Kein Problem mit rechtem Terror

#Say­TheirNa­mes: Erin­ne­rungs­zei­chen für die Ermor­de­ten in Berlin-Neukölln

Am Ran­de einer der ers­ten Kund­ge­bun­gen nach dem Mas­sa­ker von Hanau, dem acht Besu­cher und eine Ange­stell­te in zwei Shi­sha-Bars sowie die Mut­ter des Atten­tä­ters zum Opfer gefal­len waren, stell­te sich der hes­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Vol­ker Bouf­fier, nach den übli­chen Betrof­fen­heits­übun­gen auf der Büh­ne, live den Fra­gen des Repor­ters Mar­kus Gür­ne für den ARD-Brenn­punkt am 20. Febru­ar. Gür­ne stell­te die durch­aus nahe­lie­gen­de Fra­ge: „War­um hat Hes­sen eigent­lich so ein beson­de­res Pro­blem?“ Dass Bouf­fier sagen wür­de: „Ich glau­be nicht, dass wir ein beson­ders Pro­blem haben“, war klar.

Hanau ja, aber…

Dass er ange­sichts der bizar­ren Häu­fung rech­ter Atten­ta­te und Vor­fäl­le in Hes­sen — ins­be­son­der bei der Poli­zei — leug­nen wür­de, dass was faul sein könn­te in sei­nem Staat, ist da nur kon­se­quent: “Wir haben ganz her­aus­ra­gen­de, furcht­ba­re Taten, wenn ich an letz­tes Jahr an den Tod von Dr. Wal­ter Lüb­cke den­ke oder den heu­ti­gen Tag, das ist ein­fach furcht­bar.“ — jetzt kommt’s — „ABER, auf der ande­ren Sei­te glau­be ich nicht, dass wir Anzei­chen haben, dass wir in ganz beson­de­rer Wei­se eine struk­tu­rel­le Pro­ble­ma­tik haben, die uns von ande­ren unter­schei­det.“ Die Boden­lo­sig­keit die­ses „Hanau ja, aber…“ ging im ruhi­gen Fluss der led­ri­gen Bered­sam­keit des Lan­des­va­ters eben­so unter wie eine kri­ti­sche Nach­fra­ge Gür­nes ange­sichts von Bouf­fiers Mit­ver­ant­wor­tung an jener „beson­de­ren Pro­ble­ma­tik“ in Hes­sen unterblieb.

Bouffier Teil des Problems

Wir erin­nern uns, es war der dama­li­ge hes­si­sche Innen­mi­nis­ter Vol­ker Bouf­fier, der mas­siv in die Ermitt­lun­gen gegen den sei­ner­zeit des Mor­des an dem Inter­net­ca­fé-Betrei­ber Halit Yoz­gat am 6. April 2006 ver­däch­ti­gen Geheim­dienst­mit­ar­bei­ter und V‑Mann-Füh­rer Andre­as Tem­me ein­griff. Bouf­fiers Minis­te­ri­um unter­band die poli­zei­li­chen Ver­neh­mun­gen der von ihm geführ­ten Infor­man­ten aus der Nazi­sze­ne und nahm dar­über hin­aus Ein­fluss dar­auf, dass das Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen Tem­me rasch ein­ge­stellt wur­de (-> kon­kret xy). Es sind nicht nur in die­sem Fall hes­si­sche Behör­den, die für die Nicht-Auf­klä­rung sor­gen, Bouf­fier ist mit­hin Teil des Pro­blems. Vor­wis­sen, Ver­stri­ckung und Mit­ver­ant­wor­tung des hes­si­schen Ver­fas­sungs­schut­zes wer­den bis heu­te auf höchs­ter Ebe­ne gedeckt und das, obwohl der Mord an Regie­rungs­prä­si­dent Wal­ter Lüb­cke — wie­der in Kas­sel — immer neue „struk­tu­rel­le Pro­ble­me“ der hes­si­schen Behör­den offen­bart. Inzwi­schen dürf­ten sich die Ver­bin­dungs­li­ni­en vom NSU in die Kas­se­ler sowie — im Zusam­men­hang mit dem Mord an dem Dort­mun­der Kiosk­be­trei­ber Meh­met Kubaşık zwei Tage vor dem Mord an Halit Yoz­gat — in die Dort­mun­der Nazi-Sze­nen her­um­ge­spro­chen haben. Trotz­dem mau­ern die hes­si­schen Behör­den, sper­ren die dazu gehö­ri­gen Akten und pro­du­zie­ren so immer neue, zum Teil erst per Gerichts­be­schluss preis­ge­ge­be­ne Hin­wei­se, die eine tie­fe Ver­stri­ckung der Behör­den in das rech­te Ter­ror­ge­sche­hen nahelegen.

