„Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Selbst Gott kann die Wahrheit nicht ändern. Das können nur Historiker.“ Der das sagt, ist Professor Nicholas Kittri, der hoch betagte Neffe des Widerstandskämpfers Leon Feldhendler, dem an diesem Tag postum ein hoher Orden des polnischen Militärs verliehen wird. Anlass ist der 75. Jahrestag des Häftlingsaufstands im deutschen Massenmordlager Sobibór in Ostpolen, nahe der ukrainischen und der weißrussischen Grenze. Am 14. Oktober 1943 erhoben sich die jüdischen Häftlinge, die den Nazis als Instrumente der Vernichtung in den Gaskammern von Sobibór dienten, gegen ihre Peiniger. Feldhendler und der Leutnant der Roten Armee, Alexander Petscherski, führten den Aufstand an. Die Gefangenen töteten 12 SS-Männer und traten eine verzweifelte Flucht durch Stacheldrahtverhau und das Minenfeld an. Von den etwa 365 Fliehenden erreichten nur rund 200 den nahen, rettenden Wald und flohen weiter. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee Mitte 1944 wurden weitere etwa 150 Geflohene durch die Deutschen, durch polnische Kollaborateure und antisemitische Partisanengruppen ermordet. 47 der ehemaligen Sobibór-Häftlinge überlebten die deutsche Besatzung. Doch auch nach dem Krieg fielen noch einige von ihnen antisemitischen Attentaten zum Opfer. Auch der zum Gedenktag geehrte Leon Feldhendler wurde ermordet. Bis heute ist nicht geklärt, wer ihn am 3. April 1945 in Lublin anschoss. Darauf bezog sich der hoffnungsvolle Satz seines Nachkommen bei der Gedenkfeier in Sobibór. Feldhendler starb drei Tage später an den schweren Verletzungen.
Auf der von grauen Herren und verbaler Routine bestimmten Zeremonie in einem nur halb gefüllten riesigen Zelt auf dem Gelände der gerade neu entstehenden Gedenkstätte in Sobibór (voraussichtliche Eröffnung in zwei Jahren) stach neben der Rede Kittris die der Vertreterin des Niederländischen Gesundheitsministeriums heraus: Angelique Berg zitierte den großen israelischen Holocaust-Historiker Yehuda Bauer, der mit Blick auf die verbreitete Kollaboration mit den deutschen Mörderinnen und Mördern im besetzten Europa gesagt habe, es gebe kein Land ausschließlich mit Helden. Auch wenn sowohl Kittris als auch ihre Bemerkungen sich auch auf die aktuelle fragwürdige Bereinigungspolitik Polens bezogen, das gegenwärtig versucht unter Strafandrohung und klitternder Intervention das Land Polen zum reinen Opfer der Geschichte zu stilisieren, illustrierte sie das Zitat in bewegender Weise mit einem Beispiel aus ihrem eigenen Land. Die Sobibór-Überlebenden Chaim Engel und Selma Engel (geborene Wijnberg) wollten sich nach dem Krieg in Holland niederlassen, sollten aber als Nicht-Staatsangehörige bald ausgewiesen werden und wurden mit Abschiebung bedroht. Sie emigrierten zunächst nach Israel und später in die USA, wo Selma Engel noch heute lebt. Man habe, so Berg, Jahrzehnte später bei Selma Engel um Verzeihung gebeten für diese unwürdige Behandlung. Diese habe die Entschuldigung der Niederlande jedoch nicht angenommen. Umso glücklicher sei sie, so die Repräsentantin der Niederlande, dass zur Feier nun die Enkelin der Sobibór-Überlebenden angereist sei.
Wer es vorzog, nach dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, des polnischen Oberrabbiners Michael Schudrich, den Gebeten christlicher Geistlicher nicht zu lauschen, hatte vor dem Aufsteigen einer Fotodrohne für die Kranzniederlegung Gelegenheit, das imposant gestaltete Feld zu umschreiten, das die Massengräber mit einem unübersehbaren Meer aus weißen Steinen markiert. Hier wurden bis zu 250.000 Ermordete, Jüdinnen und Juden, Männer, Frauen und Kinder, überwiegend aus Polen, aber auch aus den Niederlanden, Frankreich, Deutschland und der Slowakei verbrannt und verscharrt. Einige der Massengräber wurden nach dem Krieg noch geplündert, indem die Asche der Ermordeten in die umliegenden Wälder geschleppt und dort nach Wertsachen durchsiebt wurde. Drei solcher Stellen, wenige Hundert Meter von den Massengräbern entfernt, sind erst in jüngster Zeit gefunden worden, weil dort Knochenreste der Ermordeten herumlagen. Von jüdischer Seite wurden diese Orte zu Grabstätten erklärt und vorerst provisorisch gesichert.
