Die heutige Türkische Republik stellt eine Gesellschaft dar, die sich in einer ständigen Krise befindet. Sie ist ethnisch türkisch und im Sinne der Religiosität eine sunnitische, antidemokratische Struktur. Es zeigt sich ein problematisches Bild, weil die republikanische Gesellschaft Gerechtigkeit, Gleichberechtigung der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen, Meinungsfreiheit, Presse und Versammlungsrecht vermissen lässt.
Können Sie sich vorstellen, dass das öffentliche Leben nach sunnitischen Normen geändert, dass während des Fastenmonats das Mittagsessen im öffentlichen Dienst gestrichen, dass der sunnitische Religonsunterricht zum obligatorischen Schulfach wird oder dass im Namen der Pflege der «türkischen Kultur», ImamInnen ins Ausland geschickt und Moscheen aus Steuergeldern finanziert werden? All dies passiert in einem Land, in dessen Verfassung der «Laizismus» eine der wichtigsten Normen darstellt.
Dieser Laizismus hat sich ohne kulturelle und intellektuelle Basis, ohne Klasseninteressen, die ihn verteidigen und auch ohne Säkularisierungsbewegung entwickelt. Er ist in einer nur formal demokratischen Situation entstanden, dabei könnte der Laizismus eine der Antriebskräfte der Demokratisierung sein. Die Republik wurde auf der Ruinen des Osmanischen Reiches gegründet, dessen Fortführung sie gewissermaßen ist. Wichtig ist aber, dass sie zugleich auf der Leugnung des Osmanischen Reiches aufgebaut wurde. So hat die Republik zum Beispiel an Stelle einer einer religiösen Grundierung auf eine nationale Verbindung der Gesellschaft gesetzt.
Ziel: Nation
Das Hauptziel der Republik war die Errichtung eines Nationalstaats nach westlichen Modell. Die nationale Einheit sollte auf Grund der Türkisierung der Bevölkerung geschaffen werden, in allen Landesteilen, die nach dem Ende des Osmanischen Reiches, der anschließenden Besetzung und dem sogenannten Befreiungskrieg verblieben waren. Der Islam sollte dabei der Vielfältigkeit der Gesellschaft entgegenwirken, die in den herrschenden Kreisen als einer der Gründe für den Untergang des Osmanischen Reiches angesehen wurde. In diesem ideologischen Rahmen hatte der Kemalismus seine Hegemonie gebildet und versuchte, sein Ziel einer homogenisierten Gesellschaft zu erreichen.
Das Türkentum wurde nicht (mehr) als ethnisches Merkmal definiert. Vielmehr wurden diejeniegen, die im Land leben und eine gemeinsame Sprache, Ideale und Kultur haben, de facto als «türkisch» identifiziert. Bis zur Gründung der Republik hatte die Bevölkerung fast ausschließlich mit religiösen Referenzen und unter religiösen Gesetzen gelebt. Das Bewusstsein, eine «Nation» zu sein, war nicht entwickelt. Für eine erfolgreiche Republikgründung war also der Laizismus unbedingt notwendig. Er wurde als ein Mittel interpretiert für die Modernisierung der Gesellschaft, aber auch als Mittel für die Totalität einer nationalen Identität, innerhalb derer unterschiedliche Konfessionen und Glaubensrichtungen existierten. Der Laizismus war zugleich ein Mittel im Kampf gegen das dominante religiöse Gesetz der Scharia.
Ziel: Türkisierung
Vor der Gründung der Republik lebten auf dem Gebiet der späteren Türkei auch MuslimInnen, die andere nationale Identitäten hatten. Deswegen wurde der Befreiungskrieg 1920–1923 zunächst als Befreiungskampf gegen Scharia und islamische Herrschaft geführt, nicht als Befreiungskampf für das Türkentum und den Laizismus. Während der Verhandlungen für den Lausanner Vertrag (1922), der zur Gründung der Republik führte, wurden türkische und kurdische BürgerInnen als gleichberechtigt anerkannt. Erst nach dem Kriegsende wurde das Türkentum als einzige nationale Identität proklamiert.
Um das Ziel der Türkisierung zu erreichen, funktionierte der Laisizmus allein aber nicht. Dazu wurde der Islam als Kitt für nicht-türkische MuslimInnen gebraucht. Er wurde so in der Folge schnell zu einem Kontrollmechnismus des Staates: Gegen die sunnitische Scharia wurde der Laizismus, der vermeintlich säkularisierte Islam als gesamtgesellschaftliche Identität festgehalten. In diesem Sinne wurden nach 1923 griechisch-orthodoxe TürkInnen nach Griechenland und MuslimInnen – auch nicht-türkischer Herkunft – aus Griechenland in die Türkei umgesiedelt. Der Wunsch einiger nichmuslimischer, aber türkischer Gruppen (wie etwa gagausische TürkInnen) in die Türkei umzusiedeln, wurde nicht akzeptiert. Christliche Gruppen, die seit Jahrhunderten im Osmanischen Reich gelebt hatten, wurden zu Minderheiten erklärt und in der Folge ausgegrenzt.
Wie das im Osmanischen Reich erst oppositionelle, dann regierende Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti, İTC) verfolgten die GründerInnen der Republik den Weg, gesellschaftliche Elemente zu beseitigen bzw. in die neue Gesellschaft einzupassen, die tatsächlich oder vermeintlich ein Hindernis für die monokulturell vereinheitlichte sunnitisch-türkische Gesellschaft darstellten. Damit hatte die westlich orientierte, moderne, laizistische, sich mit dem türkischen nationalen Bewusstsein definierende Republik gleich zu Beginn strukturelle Hindernisse für die Entwicklung einer zeitgemäßen Demokratie geschaffen.
