In der Geschichte über real vorhandene Menschen fehlen die Menschen

inva kuhn amrInva Kuhn erklärt in ihrem Ein­füh­rungs­buch anti­mus­li­mi­schen Ras­sis­mus

«Wie sonst ist die reflex­haf­te Reak­ti­on von fast der Hälf­te der Deut­schen zu erklä­ren, in der Bun­des­re­pu­blik leb­ten zu vie­le Mus­li­me, bei einem tat­säch­lich geschätz­tem Anteil von vier bis fünf Pro­zent an der Gesamt­be­völ­ke­rung? War­um den­ken über 54 Pro­zent, dass Mus­li­me in Deutsch­land zu vie­le For­de­run­gen stel­len?»

Manch­mal ist die Prä­senz des Ras­sis­mus so all­ge­gen­wär­tig, dass man ver­gisst zu fra­gen – war­um? Wenn alle eine Mei­nung zu Char­lie Heb­do oder PEGIDA haben, ist es ein­fach, auf das «Wie» oder «Was» zu fokus­sie­ren: Wie kön­nen PEGIDA so viel Macht erwer­ben? Was kön­nen wir dage­gen tun? Die­sen Feh­ler begeht Inva Kuhn nicht. In ihrem poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Buch Anti­mus­li­mi­scher Ras­sis­mus. Auf Kreuz­zug für das Abend­land, unter­nimmt sie es, die Fra­gen nach dem «Wie» und dem «War­um» mit­ein­an­der zu verbinden.

Kuhn basiert ihr Buch über den aktu­el­len Ras­sis­mus in Deutsch­land auf die Theo­rie, was zugleich posi­tiv wie nega­tiv ist. Im Unter­schied zu vie­len ande­ren Autor_innen benutzt sie phi­lo­so­phi­sche Tex­te wie die von Der­ri­da, um die psy­cho­lo­gi­schen Grün­de des Ras­sis­mus zu beschrei­ben und zu ver­ste­hen. Sie erklärt die Funk­ti­on der Ande­ren als gro­ßen Teil des Ras­sis­mus— wenn es ein «Deutsch-Sein» gibt, muss es auch ein «Ande­res» geben. Die­se Tren­nung exis­tiert, damit eine Sei­te domi­nant sein kann, wäh­rend, in die­sem Fall, «Mus­li­misch-Sein» unter­drückt wird. Kuhn geht einen Schritt wei­ter und gibt unse­rer Gesell­schaft und vor allem einer «Ver­wer­tungs­lo­gik» die Schuld: «Im Sin­ne der Ver­wer­tungs­lo­gik wird Nicht­deut­schen Nutz­lo­sig­keit unter­stellt» (S. 84).

Das soll nicht hei­ßen, dass Kuhn das «Wie» nicht beschrei­ben kann. Der drit­te Teil ihres Buches – die «Ritua­le der Her­ab­wür­di­gung» – ist eine tief­ge­hen­de Ana­ly­se der Geschich­te des anti­mus­li­mi­schen Ras­sis­mus. Sie spricht nicht nur über die aktu­el­len kon­flikt­träch­ti­gen The­men wie Moschee­bau­ten, das Kopf­tuch oder die Beschnei­dung von Jun­gen, son­dern auch über die «sub­ti­len» Sei­ten die­ser Form des Ras­sis­mus, zum Bei­spiel wenn sie bemerkt, dass «Mus­li­me» wegen ihrer Kul­tur, Reli­gi­on oder Eth­nie und nicht nur auf­grund ihrer «Ras­se» dis­kri­mi­niert wer­den (der soge­nann­te «Ras­sis­mus ohne Rassen»).

Was in Kuhns Ein­füh­rung fehlt, sind die tat­säch­li­chen Mus­li­me. Obwohl Theo­rien des Ras­sis­mus dabei sind, spie­len die Dis­kri­mi­nier­ten selbst fast gar kei­ne Rol­le. Im Gegen­satz zu vie­len ande­ren Büchern über Dis­kri­mi­nie­rung gibt es wenig Zita­te und Bil­der von Mus­li­men, eigent­lich nur kur­ze Anek­do­ten. Zu Wort kom­men statt­des­sen viel zu oft Figu­ren wie Thi­lo Sar­ra­zin. In der Geschich­te über real vor­han­de­ne Men­schen feh­len die Menschen.

Am Ende bie­tet Kuhn eini­ge «Gegen­stra­te­gien». Nach knapp 100 Sei­ten über den Ras­sis­mus in Deutsch­land sind nur vier Sei­ten dafür vor­ge­se­hen, was man dage­gen tun kann. Die Ideen dre­hen sich vor allem um Bil­dung und Zusam­men­ar­beit, ins­be­sond­re zwi­schen «Par­tei­en, Gewerk­schaf­ten, sozia­len, inter­kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Ver­bän­den sowie nicht zuletzt anti­ras­sis­ti­schen und anti­fa­schis­ti­schen Initia­ti­ven» (S. 100). Ideen wie die­se sind kei­nen Durch­bruch, aber es könn­te auch sein, dass wir kei­nen Durch­bruch brau­chen, wenn wir das Pro­blem ken­nen. Wahr­schein­lich brau­chen wir eher Hand­lung. Die­ser Teil ist ähn­lich wie das gan­ze Buch – Kuhn erklärt die Theo­rie, aber man braucht mehr als Theo­rie, um die Gesell­schaft zu verändern.

 

Inva Kuhn: Anti­mus­li­mi­scher Ras­sis­mus. Auf Kreuz­zug für das Abend­land, Papy­Ros­sa Ver­lag, Köln 2015, 110 S. ISBN 978−3−89438−560−6, €11,90.

 

Dha­rio DeSou­sa stu­diert Poli­tik­wis­sen­schaft an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Berlin.