Eine Reisegruppe des Bildungswerks Stanisław Hantz war zu der Gedenkfeier angereist. Das Bildungswerk hatte sich um die Erhaltung und Pflege des Areals verdient gemacht, das heute offiziell zur dem staatlichen Museum in Majdanek zugeordneten Gedenkstätte Sobibór gehört. Reisegruppen des Kasseler Bildungswerks hatten unter anderem eine Gedenkallee angelegt, wo Familien von hier Ermordeten Steine der Erinnerung ablegen konnten. Viele Besucher_innen der ja noch unfertigen offiziellen Gedenkstätte und viele Hinterbliebene von Ermordeten fanden über die kurzen Texte auf den auf den Steinen befestigten Gedenkplaketten einen ergreifenden Zugang zu den Menschen, die hier getötet wurden. Diese kleine Gedenkanlage muss nun nach den offiziellen Plänen für die neue Gedenkstätte weichen, die Allee aus Fichten wird abgeholzt. Immerhin soll nun für die wirklich berührenden Steine mit den Plaketten ein neuer Ort gefunden werden.
Die Reisegruppe des Bildungswerks fuhr nach der etwas zähen Zeremonie am Gedenkfeld noch zu einem unscheinbaren Ort in der Nähe Sobibórs, nach Zbereźe. Rechercheure hatten dort in der Nähe, mitten im dichten Wald, nach der späten Aussage eines Zeugen, der zur Tatzeit noch ein Kind war, die Stelle ausfindig gemacht, wo acht aus dem Vernichtungslager Geflüchtete kurze Zeit nach dem Aufstand von Waldarbeitern denunziert und erschossen wurden. Das Bildungswerk hat zu dem Geschehen und zum neu entstandenen kleinen Gedenkort eine Broschüre erstellt.
Am zweiten Teil der Gedenkreise des Bildungswerkes nahmen nur noch vier Personen teil. Nach der Begehung des weitgehend unmarkierten Geländes des Kriegsgefangenen- und Arbeitslagers Poniatowa westlich von Lublin, wo Zehntausende sowjetische Kriegsgefangene und jüdische Lagerinsass_innen unter unvorstellbaren Bedingungen zu Tode kamen und auf dem sich noch heute ein Gewerbegebiet, zum Teil in den Originalgebäuden von vor über 70 Jahren, befindet, ging die Reise weiter nach Zamość im äußersten Südosten Polens. Dort sollte am 16. Oktober der endgültigen, gewaltsamen Räumung des von der deutschen Besatzung eingerichteten Ghettos vor 76 Jahren gedacht werden. Die verbliebenen etwa 4000 Bewohner_innen des Ghettos wurden zusammengetrieben und mussten dann zu Fuß in das Transitghetto Izbica marschieren, viele Hunderte wurden schon während der Räumung und im Laufe des Marsches erschossen.
Von Izbica wurden sie innerhalb kürzester Zeit in die Massenmordlager Sobibór und Bełżec abtransportiert, wie schon vorher Gruppen aus Zamość, die direkt mit Zügen zur Tötung gebracht wurden. Unter den Opfern waren nicht nur polnische Jüdinnen und Juden, sondern auch Menschen aus Deutschland und der Tschechoslowakei. Es gibt eine Fotographie einer Gruppe von Dortmunder Polizisten, die sich, nachdem sie die „Fracht“ von etwa 700 Jüdinnen und Juden aus Dortmund und Umgebung hier nach Zamość verbracht hatten, zur fröhlichen Erinnerung vor dem Bahnhofsgebäude hatten ablichten lassen. Das Foto zeigt Daniel Lörcher auf seinem Laptop. Er ist Fanbeauftragter des Fußballclubs Borussia Dortmund und dort mit dem Bildungsangebot zum Gedenken an die Shoah betraut. Gemeinsam mit Andreas Kahrs vom Bildungswerk Stanisław Hantz wird er später zur Einweihung des neuen Gedenkortes an einem Vorortbahnhof in Zamość sprechen und der in den Tod Getriebenen gedenken. Sie personalisieren das Schicksal so vieler am Beispiel der jungen Dortmunder Jüdin Ruth Bauernschmidt, von der ein paar schriftliche Zeugnisse und eine Fotografie die Vernichtung überdauerten. Im Laufe der bewegenden Zeremonie zunächst im prachtvollen Renaissance-Rathaus der Stadt, wo wissenschaftliche Vorträge zum Ghetto in Zamość bis zu seiner Liquidierung zu hören waren, und dann am Bahnsteig des Vorortbahnhofes, wo — leider glasiert mit dem Holocaustzuckerguss der Leitmelodie aus dem Spielberg-Fim „Schindlers Liste“ — drei Tafeln in polnischer, hebräischer und englischer Sprache an die deportierten Menschen erinnern, sprach auch der Oberrabbiner Michael Schudrich wieder und mahnte zur Achtsamkeit beim Umgang mit den jüdischen Toten in Zamość. Er spielte gegenüber dem anwesenden Bürgermeister Zamośćs, Andrzej Wnuk, von der polnischen Regierungspartei PiS, auf den Bau einer Straße quer durch den alten jüdischen Friedhof der Stadt an, in dessen Verlauf rücksichtslos Gräber aufgebaggert und menschliche Knochen freigelegt worden seien.
