Etwa sechs Millionen Menschen wurde die Chance verwehrt, an den Bundestagswahlen im September 2013 teilzunehmen. Formalrechtliche Ausländer_innen können nicht an Wahlen auf Landes- und Bundesebene teilnehmen, nur EU-Bürger_innen haben das Partizipationsrecht auf kommunaler Ebene. In der Regel werden im öffentlichen Diskurs zwei Lösungsansätze für diese Problematik genannt:
- die Erleichterung des Zugangs zur deutschen Staatsangehörigkeit und
- die Ausweitung des Wahlrechts auf kommunaler Ebene.
Beide Optionen dienen nur als Teillösungen, da Staatangehörigkeit keine Voraussetzung sein sollte, um fundamentale Rechte wahrnehmen zu können. Darüber hinaus würde eine Erleichterung der Einbürgerung weiterhin hohe Hürden mit sich bringen, denn momentan befinden sich offensichtlich diskriminierende Voraussetzungen im Einbürgerungsprozess – diese müssten erst drastisch verändert werden. Das Erlangen des Wahlrechts nur auf kommunaler Ebene ist keineswegs ausreichend. Obwohl es ein positiver Schritt auf dem Weg zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft wäre, werden wichtige Entscheidungen auf Landes- und Bundesebene getroffen, die alle in Deutschland lebenden Menschen beeinflussen und nicht nur die formalrechtlichen Deutschen.
Die aktuelle Situation, in der (Post-) Migrant_innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit der Zugang zu fundamentalen politischen Rechten verwehrt wird, ist nicht akzeptabel. Zwei entscheidende Bundesverfassungsgerichtsurteile zu den Änderungen der Landesverfassungen in Schleswig-Holstein und Hamburg Ende der 1980er Jahre sollten einigen formalrechtlichen Ausländer_innen das Wahlrecht auf kommunaler Ebene zugestehen. Das BVerfG entschied aber in beiden Fällen, dass das Grundgesetz festlegt, dass die Staatsgewalt vom «Volk» ausgehe. Trotz fehlender Klärung dieses Begriffs im Grundgesetz setzte das BVerfG ihn mit dem deutschen Volk gleich, was wiederum den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit bedeute. Zwei Jahre nach diesen Urteilen wurde interessanterweise das Grundgesetz ergänzt, um EU-Bürger_innen das Wahlrecht auf kommunaler Ebene zuzugestehen. Über Nacht wurden sie zu halben Mitgliedern des «deutschen Volkes».
Durch die Einführung der «Unionsbürger_innenschaft» und die Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf nur diese Gruppe wurde die Gesellschaft weiter unterteilt und in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse kategorisiert. Die formalrechtlich ausländische Wohnbevölkerung wird als «untertänig» behandelt, denn sie nimmt am gesellschaftlichen Leben teil und wird von den Entscheidungen der Bundes‑, Landes- und Kommunalpolitik beeinflusst (genauso wie formalrechtliche Deutsche), aber vom institutionellen Willensbildungsprozess ausgeschlossen. Dies stellt ein erhebliches Problem für die Demokratie dar. Ein neues Wahlrecht, dass die derzeitige Überlappung von Staats- und Wahlvolk bricht und das Prinzip der Rechtsunterworfenheit einführt, würde ein gerechteres politisches System einführen.
Betrachtet man die Wahlrechtsentwicklung in einem zeitlichen Längsschnitt, so ist seine Ausweitung auf allen Ebenen als eine logische Folge zu sehen. So wie das Frauenwahlrecht, das vor fast einhundert Jahren noch nicht existierte, heute als unabänderbar gilt, wird sich in Zukunft auch das Wahlrecht der Wohnbevölkerung unabhängig von der Staatsangehörigkeit als Prinzip etablieren müssen.
Miriam Aced ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Willy Brandt School of Public Policy, Universität Erfurt. Tamer Düzyol promoviert am Lehrstuhl für die Geschichte Westasiens an der Universität Erfurt. Dies ist eine stark gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in Aced, Miriam/Düzyol, Tamer/Rüzgar, Arif/Schaft, Christian (Hg.): Migration, Asyl und (Post-) Migrantische Lebenswelten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven migrationspolitischer Praktiken. Münster: Lit-Verlag. (ISBN: 978−3−643−12463−0).