Nach einer Videokundgebung zum Thema Polizeigewalt beim G20-Gipfel kam es im Juli 2017 zu drei Festnahmen. Den Festgenommenen wird nun nach und nach der Prozess gemacht – der erste Prozesstag am 8. Mai 2019 ist schneller vorbei als erwartet.
Was ist wohl passiert?
Um der Berichterstattung über die G20-Proteste eine andere Sichtweise entgegen zu stellen, veranstaltete das Anti-G20-Bündnis im Juli 2017 eine Videokundgebung auf dem Heinrichplatz. Dabei ging es in Wort, Ton und Bild um Polizeigewalt während der Demonstrationen in Hamburg. Nach dem Ende der Veranstaltung saßen die Teilnehmenden noch Bierchen trinkend – zum „Cornern“ (ein in Deutschland auch im Zusammenhang mit den G20-Protesten immer weiter verbreiteter Begriff) – in Kreuzberg auf der Straße. Die Polizei spricht davon, dass nach dreimaliger Aufforderung und der folgenden Räumung des Platzes ab einem bestimmten Zeitpunkt Widerstand losbricht: Einem Beamten sei wohl ein Bein gestellt und in dem darauffolgenden Tumult werden drei Menschen festgenommen.
Der Prozess
Zu den Anklagepunkten gehört Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, versuchte Gefangenenbefreiung und Landfriedensbruch. Doch bevor der Prozess überhaupt beginnt, müssen die rund 50 Menschen, die diesem ersten Prozess beiwohnen und sich solidarisch mit der Angeklagten zeigen wollen, einzeln Kontrollen über sich ergehen lassen, die sich über zwei Stunden ziehen – außer einem Blatt Papier und einem Bleistift darf nichts in den Gerichtssaal des Amtsgerichts Berlin in Moabit mitgenommen werden.
Für die Beweisaufnahme werden Polizeibeamt*innen vorgeladen, die während der Kundgebung eingesetzt waren. Was nun genau eigentlich an diesem Abend passiert ist, bleibt auch nach Vernehmung dieser drei Zeug*innen relativ wirr. Die angeklagte Person soll sich laut Polizeibeamten an dem Bein eines anderen Festgenommenen festgehalten haben und einem Polizisten, der von hinten dazu stieß, auf den Kehlkopf geschlagen haben. Widersprüche bleiben bestehen, z.B. ob nun Helme getragen wurden oder nicht oder wer eigentlich welche Festnahme wie vollzogen hat; auch an die Angeklagte kann man sich nicht so richtig erinnern.
Besonders auffallend ist die Doppelzüngigkeit, mit der Gewalt und Schmerzen bei diesem Gerichtstag verhandelt werden. Die Instrumentalisierung von Wehwehchen, die in der „dynamischen Situation“, so im Polizeisprech, oder auch im „Kuddelmuddel“, so der Running Gag während der Verhandlung, im Juli 2017 entstandenen sind, ist bei diesem Prozess sehr deutlich geworden. Die Anklage wegen Körperverletzung bezieht sich auf Kratzer im Gesicht und einen Schlag auf den Kehlkopf. Eine Krankschreibung, ein Attest oder ein dokumentierter Arztbesuch waren dafür wohl nicht notwendig. Eigentlich scheint nämlich an diesem Einsatz nichts Außergewöhnliches gewesen zu sein, wie einer der Zeugen meint; nur, dass zwei Polizeikollegen „bisschen was abbekommen“ hätten, was er mit dem Nachschub “… also über die Maßen!“ noch schnell aufbessert. Andererseits: Auf die Frage, ob bei der Festnahme möglicherweise Schmerzensschreie einer weiblichen Person vernommen wurden, tut er das nur ab; es habe wohl das „übliche Gekreische“ gegeben, „Theatralik“ gehöre auf jeden Fall dazu bei allen Festnahmen. Auch in dieser Verhandlung bleibt also wieder die behördliche Erzählung unkommentiert stehen: Menschen in Uniform werden verletzt, Menschen ohne Uniform kreischen und spielen sich auf.
Das Urteil
Schon mittags wird das Urteil verlesen, da die angeklagte Person auf die Vernehmung von weiteren Zeug*innen verzichtet; das Verfahren ist dadurch um wahrscheinlich mehrere Verhandlungstage verkürzt worden. Genau diesen Verzicht führt die Richterin seltsamerweise als einen wichtigen Grund für eine Milderung des Urteils an. Aber warum sollte der Verzicht auf eine möglichst ausführliche Beweisaufnahme belohnt werden? Heißt das im Umkehrschluss: die Länge eines Prozesses bestimmt, ob Richter*innen den Angeklagten wohlgesinnt sind?
Das Urteil besteht schließlich aus einer Geldstrafe von 180 Tagessätze à 15€ (2700 Euro), der schwerwiegende Anklagepunkte des Landfriedensbruchs sowie gemeinschaftliches Handeln werden fallen gelassen und so eine Gefängnisstrafe umgangen. Dennoch ist es ein ziemlich hohes Urteil, die Angeklagte gilt nun als vorbestraft (vorbestraft ist man ab 90 Tagessätzen ) und muss außerdem die Gerichtskosten übernehmen. Dieses Urteil wird die Angeklagte lange begleiten und besonders auch in ihrer demokratischen Freiheit einschränken, da der Einschüchterungseffekt solcher staatlichen Repressionen nicht unterschätzt werden darf und auch ein gewünschter obrigkeitlicher Effekt ist.
Die Richterin lässt zudem moralische Appelle in die Urteilsverkündung einfließen: Die Polizeibeamten hätten ihren Dienst sehr gut gemacht und das Verhalten der Angeklagten auf dem Heinrichplatz gehe einfach nicht. Man hätte, so die Richterin, die Veranstaltung friedlich beenden sollen, weil so nur wieder „ein typisches Bild entstehe“. Welches typische Bild die Richterin damit genau meint, bleibt unklar. Und auch, ob die Friedlichkeit beim Beenden einer Veranstaltung wirklich nur in den Händen der Veranstaltungsteilnehmenden liegt, wie sie in ihrem Apell suggeriert. Der Prozess fügt sich wieder relativ geschmeidig in das Bild ein, dass im Zusammenhang von G20 immer wieder reproduziert wird: Die gewaltbereiten Linksextremist*innen tun der rechtschaffenden Polizei Böses und Unrecht. Die Wirkmacht dieses Narrativs bestimmt die gesamte Prozessführung.
Um dem entgegenzutreten und für eine Demonstrationsfreiheit ohne völlig unverhältnismäßige polizeiliche Repression und anschließende willfährige Justiz einzutreten, ist es von enormer Wichtigkeit, besonders auch für die von dieser Repression betroffenen Menschen auf der Anklagebank, dass eine starke Solidarität gezeigt wird: es sind zwar nur einzelne, die von der Polizei herausgegriffen wurden, doch es hätte viele treffen können. Zwei weitere Prozesse stehen aus. Und es bleibt zu hoffen, dass die Prozesse und Urteile nicht unkommentiert und unbeobachtet bleiben, sondern der Saal wieder voll mit solidarischen Menschen sein wird, wie es auch in diesem Fall passiert ist.