Interview mit Sebastian Friedrich, Sozialwissenschaftler und Publizist.
In seinem Artikel «Veränderte Verhältnisse» in dem von ihm mitherausgegebenen Buch «Nation – Ausgrenzung – Krise» gelingt Sebastian Friedrich eine Analyse des Verhältnisses von europäischer Finanz- und Wirtschaftsrise und europäischem Rassismus. Er beschreibt diesen Rassismus als vielschichtig und wandlungsfähig. Dieser geht von Individuen sowie von Institutionen aus, ist europäisch und nationalstaatlich. Vor allem aber ist Rassismus dynamisch. Analysen sind entsprechend schwierig. Ausgehend von der genannten Publikation gibt Sebastian Friedrich hier eine Standortbestimmung zu Rassismusforschung, Antirassismus und politischer Bildung ab. Im Verlauf eines Interview versucht er auch einen Ausblick auf mögliche und wünschenswerte Entwicklungen linker Forschung und Initiativen.
Rassismusforschung: Was ist das eigentlich? Der Kampf gegen eine 100-köpfige Hydra oder ein wissenschaftliches Instrument, um die sich weiterentwickelnden Muster des Rassismus zu erkennen und irgendwann dem Rassismus einen Schritt voraus zu sein?
Friedrich: In der Rassismusforschung im deutschsprachigen Raum hat sich im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrzehnte einiges getan. In den 80er Jahren thematisierten Aktivist_innen Alltagsrassismus und institutionellen Rassismus und auch die kritische Wissenschaft befasste sich zunehmend mit dem Thema. Es entstand der immer bedeutsamer werdende Ansatz, Rassismus nicht als individuelles Problem einzelner zu begreifen oder als ein Problem zu behandeln, das ihn auf Neonazismus beschränkt. Vielmehr wird Rassismus trotz aller momentanen Diskussionen, Differenzen und Kontroversen seitdem vor allem in der kritischen Forschung grundsätzlicher und gesellschaftskritischer betrachtet.
Und genau diese Erfassung von gesellschaftlichen Zusammenhängen würden Sie auch als Kernaufgabe von Rassismusforschung sehen?
Aus einer antirassistischen Perspektive bewerte ich Rassismusforschung in erster Linie anhand ihrer Nutzbarkeit für die politische Praxis. Rassismusforschung praktisch nutzbar zu machen heißt konkret, die den Rassismus beeinflussenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu erkennen und zu enttarnen. Dafür ist eine Rassismusanalyse notwendig, die den dynamischen Charakter des Rassismus in den Mittelpunkt stellt. Wenn wir Rassismus betrachten, fällt auf, dass er nicht über alle Zeiten hinweg ein einzelnes, stringentes Ziel verfolgt hat. Er kannte und kennt keine festen Objekte oder Subjekte. Aber im Zeitverlauf hat Rassismus eigentlich immer die gleiche Funktion, indem er, ich orientiere mich am gerade verstorbenen Soziologen Stuart Hall, den Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen reguliert. Wer, wie und in welcher Weise rassistisch diskriminiert oder unterdrückt wird, wandelt sich abhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen, die es zu analysieren gilt.
Wo sehen Sie heute die Schnittstellen von Rassismusforschung und praktischer antifaschistischer und antirassistischer Arbeit, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Büro und Straße?
Indem Forschung eben genau nicht nur im Büro stattfindet. Als Forscher_in ist es keineswegs falsch, auch Teil der aktivistischen Szene zu sein, wobei ein Problem häufig auftritt, wenn die eigene Rolle nicht reflektiert wird. Das soll nicht heißen, dass nur Aktivist_innen sinnvoll zu Rassismus forschen können, aber es schadet meiner Ansicht nach nicht, die Trennung von Schreibtisch und Straße aufzugeben. Im Gegenteil: Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist insofern ein ganz besonderes, als Rassismus auch abhängig ist von den Kämpfen, die gegen ihn geführt werden, worauf nicht zuletzt die Arbeiten von Manuela Bojadžijev und anderen operaistisch inspirierten Aktivist_innen bzw. Forscher_innen hingewiesen haben. Sie analysieren Rassismus in Wechselbeziehung mit zu ihm antagonistischen Bewegungen. In diesem Sinne kann man Bewegungen gegen Rassismus ohnehin nicht als losgelöst von Theorie und Forschung betrachten, da sie Teil der Analyse sind.