Aber Zamość hielt an diesem Tag noch eine Überraschung bereit, bei der es um Rosa Luxemburg, um die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die jüdische Geschichte in Zamość und Polen ging. Im März des Jahres war in Zamość eine Gedenktafel am Wohnsitz der Familie der Namensgeberin der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus politischen Gründen entfernt worden. Die oben benannte staatlich verordnete Geschichtsbereinigung sah in Rosa Luxemburg, der großen Sozialistin des 20. Jahrhunderts und Mitgründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, die am 15. Januar 1919 von Reichswehr-Soldaten ermordet wurde, eine verderbte Kommunistin und die Woiwodschaft ließ die Tafel gemäß „Dekommunisierungsgesetz“ — übrigens gegen den Willen von Bürgermeister Wnuk, der den touristischen Wert der Erinnerung an Luxemburg betonte — entfernen. Wer nicht weiß, wo sie hing, findet heute nicht mal mehr die wohl verputzte Stelle an einer Wand in der Nähe des schönen Marktplatzes der Stadt.
Als nun die verbliebenen vier Teilnehmer der Stanisław-Hantz-Reisegruppe nach der Einweihung des Mahnmals zurück in die Stadt kamen, stießen sie auf das frisch und stilvoll renovierte „Hotel 77“ in der Zamenhofa Str. im Zentrum, von dem Andreas Kahrs wusste, dass sich darin historisch eine Mikwe, ein Tauchbad für rituelle Waschungen von Jüdinnen und Juden befand. Die freundlichen Besitzer_innen des Anwesens waren sofort bereit, die kleine Gruppe nicht nur im Hotel, sondern auch in dessen Souterrain zu führen, wo man von dem Bad noch nichts erahnen konnte. Denn in die damals sehr hohe Mikwe war ein neuer Boden eingezogen worden, unter dem sich der Besucherin/dem Besucher eine unglaublicher Anblick offenbart: Unter dem Gebäude, quasi wie ein zweites Kellergeschoß, befindet sich das alte jüdische Bad gerade im Zustand der Freilegung und Sicherung und soll in Zukunft wieder hergestellt und zur Besichtigung geöffnet werden. In der Mitte des Kellers steht ein metertief in die Erde aus Ziegeln gemauerter zylindrischer Baseraum, daneben finden sich die Fundamente weiterer rechteckiger Becken. Höhepunkt dieser unverhofften Erkundung war jedoch die Entdeckung, dass im ersten Kellergeschoss, einem behutsam renovierten und schön gestalteten Ziegelgewölbe, eine Ausstellung aufgebaut war, die am Abend eröffnet werden sollte. Diese beeindruckende und ergreifende Ausstellung der Initiative „Kinder des Holocaust“ hat zu einem Gutteil die Rosa-Luxemburg-Stiftung über ihr Büro in Warschau finanziert: Auf Deutsch trägt sie den Titel „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern“ und dokumentiert die Geschichte der etwa 5000 jüdischen Kinder, die während der deutschen Besatzung Polens und des Massenmordes an Jüdinnen und Juden von polnischen Familien aufgenommen und so vor dem sicheren Tod gerettet wurden. Mit der Erinnerung an die Ermordeten und den Zeugnissen der geretteten Jüdinnen und Juden kehrte so auch der Name Rosa Luxemburgs zurück nach Zamość.