Ziel: Sunnitisierung
Laizismus meint in der Türkei die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum. Sie soll zur Privatsphäre jedes Individuums gehören. De facto wurde in der neuen Türkischen Republik der Laizismus aber instrumentalisiert, um die sunnitische Richtung des Islam zur einzig akzeptablen Religion aufzuwerten. So wurde das «Amt für Religionsangelegenheiten» gegründet (Diyanet). Es hatte schnell eine Monopolstellung errungen und konnte die Interpretationhochheit über den sunnitischen Islam für sich beanspruchen. Das heißt auch, dass es – bis heute – über die religiöse Strukturierung der Gesellschaft quasi allein entscheiden. Mit fast 900 Moscheegemeinden in der Bundesrepublik ist Diyanet auch Teil der deutschen Realität.
Die größte religiöse Gruppe, die im Fokus der Sunnitisierung stand und steht, sind die AlevitInnen. Sie hatten die Gründung der Türkischen Republik unterstüzt und lange darauf vertraut, dass das Amt für Religionsangelegenheiten gegen die Scharia kämpft und den Staat vor ihr in Schutz nimmt. Was sie aber seit fast einhundert Jahren erleben, ist reine Assimilation und Ausgrenzung. Im Namen des Laizismus stellt heute dieses Amt die größte staatliche Einrichtung in Anatolien mit verfassungmäßig verankerten Rechten und Zuständigkeiten dar. Mit der Gründung der Republik wurde die ideologische Begründung des Osmanischen Reiches, die Scharia, zwar abgeschafft, gleichzeitig aber auch das Alevitentum als illegitim erklärt.
Die Linke und der Laizismus
Mit dem Militärputsch 1980 wurden die ohnehin schwachen linken/sozialistischen Kräfte Opfer großer Unterdrückungsmaßnahmen. Tausende progressive Akademiker_innen, Journalist_innen und Intellektuelle wurden inhaftiert bzw. mussten ins Exil gehen, wenn sie nicht ermordet wurden. In der Gesellschaft entstand eine intellektuelle Lücke. Wo progressive Inhalte gewaltvoll zurückgedrängt wurden, füllte der Staat Religion auf. AnhängerInnen des politischen Islam haben dabei eine Gelegenheit gesehen, ihre Anhängerschaft zu stärken – was ihnen auch gelungen ist. Heute sind diese Kräfte eine der stärksten gesellschaftlichen Gruppen und haben die gesellschaftliche Hegemonie in der Türkei. Diese Situation ist ein Ergebnis der Gründungsperiode der Republik, in der der Laizismus keine breite gesellschaftliche Einigung darstellte. Der Laizismus war eine allen Bevölkerungsgruppen aufgezwungene Lebensnorm.
Es mag durchaus sein, dass die GründerInnen der Republik mit ihrer Vorstellung von Laizismus gegen die Scharia und auf Gleichberechtigung gerichtete Überlegungen verbanden. Die radikale Abstandnahme von der Vergangenheit und der Wiederaufbau der Gesellschaft hatten aber eine schwache gesellschaftliche Verankerung. Gegenüber diesem Mangel wurde der Staat immer zentralistischer, sein Kontrollwahn immer größer. Dies sind die hauptsächlichen Gründe für fehlende Demokratie auch im Bereich der Religion und Religionsausübung sowie den dargestellten Missbrauch des «Laizismus» in der Türkei.
Laizismus ist keine Alternative zur Religion. Er soll eine Atmosphäre schaffen, in der der öffentliche Raum als freier Raum für alle Religonen funktioniert, in dem religiöse Symbole keinen Platz finden, der allen Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen (auch dem Atheismus) die gleichberechtigte Artikulation gestattet – einen Raum also, in dem der in der Verfassung verankerte Schutz gilt, der jedem Individuum freie und freiheitliche Entfaltung gestattet. Ein laizistischer demokratischer Staat ist in der Pflicht, dafür Sorge zu tragen und Schutzmechanismen zu entwickeln, dass freiheitliche Entscheidungen und religöse Pflichten ohne Angst ausgeübt werden können. Nur in diesem Sinne ist der Laizismus eine Befreiungsnorm und widerspricht nicht demokratischen Prinzipien.
Der Laizismus in der Türkei funktioniert aber nicht auf diese Weise. Er ist ein Instrument für die Monokulturalisierung und zugleich ein Kontrollmechanismus. Die zwölf Jahre Regierungszeit der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) liefern zuhauf Paradebeispiele dafür. Der jetzige Staatspräsident und damalige Ministerpräsident Erdoğan hatte unumwunden verkündet, dass er eine «religiöse Generation» heranziehen möchte. Diese Form des Laizismus à la Türkische Republik kann aus linker, emanzipatorischer Perspektive nicht verteidigt werden. Sie reproduziert Ungleichheit und antidemokratische, sunnitisch hegemoniale Staatstraditionen aus sich selbst heraus. Der Laizismus müsste in der Türkei neue definiert werden, und zwar auf der Grundlage eines Demokratisierungskonzeptes.
Kadriye Karcı arbeitet für das Zentrum für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit.