
Im Süden: Hinterland
Unter dem Motto „100 Jahre Abschiebehaft“ hat die gesellschaftskritische Quartalsschrift des bayrischen Flüchtlingsrates Hinterland mit seiner ersten Ausgabe dieses Jahres nicht nur einen brisanten Schwerpunkt gesetzt, sondern auch eine Kampagne lanciert. Die Kampagne soll mehr Öffentlichkeit für die Geschichte und Aktualität von Abschiebung, Abschiebehaft und Abschottungspolitik schaffen. Die Absurdität des Konzeptes Abschiebehaft wird in den zahlreichen Beiträgen sehr deutlich: die Inhaftierten haben sich keinerlei Straftat schuldig gemacht und werden dennoch ihrer Freiheit beraubt; und oft scheint im deutschen Kontext die viel gelobte Rechtsstaatlichkeit bei dieser Haft wenig Bedeutung zu haben.
Normales Leben minus Freiheit
Die Abschiebehaft hat ihren Ursprung im Jahr 1919 in der Inhaftierung vor allem osteuropäischer Jüd*innen. Hundert Jahre später, im Frühjahr 2019, hat die Thematik immer noch, beziehungsweise erneut eine erhöhte Relevanz in Deutschland. Denn gerade vor dem Hintergrund von Seehofers harmonisch klingendem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ kann von einer neuen Welle von Verhaftungen ausgegangen werden. [LINK Text Dünnwald] Ein Gesetz, welches allein die inoffizielle Weitergabe eines Abschiebetermins strafbar macht, welches einen Status unterhalb der Duldung erfindet und welches elementare Grundrechte außer Kraft setzt, ist auf der Zielgeraden, deutsche Realität zu werden.
Rund um die Thematik kommen eine Bandbreite an Akteur*innen zu Wort: Verschiedene Initiativen, Anwält*innen und Betroffene beschreiben Aspekte der Abschiebehaft aus sehr unterschiedlichen Perspektiven – und doch mit einer ähnlichen Dringlichkeit. Teils geht es um den rechtlichen Rahmen dieser Haft oder die Missachtung von Grundrechten, teils um emotionale Auswirkungen und persönliche Geschichten aus dieser deliktlosen Sonderhaft. Eine Erste-Hilfe-Handreichung gibt für den Fall einer drohenden Abschiebung Werkzeuge an die Hand und erläutert, welche Handlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten es für Außenstehende gibt.
Das Vierteljahresheft beschäftigt sich explizit und sehr ausführlich mit einer Thematik, die im deutschen Mainstream wenig oder gar keine Beachtung findet. Abschiebehaft wird auch verstanden als „normales Leben minus Freiheit“, wie es ein Richter mal formulierte: Ein seltsamer Ausspruch, da sich sofort die Frage stellt, was an einem Leben ohne Freiheit, so groß dieser Begriff auch sein mag, noch normal ist.

Das Magazin scheint einen hohen Anspruch an Wissenschaftlichkeit bei gleichzeitiger Verständlichkeit zu verfolgen. Designschüler*innen aus München haben sehr vielfältige künstlerische Arbeiten gestaltet, die den Texten nochmal eine zusätzliche Bedeutung geben und teils eine außerordentliche Schwere verleihen. All diese Elemente führen dazu, dass man weder eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift, noch ein Kunstmagazin, noch eine Aktivismuszeitschrift vor sich hat, sondern eine sehr gelungene sowie lesenswerte und gleichzeitig aufrüttelnde Mischung aus diesen dreien.
Im Norden: Der Schlepper
Auch im Norden Deutschlands hat ein Flüchtlingsrat ein Magazin mit hochaktueller, der von Hinterland verwandten Thematik herausgegeben. Der Schlepper, das Magazin des Flüchtlingsrats in Schleswig-Holstein, setzt das Schwerpunktthema „Europawahl“ und verknüpft dieses mit realen Geschichten von Flucht, Grenzen, Engagement und Politik.
