Ich sitze zehn Meter von Beate Zschäpe entfernt im NSU-Prozess – und fühle nichts. Geht das? Kann man sich an rassistisches Morden und staatliches Versagen gewöhnen? Darf man?
Ich besuche den NSU-Prozess in München am 215. Verhandlungstag als Praktikantin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, weiß, Cis-Frau und Studentin. Ich dachte, dass mit Zschäpe und Wohlleben in einem Raum zu sein, richtig heftig werden würde. Ich hatte in den Monaten davor Berichte über den Prozess gelesen und Journalist_innen gehört und gesehen, die das Verhalten der Angeklagten beschrieben haben. Sie seien arrogant, desinteressiert und zeigten sich unberührt von den Zeug_innenaussagen, selbst wenn es sich um Angehörige der Opfer handelt. Damals hatte mich das fassungslos gemacht. Bei meinem eigenen Prozessbesuch geht von der Anklagebank keine besondere Wirkung auf mich aus.
Zschäpe, Wohlleben, Gerlach, Eminger und Schultze sitzen da auf der Anklagebank, nur wenige Meter Luftlinie von mir entfernt, mit Laptop vor sich. Sie wirken die meiste Zeit gelangweilt. Nur wenn der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und die Anwält_innen sich einen ihrer skurrilen Schlagabtausche liefern, müssen sie lächeln. So wie auch ich lächeln muss.
Wohlleben und Zschäpe lassen manchmal ihren Blick über die Zuschauer_innentribüne streifen. Ich nehme mir vor, ihnen meine Verachtung und Wut zu vermitteln, aber unsere Blicke treffen sich nicht.
Ralf Wohlleben hat fast jedes Mal, wenn ich zu ihm geschaut habe, Haribos gegessen. Die hat er auf einem Häufchen auf seinem Tisch vor sich liegen. Auch die Nazis haben sich in den letzten zwei Jahren an den Prozessalltag gewöhnt.
Als ich das erste Buch zum NSU-Komplex gelesen habe, musste ich es noch mehrfach aus der Hand legen, weil ich kurz Pausen machen musste, wenn mich die Informationen überfordert haben. Auch, weil sie unglaublich schienen.
Noch am Morgen vor meinem Besuch im NSU-Prozess denke ich, dass ich im Gerichtssaal wahrscheinlich oft traurig und wütend werde. Am 215. Verhandlungstag sind zwei Zeugen geladen. Es geht um die Arbeit des Brandenburger Verfassungsschutzes Ende der 90er Jahre und die kriminaltechnische Auswertung von Beweismaterial aus dem mutmaßlich letzten Unterschlupf des NSU-Kern-Trios in Zwickau, der von Beate Zschäpe in Brand gesetzt worden war. Einer der Zeugen an diesem Tag ist Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Brandenburg. Ein Mann Anfang 60, Beamter. Er tritt im Gerichtssaal in einem grauen, kurzärmeligen Kapuzenpulli auf. Man könnte sagen, er hat sich vermummt. Von der Zuschauer_innentribüne aus kann ich nicht erkennen, wie er aussieht und ich kann ihn auch kaum verstehen, weil er sich fast die ganze Zeit seine Hand vor den Mund hält und nuschelt.
Dieser Verfassungsschützer hat sich über Jahre regelmäßig mit einem V‑Mann namens Carsten Szczepanski getroffen. Sczcepanski, der als V‑Mann den Decknamen «Piatto» trägt, ist ein krimineller Nazi, verurteilt wegen rassistischen versuchten Totschlags, und hatte mit dem NSU-Kern-Trio zu tun. Als Zeuge wird der Beamte nacheinander vom Vorsitzenden, von Verteidiger_innen und den Nebenklage-Anwält_innen befragt. Seine Befragung nimmt den Großteil des Prozesstages ein und wird bis zum Abend nicht abgeschlossen.
Da ist er wieder, dieser Moment, in dem man vor Empörung überschäumen müsste: Auf fast alle Fragen antwortet er, dass er sich nicht erinnern könne, das sei ja alles lange her. Oder Sätze wie: «Wenn das so in den Akten steht, dann wird es wohl so gewesen sein.»
Die Fragen an ihn stützen sich auf jene Akten, die auch den anderen Prozessbeteiligten vorliegen. Darunter sind Berichte seines V‑Mannes «Piatto», so genannte Deckblattberichte, oder auch Protokolle aus dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss, in dem er als Zeuge schon einmal befragt worden war. Während die Fragen gestellt werden, blättern die Nebenklage-Vertreter_innen und auch der Richter ab und zu suchend in diesen Dokumenten. Denn aus ihnen geht hervor, dass er einiges zu berichten hätte. Sein V‑Mann hatte ihm damals von drei «sächsischen Skinheads» erzählt, deren Beschreibung gut auf die eigentlich aus Thüringen stammenden Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe passt. Das war 1998, also zwei Jahre vor dem ersten bekannten Mord des NSU. Der Zeuge wusste damals von Szczepanski, dass er, mindestens über Dritte, etwas mit den drei untergetauchten Nazis zu tun hatte. Er hatte Informationen darüber, dass die sich eine Waffe organisieren wollten, «weitere» Banküberfälle planten und sich vielleicht ins Ausland absetzen wollten.
Doch der Herr vom Verfassungsschutz Brandenburg, jetzt im Oberlandesgericht, hat erkennbar keine Lust, zur Aufklärung beizutragen.
Mich wundert das nicht einmal. Dass er, wenn er behauptet, er wisse nicht, was mit seinen Berichten und den Informationen passiert sei, so wirkt, als würde er lügen. Ist das nach all den Prozesstagen, nach fast vier Jahren der Enthüllungen über Geheimdienstverstrickungen in den NSU-Komplex ein Verhalten, das ich innerhalb eines Rechtsstaates erwarte?
Das Einzige, woran ich mich nie gewöhnen werde, sind die Schilderungen der Angehörigen der Ermordeten und der vielen anderen Opfer des NSU. Keine Abstumpfung, nur Entsetzen über das Leid. Aber von ihnen ist am 215. Verhandlungstag niemand da. Ihr Leiden spielt heute keine Rolle.
Doch um sie geht es. Dass man es hinnehmen muss, dass der NSU-Prozess weder die Verbrechen aufklären und erst recht nicht die staatliche Verstrickung darin ermitteln wird, ist eine Sache. Und es ist zum jetzigen Zeitpunkt auch noch unklar, was bis zum Ende des Verfahrens passiert und was am Ende das Urteil «leisten» kann. Aber die andere Sache und das Entscheidende ist, dass man sich nicht an das Leid gewöhnt.
Ich will mich nicht daran gewöhnen und ich darf nicht. Schlimm genug, dass ich mir das immer wieder vergegenwärtigen muss…
Nora Zirkelbach studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.