Temme passt ins Bild

Es ist ein anti­fa­schis­ti­scher Recher­che­ver­bund, Exif, der immer wie­der die ent­schei­den­den Infor­ma­tio­nen prä­sen­tiert und ein ums ande­re Mal nicht nur die hes­si­schen Behör­den düpiert. Die nicht ver­folg­ten Spu­ren im „hes­si­schen Aus­schnitt“ des NSU-Kom­ple­xes deu­ten auf enge Kon­tak­te zwi­schen der ursprüng­li­chen NSU-Kern­trup­pe und Akteur*innen in Kas­sel und Dort­mund hin. Eine die­ser Spu­ren etwa heißt Cor­ry­na G[oertz] und wur­de ein­zig auf Betrei­ben der Links­frak­ti­on im hes­si­schen NSU-Unter­su­chungs­aus­schuss dort als Zeu­gin gehört. Sie ist nicht nur Ver­bin­dungs­glied zwi­schen Thü­rin­gen, Kas­sel und Dort­mund, sie gab zur Über­ra­schung der Aus­schuss­mit­glie­der auch an, das Inter­net­ca­fé Yoz­gats in Kas­sel gekannt zu haben. Mög­li­cher­wei­se stammt sogar eine Skiz­ze der Räum­lich­kei­ten dort von ihr. In einem Schau­bild von Exif zum mör­de­ri­schen Nazi-Netz­werk in Kas­sel pas­sen neben G[oertz] auch der mut­maß­li­che Lüb­cke-Mör­der Ste­phan Ernst, sein Kom­pli­ze Mar­kus Hart­mann, der Chef des kürz­lich ver­bo­te­nen rech­ten Ter­ror-Zir­kels „Com­bat 18“, Stan­ley Rös­ke, der VS-Infor­mant unter Tem­mes Füh­rung, Ben­ja­min Gärt­ner, ein bis­her über­haupt noch nie ver­nom­me­ner Neo­na­zi und Nach­bar von Yoz­gats Inter­net­ca­fés, M.K., und eben Tem­me selbst ins Bild: Bis heu­te sind auf­grund der Behör­den­ob­struk­ti­on die zwei genann­ten NSU-Mor­de nicht annä­hernd auf­ge­klärt. Ande­ren­falls hät­te der drit­te Mord an Wal­ter Lüb­cke und zahl­lo­se wei­te­re schwe­re Straf­ta­ten, die Per­so­nen auf dem Schau­bild zuge­ord­net wer­den, mög­li­cher­wei­se ver­hin­dert wer­den kön­nen. Und immer neue Hin­wei­se las­sen auf­hor­chen: Im Jahr 2003 ent­ging ein anti­fa­schis­tisch enga­gier­ter Leh­rer in Kas­sel nur knapp einem Mord­an­schlag. An einem frü­hen Mor­gen im Febru­ar schos­sen Unbe­kann­te mit einer groß­ka­li­bri­gen Waf­fe durch sein erleuch­te­tes Küchen­fens­ter auf ihn: Zum Glück ver­fehl­ten sie ihn. Er habe, so stand es damals in der Zei­tung, „den Luft­hauch gespürt“.

NSU 2.0“

Seit­her und ins­be­son­de­re nach der Urteils­ver­kün­dung im NSU-Pro­zess am 11. Juli 2018 wer­den immer wie­der Poli­zei­skan­da­le aus Hes­sen, aber auch aus ande­ren Bun­des­län­dern, bekannt: Schon einen Monat nach dem Mün­che­ner Urteil begann eine Serie von Droh­brie­fen gegen die Neben­kla­ge-Anwäl­tin im NSU-Pro­zess Seda Başay-Yıl­dız in Frank­furt. Es stell­te sich bald her­aus, dass ihre an sich geschütz­ten pri­va­ten Daten über einen Poli­zei­com­pu­ter in Frank­furt abge­fragt wor­den waren. Es gab Haus­durch­su­chun­gen bei fünf Polizeibeamt*innen, denen eine Betei­li­gung an den Droh­brie­fen vor­ge­wor­fen wird. Die Dro­hun­gen waren mit „NSU 2.0“ unter­zeich­net. Wei­te­re Beam­te der hes­si­schen Poli­zei wur­den in der Fol­ge wegen Wei­ter­ga­be oder Miss­brauch von Daten poli­ti­scher Gegner*innen vom Dienst sus­pen­diert. Schon fast gewöhnt hat man sich seit­her an eine bei­spiel­lo­se Droh­brief-Kam­pa­gne und Serie von Bom­ben­dro­hun­gen gegen hun­der­te kom­mu­na­le Behör­den, Insti­tu­tio­nen, anti­fa­schis­ti­sche Initia­ti­ven und Ein­zel­per­so­nen. Sie kom­men von bis heu­te weit­ge­hend unbe­kann­ten Absen­dern, die sich wahl­wei­se „NSU 2.0“, „Staats­streich­or­ches­ter“, „Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Offen­si­ve“, „Atom­waf­fen­di­vi­si­on“ oder „Wehr­macht“ nen­nen — und sie dau­ern an.
Unter­des­sen häu­fen sich sol­che Vor­fäl­le poli­zei­li­cher Kum­pa­nei mit Nazis und ande­ren Rech­ten im gan­zen Land. Inso­fern mag Bouf­fier ja zumin­dest in dem Punkt recht haben, dass es woan­ders auch irgend­wie nicht bes­ser sei…

Dies ist Teil I eines zwei­tei­li­gen Arti­kels, des­sen feh­len­der Teil in zwei Wochen hier erschei­nen wird und jetzt schon in kon­kret 4/2020 zu lesen ist.