Wir blicken in Deutschland zurück auf ein Jahrzehnt, in dem antirassistische Arbeit staatlicherseits gefördert wurde. Wo sehen Sie die Grenzen, die solchen Initiativen wie den Bundesprogrammen gegen Rechts, innewohnen, wo deren Effekt auf den Rassismus?
Einen ganz praktischen Effekt seit dem sogenannten Aufstand der Anständigen sehe ich in den Entwicklungen im medialen und politischen Mainstream. Es ist allgemeiner Konsens, gegen Neonazis zu sein, was insbesondere antifaschistische Interventionen auch schnell für ihre Arbeit zu nutzen wussten. Zum Beispiel funktionierte die Diskreditierung von aufkommenden neonazistischen Parteien weitgehend, indem auf die personellen Neonaziverbindungen von Funktionären hingewiesen wurde. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen wie die der Alternative für Deutschland (AfD) ist aber festzustellen, dass diese etablierten Interventionsstrategien an ihre Grenzen stoßen.
Wo sehen sie die Schwächen konkret?
Es ist eine Schwäche, dass Kritik an rechten Strukturen mitunter zu wenig inhaltlich begründet wird. Im Falle der AfD reicht es offensichtlich nicht, personelle Verbindungen zu Neonazis zum Ausgangspunkt zu nehmen oder offensichtlichen Rassismus zu skandalisieren. Es wird nicht vorkommen, dass sich der Parteisprecher Lucke in der Weise offen rassistisch äußert, dass seine Aussagen diskreditiert werden könnten. Lucke und Co. sind nicht Apologeten eines bekannten völkischen Rassismus, sondern sie argumentieren vielmehr anhand von Differenzierungen zwischen «nützlichen» und «nicht nützlichen» Einwanderer_innen. Das ist eine andere Form von Rassismus als der, der gesellschaftlich kritisiert wird. Die Trennung zwischen denjenigen, die dem «Standort Deutschland» nutzen, und denjenigen, die es vermeintlich oder tatsächlich nicht tun, erscheint als durchaus akzeptabel, von rechts bis in die gesellschaftliche Linke hinein. Um das zu kritisieren, reichen aus antifaschistischer Sicht bisherige erfolgreiche Interventionen in den Mainstream nicht mehr aus.
Die Problematik des Mainstream-Rassismus ist zweifelsohne eine tiefgehende. Wie sehen Sie die Möglichkeiten von Trägern politischer Bildung, weiter unten an diesem Problem anzusetzen? Wie bewerten Sie die zentralen Aufgaben einer Bildungseinrichtung wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung?
Grundsätzlich ist es eine zentrale Aufgabe der linken politischen Bildung auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen einzugehen. In Bezug auf antirassistische Bildungsarbeit finde ich es ausgesprochen positiv, dass in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme von Bildungsprogrammen festzustellen ist, in denen es etwa um die Reflexion der eigenen Rolle in einer rassistischen Gesellschaft geht. Dadurch wird Rassismus strukturell und nicht individualistisch verstanden. Darüber hinaus wäre es aus meiner Sicht wünschenswert, dass eine weitere Ebene vertieft wird. Eine, die vermehrt den institutionellen Rassismus und auch die ökonomischen Zusammenhänge sowie die Veränderungen des Rassismus thematisiert.
Ist eine solche institutionelle Kritik in den bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen denn effektiv möglich?
Da wird es heikel. Es dürfte sicherlich schwieriger sein für Forschung oder Bildung sein staatliche Gelder zu mobilisieren, die sich mit dem Rassismus in in Polizei und Justiz befassen. Deutlich leichter würde es fallen, Gelder für interkulturelle Bildungsarbeit oder Diversität am Arbeitsplatz zu bekommen. Bildungsträger, die Bildung klassisch «von unten» her aufzubauen suchen, unterliegen auch der Notwendigkeit, Geld zur Absicherung der Existenz zu akquirieren. Das hat sicher Einfluss auf die Angebote, die gemacht werden.
