlose Aufklärung und konsequente Ahndung aller Neonazi-Verbrechen und aller staatlichen Verstrickungen in gewaltbereite Neonazi-Szenen. Wir fordern ernsthafte Anstrengungen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus in Staat und Gesellschaft, eine humane Asyl- und Migrationspolitik, unabhängige Stellen zur Kontrolle der Polizei, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte gegen Rechts und bessere Unterstützung von Opfern rechter Gewalt und ihren Angehörigen.
Und nicht zuletzt: Auch nach der bevorstehenden Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München darf es keinen Schlussstrich unter Aufarbeitung und Aufklärung des NSU-Komplexes geben. Denn es ist noch allzu viel im Dunkeln.“
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), seit 2007 stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ sowie des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB). Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008; 2012 mit dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik und 2013 mit dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward.