Religion als Diskriminierungsmerkmal

In Deutsch­land spielt Reli­gi­on eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le, so die weit ver­brei­te­te Annah­me in huma­nis­tisch-lin­ken Krei­sen. Dass Reli­gi­on einen gefühlt gerin­gen Stel­len­wert in der Öffent­lich­keit und im All­tag ein­nimmt, hängt mit der Säku­la­ri­sie­rung zusam­men, der his­to­risch gewach­se­nen Tren­nung von Kir­che und Staat. Der Ein­tritt in die Moder­ne, so Max Weber 1920 in «Die pro­tes­tan­ti­sche Ethik und der Geist des Kapi­ta­lis­mus», sei mit einer unwei­ger­li­chen Ent­zau­be­rung der Welt ver­bun­den. Wo Ver­nunft regiert, da sei kein Platz für Reli­gi­on. In die­sem Sinn beruht die Säku­la­ri­sie­rungs­theo­rie auf der Annah­me, Reli­gi­on dür­fe im öffent­li­chen Leben kei­ne Rol­le spie­len, son­dern sei Privatsache.

Genau­so weit ver­brei­tet wie die Säku­la­ri­sie­rungs­theo­rie ist die Infor­ma­ti­on, im Sozi­al- und Pfle­ge­sek­tor wür­den die kirch­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­de domi­nie­ren. Arbeits­su­chen­de Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Deutsch­land wis­sen, dass ohne Kir­chen­zu­ge­hö­rig­keit kaum Aus­sicht auf eine Stel­le besteht. In der Tat belegt eine ver.di-Stu­die, dass 60 % aller Arbeits­plät­ze im sozia­len Sek­tor von den kirch­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­den gestellt wer­den. Fer­ner wür­den Dia­ko­nie und Cari­tas eine markt­be­herr­schen­de Posi­ti­on ein­neh­men, bezo­gen sowohl auf das Dienst­leis­tungs­an­ge­bot als auch auf die Arbeitsplätze.

Wenn die feh­len­de Tren­nung von Kir­che und Staat ein Pro­blem der Ver­gan­gen­heit ist oder ‑ wie die Säku­la­ri­sie­rungs­theo­rie mit dem ihr anhaf­ten­den Moder­ni­sie­rungs­glau­ben nahe­legt ‑ ein Pro­blem nicht­west­li­cher Staa­ten, wie­so neh­men die christ­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­de in Deutsch­land bis heu­te eine Vor­macht­stel­lung ein?

In der Bun­des­re­pu­blik fin­det die Säku­la­ri­sie­rung in zwei Grund­rech­ten Aus­druck, die im Grund­ge­setz (GG) genannt wer­den. Arti­kel 3 gewährt Schutz vor Ungleich­be­hand­lung auf­grund der Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit. Arti­kel 4 GG gewährt die freie Reli­gi­ons­aus­übung. Dadurch wird den Bürger_innen gegen­über dem Staat die Frei­heit garan­tiert, eine Reli­gi­on zu haben, die­se aus­zu­üben und auf­grund des­sen nicht dis­kri­mi­niert zu wer­den. Essen­ti­el­ler Bestand­teil der frei­en Reli­gi­ons­aus­übung ist das soge­nann­te kirch­li­che Selbst­ver­wal­tungs­recht, auf das sich alle Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten beru­fen kön­nen. Die­ses Selbst­ver­wal­tungs­recht hat Ver­fas­sungs­rang und ist außer­dem in der EU-Gesetz­ge­bung und dem All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­setz[7] ver­an­kert. Es schützt die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten vor staat­li­cher Ein­mi­schung bei der Besor­gung ihrer Angelegenheiten.

Dar­un­ter fällt auch die Stel­len­be­set­zung durch kirch­li­che Wohl­fahrts­trä­ger. Die Kon­fes­si­ons­zu­ge­hö­rig­keit ist, trotz des eigent­li­chen Schut­zes aus Art. 3 GG, min­des­tens Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zung bei den kirch­li­chen Wohl­fahrts­trä­gern. So wer­den Kon­fes­si­ons­lo­se und Anders­gläu­bi­ge auch in ver­kün­di­gungs­fer­ne Beru­fe – also nicht nur als Pfarrer_in oder als Diakon_in, son­dern schon als Pfleger_in oder Sozialarbeiter_in – erst gar nicht ein­ge­stellt. Ein Bei­spiel: das Lan­des­ar­beits­ge­richt Düs­sel­dorf ver­han­del­te im März 2015 den Fall der Sozi­al­päd­ago­gin Maria M. Sie wur­de von einem katho­li­schen Trä­ger zum Bewer­bungs­ge­spräch für eine Stel­le zur Ver­mitt­lung von Tages­pfle­ge­el­tern ein­ge­la­den. Als sich im Gespräch her­aus­stell­te, dass die Bewer­be­rin aus einer christ­lich ortho­do­xen Fami­lie stammt und kein Mit­glied der katho­li­schen Kir­che ist, wur­de sie auf­grund des­sen abgelehnt.

Neben der Stel­len­be­set­zung liegt auch die Kün­di­gung auf­grund einer Ver­let­zung der Loya­li­täts­pflich­ten im Ermes­sen der kirch­li­chen Wohl­fahrts­trä­ger. Die Loya­li­täts­pflich­ten kön­nen im ein­fachs­ten Fall durch den nach­träg­li­chen Kir­chen­aus­tritt ver­letzt wer­den. Eine Stu­die, in der betrof­fe­ne Ärzt_innen, Krankenpfleger_innen, Geburtshelfer_innen, Lehrer_innen, Hausmeister_innen und Küchen­an­ge­stell­te zu Wort kom­men, zeigt, dass dar­über hin­aus auch das Tra­gen eines Kopf­tu­ches, eine ein­ge­tra­ge­ne Lebens­part­ner­schaft, «unehe­li­che» Kin­der und die Wie­der­ver­hei­ra­tung nach einer Schei­dung für kirch­li­che Wohl­fahrts­trä­ger Kün­di­gungs­grün­de waren, die mit der Ver­let­zung der Loya­li­täts­pflich­ten begrün­det wurden.

Die Vor­macht­stel­lung der kirch­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­de in Ver­bin­dung mit ihrer dis­kri­mi­nie­ren­den Arbeitgeber_innenpraxis ist also glei­cher­ma­ßen recht­mä­ßig und pro­ble­ma­tisch. Schließ­lich, so belegt die ver.di-Studie, finan­zie­ren sich die  Wohl­fahrts­ver­bän­de der Kir­chen im Wesent­li­chen über Mit­tel des Sozi­al­staa­tes. Die­se Mit­tel kom­men von Steu­er­gel­dern aller Bürger_innen, unge­ach­tet ihrer Reli­gi­ons- oder Kon­fes­si­ons­zu­ge­hö­rig­keit bzw. Weltanschauung.

Die­ses Pro­blem ist den Kir­chen bekannt und durch Rechts­gut­ach­ten wie zuletzt vor­ge­legt vom Büro zur Umset­zung zur Gleich­be­hand­lung  (BUG) wächst auch der Druck auf Poli­tik und Recht­spre­chung, den Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz – wenigs­tens in ver­kün­dungs­fer­nen Beru­fen – gegen­über dem kirch­li­chen Selbst­ver­wal­tungs­recht zu stär­ken. Auch wäre die Grün­dung wei­te­rer Wohl­fahrts­ver­bän­de denk­bar. Die Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft der Frei­en Wohl­fahrts­pfle­ge (BAG), deren Mit­glie­dern ein beding­ter Vor­rang bei der Finan­zie­rung und der Grün­dung von Sozi­al­ein­rich­tun­gen zukommt, besteht neben Cari­tas und Dia­ko­nie noch aus vier wei­te­ren Ver­bän­den. Ernst­haf­te Bestre­bun­gen, zusätz­lich einen mus­li­mi­schen Wohl­fahrts­ver­band ins Leben zu rufen, gibt es bereits, sie wur­den Anfang des Jah­res 2015 im Detail von der Deut­schen Islam­kon­fe­renz (DIK) dis­ku­tiert. Vertreter_innen der kirch­li­chen Wohl­fahrts­ver­bän­de spra­chen sich für die Unter­stüt­zung eines mus­li­mi­schen Wohl­fahrts­ver­ban­des aus. Jedoch sei ent­schei­dend, so die wider­sprüch­li­che Bedin­gung des Prä­si­den­ten der Dia­ko­nie, Ulrich Lilie, «dass die mus­li­mi­schen Sozi­al­ein­rich­tun­gen für alle Men­schen offen sind und nicht nur für Mus­li­me».

 

 

Mira Rag­u­nathan ist Sozio­lo­gin mit dem Schwer­punkt auf cul­tu­ral stu­dies, ins­be­son­de­re post­ko­lo­nia­le und femi­nis­ti­sche Theo­rie. Sie hat in Bie­le­feld und Lon­don stu­diert. Aktu­ell lebt sie in Köln, wo sie als Bera­te­rin und Refe­ren­tin beim Anti­Dis­kri­mi­nie­rung­Bü­ro von Öffent­lich­keit gegen Gewalt e.V. arbeitet.