Sehen sie also diese staatliche Finanzierung auch als eine Art Kontroll- oder Erpressungsmechanismus?
Der Kontrollmechanismus besteht indirekt durchaus. Unterliegt man dem Druck, seinen Lebensunterhalt damit verdienen zu müssen, wird man schnell in eine Richtung gedrängt, Bildungsarbeit zu machen, die zumindest teilweise kompatibel mit bestehenden Herrschaftsformen ist. Nehmen wir das Beispiel der Auseinandersetzung mit klassenbezogener Diskriminierung, also etwa der Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft im Bildungsbereich. Mittlerweile findet man analog zu der Auseinandersetzung mit Rassismus und Gender staatlich geförderte Bildungsangebote zu sozialer Ungleichheit. Was man in diesem Zusammenhang allerdings kaum finden wird, sind kritische Analysen von Klassenverhältnissen als Konstitutive des Kapitalismus. Dass klassenbezogene Stereotype und Diskriminierung sich erst auflösen können, wenn der Kapitalismus selbst nicht mehr vorhanden ist, dürfte als Bildungsbaustein nicht so einfach in den Kanon staatlicher Bildungsarbeit.
Um das Thema etwas weiter zu konkretisieren, beispielsweise in Hinblick auf die Europawahlen 2014: Wenn wir uns den immer stärker aufkeimenden Nationalismus in Europa anschauen, wäre ja noch nicht mal eine besonders linke Position nötig, um die Probleme mit Rassismus zu erkennen. Wie schätzen Sie antirassistische und antifaschistische Aktivitäten dagegen ein?
Positiv hervorzuheben ist, dass antirassistische und antifaschistische Arbeit – lange Zeit strikt voneinander getrennt – wieder deutlich näher zusammengerückt sind. Gerade in Folge der Sarrazin-Debatte wurde diese hinderliche Trennlinie teilweise abgebaut. So beteiligen sich Antifa-Gruppen zunehmend an Aktionen gegen rassistische Mobilisierungen und fassen Rassismus als ein zentrales Problem.
Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, der nationalistischen und rassistischen Renaissance mit Hilfe eines starken europaweiten Austausches entgegenzutreten. Dazu gibt es bereits sehr positive Ansätze, denken wir an europaweite Aktionstage oder die zunehmende Vernetzungen.
Mit welcher Zielsetzung?
Ich stelle mir eine Intensivierung der Arbeit an einer grundsätzlichen und konkreten linken Alternative vor. Neben dem notwendigen Abwehrkampf gegen Rechts würde dies ein positives Gegenangebot zu rechten Angeboten schaffen. Warum gewinnt die Rechte an Stimmen und werden, wie in unserem Buch aufgezeigt, rechte Tendenzen nicht nur im Parlament, sondern auch im gesellschaftlichen Klima in europäischen Ländern immer stärker? Das liegt nicht allein an den Abstiegsängsten der Menschen, sondern rechte Parteien schaffen es erfolgreich, vermeintliche Auswege aus dieser Krise anzubieten, durch nationalistische Abschottung beispielsweise. Während Rassismen bei den einzelnen rechten Parteien sehr unterschiedlich sind, ist allen, mit Ausnahme vielleicht der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit, eine starke Kritik bis Ablehnung an der EU gemein. Die aktuelle Krise hat als Katalysator für bereits vorher bestehende rassistische nationalistische Tendenzen gedient. Daran können die Rechten anknüpfen.
Zentrale Aufgabe für eine europäische gesellschaftliche Linke ist meines Erachtens daher die Arbeit an einem grundlegenden Angebot jenseits von Nationalismus und Rassismus − und jenseits von dem derzeitigen Europa, das sich zunehmend als Klassenprojekt von oben darstellt.
Sebastian Friedrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), Redakteur bei kritisch-lesen.de, Aktivist bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) und Publizist. Er promoviert mit einem Stipendium der Rosa Luxemburg Stiftung zum Arbeitslosendiskurs in Deutschland.
Das in der Einleitung erwähnte Buch «Nation – Ausgrenzung – Krise», herausgegeben von Sebastian Friedrich und Patrick Schreiner, untersucht kritisch die Formen und Folgen ausgrenzenden, nationalistischen Denkens vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise in Europa.