Neben dem Fokus auf die Europawahl – fünf Kandidat*innen verschiedener Parteien hat der „Schlepper“ die identischen Fragen zum Thema Flucht gestellt – werden auch zahlreiche andere Themen und Probleme aufgegriffen. Parallelen zum Hinterland-Magazin aus dem Süden Deutschlands finden sich an mehreren Stellen, zum Beispiel dort, wo es um das Abschiebegefängnis Büren, das größte seiner Art in Deutschland, geht oder um die verhängnisvolle Relevanz des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“, das ProAsyl passender als „Hau-Ab-Gesetz“ bezeichnet.
Ein Bericht sehr persönlicher Eindrücke und Erfahrungen der Lage auf der griechischen Insel Lesvos zeigt die Dringlichkeit der immer wieder in Vergessenheit geratenen Situation tausender Menschen. Die Hamburger Fotojournalistin Marily Stroux, die sich nach jahrelanger Bespitzelung durch den Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienst mit ihrer Gegenwehr einen Namen gemacht hat, erzählt in diesem Bericht von „Ungerechtigkeit und organisierter Planlosigkeit“ auf der griechischen Insel, auf der das Warten die häufigste und nervtötendste Beschäftigung ist. Schwierigkeiten an allen Ecken: die Kriminalisierung von Seenotrettung erschwert die Arbeit von Helfer*innen vor Ort enorm, während zusätzlich Drangsalierungen durch Faschist*innen auf der Insel ein größer werdendes Problem darstellen.
Geschichten und Aspekte aus Schleswig-Holstein, europäischen Ländern und besonders auch aus Herkunfts- und Transitländern von Geflüchteten sind in dem Magazin zu finden – von einem lokal-verengtem Fokus auf das Bundesland der Redaktion kann also kaum die Rede sein. Bei allen Beiträgen ist auffallend, wie sehr die Geschichten und das Leid Geflüchteter mit europäischer und deutscher Politik zusammenhängen.
Die harten Realitäten der Abschottungspolitik an der bosnisch-kroatischen Grenze sind besonders an den sogenannten „Pushbacks“ zu sehen – das sind illegale Abschiebungen in Waldgebiete, oft einhergehend mit Gewaltanwendung, Bedrohungen und Diebstahl von Seiten der Grenzpolizeien. In den Beiträgen des Magazins wird die Hilflosigkeit greifbar, weil zwar immer öfter medial über diese unmenschlichen Praktiken berichtet wird, das aber nichts an deren bedrohlicher Existenz ändert.
In dem Abschnitt „Starke Seiten gegen Rechts“ greift das Magazin auch besonders antifaschistische Themen auch und schlägt einen Bogen zu wissenschaftlichen Untersuchungen der deutschen Gesellschaft und ihrer Entwicklung hin zum Autoritarismus. Interessant am Schlepper ist aber auch, dass parallel dazu ebenso popkulturelle Themen angesprochen werden: Eine HipHop-Veranstaltung in Schleswig-Holstein findet genauso ihren Platz wie der politische Gehalt eines „Feine Sahne Fischfilet“-Konzerts in Kiel.
Insgesamt scheint der Schlepper sich weniger – wie etwa Hinterland – auf ein Thema zu konzentrieren, sondern vielmehr zahlreiche Themen unter einen Hut zu bringen. Ein Querschnitt durch zahlreiche Regionen, Problematiken, Betroffenheiten und Hoffnungen ist hier zu finden.
Es ist sehr bemerkenswert, mit welcher Präzision diese beiden Magazine sich den Themen widmen. Andere Medien können sich von diesen beiden Magazinen eine Scheibe abschneiden, vor allem was Nachdruck und Weitblick hinsichtlich des Schwerpunkts und Brennpunkts Flucht und Migration angeht.
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Hinterland: online abrufen und auf Papier bestellen (Einzelpreis 4,50€, auch im Abo erhältlich)
Der Schlepper: online abrufbar, Möglichkeit eines kostenlosen Abonnements