Vor dem Amtsgericht Tiergarten ist ein 55-jähriger Mann angeklagt. Er weint. Nicht nach dem Urteil oder wenn er sich gegen die Vorwürfe seitens der Staatsanwaltschaft wehrt, sondern immer dann, wenn er schildert, wie es sich für ihn anfühlt, rassistisch behandelt zu werden. Wenn er von einem Polizist als Affe bezeichnet wird – zwei Mal. Auch auf Nachfrage, ob er ihn gerade richtig verstanden habe. Und wenn er beim Joggen im Park von Polizist_innen über Wochen auffällig beobachtet wird, wenn sie ganz langsam mit dem Streifenwagen neben ihm her fahren. »That’s a travesty!«, das sei eine Travestie, so beurteilt der Angeklagte das Verfahren, nachdem die Richterin ihr Urteil verkündet hat. Mit dieser Aussage verabschiedet er sich, als er aus Protest den Saal verlässt: »I can’t listen to this anymore«, er könne das nicht mehr hören.
Dass sein Prozess nur vor dem Hintergrund von Rassismus zu sehen ist, wird vom Gericht ignoriert. Die Richterin schafft es nicht einmal, das Wort »Rassismus« auszusprechen. Auch dann nicht, wenn sie das Phänomen beschreibt. Stattdessen spricht sie von strafmildernden Umständen wegen der »Biographie des Angeklagten« und äußert Verständnis dafür, dass er verärgert ist, aufgebracht nach lebenslangen Erfahrungen mit »Beleidigungen bis hin zu Belästigungen«.
Roger D. [Name geändert], ein 55-jähriger Schwarzer, der in Berlin und New York City lebt, ist angeklagt, weil er zwei Polizisten den Mittelfinger gezeigt haben soll. Die Tat habe sich in Berlin im Park Hasenheide im Oktober 2014 ereignet, während er dort joggen war. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beleidigung vor sowie Widerstand gegen die Polizei und fordert 40 Tagessätze à 50 Euro als Strafe.
Am Anfang des Prozesses wird D. gefragt, ob er sich äußern möchte. »Yes, I do want to make a statement. But I can’t do it in German«, er sei zu einer Aussage bereit, könne sie aber nicht auf Deutsch machen. Deswegen liest sein Anwalt seine Erklärung vor. Die Abläufe rund um den Mittelfinger, »die Geste«, wie es in der Verhandlung mehrfach heißt, hören sich aus Sicht des Angeklagten anders an als in der Anklage. Der Anwalt rattert das Geschriebene runter, spricht schnell und mit neutraler Stimme: D. gehe mehrmals in der Woche laufen und habe das Gefühl, von der Polizei anders behandelt zu werden als die Weißen Jogger_innen, die gleichzeitig im Park unterwegs seien. Besonders penetrant würden ihn die Streifenpolizist_innen beargwöhnen und beobachten.
Am fraglichen Tag habe er »die Geste« zwar gemacht, aber nur, weil ein Polizeiwagen derart nah an ihn herangefahren sei, dass er diesem sogar habe ausweichen müssen. Außerdem habe er während des Joggens Musik gehört. „Notorious BIG“ – zu dieser Rapmusik mache er immer viele Gesten, inklusive Mittelfingerzeigen, weil es zum Genuss dieser Musik dazu gehöre. Als er an diesem Tag gejoggt sei, sei er plötzlich an der rechten Schulter berührt worden. Er habe sich umgedreht und sei verwundert darüber gewesen, dass er einen Polizisten vor sich gesehen habe. Vor allem aber habe eine auf ihn gerichtete Pistole ihn in Panik versetzt. Als er die Waffe gesehen habe, sei er so schnell wie möglich fortgerannt. Als er dann aus dem Park rausgelaufen sei, hätten ihn plötzlich mehrere Polizeiautos und Polizist_innen gestoppt. Sie hätten ihn brachial festgenommen, ihm Handschellen angelegt und ihn auf die Polizeiwache gebracht. Sie hätten nicht erklärt, warum. Auf der Polizeiwache hätten ihn die Beamt_innen nicht zu seinen Rechten informiert.
Stattdessen hätten sie ihn herablassend behandelt. Ein Beamter habe gesagt: »Halt die Klappe, du Scheiß-Affe«. Der Angeklagte verstehe nicht alles im Deutschen. Aber er verstehe Deutsch, wenn ihn jemand einen Affen nenne.
Nachdem der Anwalt die Erklärung verlesen hatte, ergänzt der Angeklagte mit den Tränen ringend: Er erinnere sich an alles, was auf der Polizeistation passiert sei. Wenn ihn jemand als Affe beschimpfe, bedeute das, dass er als nicht nur minderwertig, sondern nicht einmal als Mensch anerkannt werde. Als Roger D. von den Verletzungen und Schmerzen an seinen Armen erzählt, die die Festnahme durch die Polizei bei ihm ausgelöst hat, zittert seine Stimme.
Im Anschluss handelt die Richterin entlang detaillierter Fragen die Abläufe im Park Hasenheide ab. Der Angeklagte sagt, er habe die Polizisten nicht angeschaut, habe sie wegen der Musik nicht gehört, als sie ihn aufgefordert hätten, stehen zu bleiben. Die Polizei würde in ihrer Version lügen, sagt Roger D. Eine Gruppe Polizist_innen habe nach seiner Festnahme vor ihm zusammengesessen, über ihn gelacht und sich auf eine abgesprochene Version des Vorfalls geeinigt.
Mehrmals während der Verhandlung fragt die Richterin den Angeklagten, ob er noch etwas sagen will. Jedes Mal bedankt sich Roger D. dann mehrfach für ihre Zeit und dafür, dass er hier seine Sicht der Dinge habe vortragen können.
Im Prozess sagen auch die zwei Polizeibeamten aus, die ihm »die Geste« vorwerfen und auf deren Bericht die Anklage basiert. Die beiden machen »die Geste« auch vor, wie Roger D. die Mittelfinger gezeigt haben soll. »So wie im Zirkus«, sagt ein Beamter. Sie beschreiben den Angeklagten als völlig unkontrolliert. Roger D. habe – und diesen Kommentar will der Polizist nicht als Metapher verstanden wissen — »richtig geschäumt vor Wut«. Sie hätten ihn nach dem Ausweis fragen wollen, als er wie eine »Explosion« gewirkt habe, »aufgebracht« und »noch aggressiver als vorher«. Er habe mit den Armen »wild um sich gefuchtelt«. »Auf mich hat es wie Schlagen gewirkt«, bewertet einer der Polizisten das Geschehen. Durch die Aussagen der Beamten ziehen sich durchweg rassistische Beschreibungen des Angeklagten.
Aber die zwei Beamten mit weißer Hautfarbe können dessen ungeachtet vor der Weißen Richterin sicher auftreten. Manchmal behaupten sie, dass ihre Fragen oder die des Anwalts nicht von Relevanz seien. Ab und zu verweisen sie lässig auf die Akte, anstatt Fragen zu beantworten. Sie wirken fast genervt von der Befragung vor Gericht, sie tun so als sei ohnehin mehr als offensichtlich, dass ihre Version der Geschichte zu glauben sei.
Und so kommt es auch: Es wird offensichtlich, dass die Aussage von Roger D. nicht annähernd so viel Gewicht hat wie der Bericht und die Aussagen eines Polizisten und seines Kollegen. Die berühmte »Aussage gegen Aussage«- Situation wird von der Richterin nicht als solche behandelt. Zwei Weiße Polizisten beschuldigen einen Schwarzen Jogger, ihnen den Mittelfinger gezeigt zu haben. Aus Sicht der Richterin ist die Version des Angeklagten »nicht glaubhaft« und seine »Wahrnehmung nicht zuverlässig«.
Immerhin: Im Abschlussplädoyer rückt der Staatsanwalt vom Vorwurf des Schlages und Widerstands gegen die Amtspersonen ab. Es sei nicht erwiesen und hierfür beantragt der Staatsanwalt Freispruch. Aber Roger D. sei auch nach der Beweisaufnahme schuldig der Beleidigung in »ehrverletzender Weise«. Ob Roger D. eine Waffe gesehen habe oder ein Pfefferspray mit einer solchen verwechselt haben könnte, wischt der Staatsanwalt mit einem lapidaren „Schon möglich« vom Tisch.
Roger D. wird von der Richterin wegen Beleidigung verurteilt. In ihrer Begründung sagt sie, sie habe Verständnis für den Angeklagten und seine Lebenserfahrungen: »Das hab‘ ich strafmildernd berücksichtigt«. 40 Tagessätze à 30 Euro, statt 50. Die Richterin setzt zu einer Rechtfertigung an: »Das Urteil heißt nicht, dass ich nicht ihre besondere Situation…«, doch in diesem Moment wird sie aus den Reihen der Prozessbeobachter_innen unterbrochen. Einige können ihre Empörung über diesen Prozess nicht mehr für sich behalten. Sie fordern die Richterin auf, das, worüber sie da spricht, doch beim Namen zu nennen. Ein, zwei Stimmen rufen laut: »Das ist Rassismus!«