«Reihen Sie sich bitte in die richtige Reihe ein. Halten Sie bitte ihren Ausweis bereit.»
«Flüssigkeiten sind verboten. Haben Sie einen Laptop dabei? – Dann legen Sie diesen bitte gesondert auf das Kontrollband.»
Die Warteschlangen erinnern stark an die Trennung von «Economy Class» und «Business Class» im Flugzeug. Auch das Piepsen der Metalldetektoren klingt nach Sicherheitskontrollen am Flughafen. Beim NSU-Prozess müssen alle warten, doch sie Schlangen trennen «normale» Besucher_innen von akkreditierten Journalist_innen. Anschließend müssen die Zuschauenden eine Kontrolle, ähnlich denen am Flughafen, über sich ergehen lassen. Nachdem die Taschen gründlich durchleuchtet und alle potenziell gefährlichen Gegenstände an die Polizei übergeben wurden, geht es die Treppe hoch zur Zuschauer_innentribüne. Obwohl der Andrang in den letzten Monaten stark nachgelassen hat, kommen viele bereits um acht Uhr oder noch früher, um einen guten Platz zu ergattern. Dann trinken sie meist einen Kaffee im Hinterzimmer der Tribüne – eine Art Gehege auf einem Treppenabsatz – und warten auf den Prozessbeginn.
Als Beate Zschäpe um halb zehn Uhr den diesmal gut gefüllten Gerichtssaal A 101 des Münchner Oberlandesgerichts betritt, zieht sie sofort alle Blicke auf sich. Es lassen sich schon die Berichte gewisser Zeitungen erahnen: «Zschäpe heute in grauen Ballerinas und figurbetonter Röhrenjeans.» Sie lächelt. Sie gibt sich betont unbeteiligt und unbeschwert. Auf der Anklagebank sitzen auch noch Ralf Wohlleben und André Eminger, die beide wie Zschäpe zu den Vorwürfen schweigen, sowie Holger Gerlach, der zumindest eine Erklärung zum Prozess abgegeben hat, und der vollumfänglich aussagende Carsten Schultze. Doch es fällt schwer, den Blick von Zschäpe abzuwenden. Bis Ilona Mundlos, Mutter des am 4.11.2011 umgekommenen mutmaßlichen NSU-Mörders Uwe Mundlos, in den Zeugenstand gerufen wird. Als die 63–Jährige den Saal betritt, ist eine immense Anspannung unter den Zuschauer_innen zu spüren. Es wäre wohl mucksmäuschenstill im Saal, wäre da nicht das Tastaturgehämmer der Journalist_innen, die versuchen, jeden Blick, jede Geste der Zeugin auf ihrem Laptop festzuhalten. Die Journalist_innen sitzen mit den Zuschauenden auf derselben Tribüne und sehen deswegen nur die Richter_innen, rechts die Angeklagten und links die Bundesanwaltschaft. Eine Glasballustrade trennt die Tribüne vom Gerichtssaal. Die Nebenkläger_innen der Opfer sitzen genau unter der Zuschauertribüne und sind deswegen nur auf den seitlich angeordneten Leinwänden zu erkennen, wenn sie sich zu Wort melden. Ilona Mundlos wird die die ganze Gerichtsverhandlung über mit dem Rücken zu den Zuschauenden sitzen, weswegen ihre Mimik für die Medienvertreter_innen kaum sichtbar ist.
Die Zeugin soll das Leben ihres Sohnes rekapitulieren. Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie dem Richter Manfred Götzl: «Schule, Ausbildung zum EDV-Kaufmann, dann Militär und dann hat Uwe alleine gewohnt.» Ein Raunen, das auch als Lachen interpretiert werden kann, fliegt über die Zuschauer_innentribüne.
Als der Richter Ilona Mundlos auffordert, genauer über die jeweiligen Lebensabschnitte ihres Sohnes zu sprechen, wird sie allmählich ausführlicher. Anfangs tippen ihre Hände noch etwas nervös auf dem Zeuginnentisch auf und ab und sie redet schnell. Doch ihre anfängliche Nervosität scheint bald verflogen. Ihr Sohn habe ihr nie Schwierigkeiten gemacht: «Ich müsste schwindeln, wenn ich sage, der Uwe war böse.» Allerdings habe sie ziemlich wenig Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern, sie sei quasi «mit der Rewe-Kaufhalle verheiratet» gewesen und habe sich stets um ihren schwerbehinderten Sohn, Uwes älteren Bruder Robert, kümmern müssen. Sie erwähnt des Öfteren, wie schlimm es ihr und ihrem Mann ergangen sei, als sie von den Vorwürfen gegen ihren Sohn Uwe erfahren haben.
In einer Verhandlungspause wird schnell klar, dass Frau Mundlos nicht gerade auf Sympathie der Tribüne stößt. Die meisten Journalist_innen kennen sich am 102. Prozesstag schon persönlich und auch der eine oder die andere Zuschauer_in scheint regelmäßig dem Prozess beizuwohnen. Aus den Gesprächen im tristen Hinterraum, bei belegten Brötchen und Wasser in Plastikbechern, geht hervor, dass sie wütend sind, dass weder das Wort Mord fiel, noch Ilona Mundlos sich bei den Angehörigen und Nebenkläger_innen entschuldigt hat. Die Mutter scheine sich immer noch nicht richtig eingestanden zu haben, dass «ihr Uwe» ein Nazi und ein kaltblütiger Möder war.
Nach der Pause stößt ihre Aussage auf noch mehr Unverständnis. Sie schildert, wie ihr Sohn ihr erzählt habe, dass er Hausverbot in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald habe, weil er dort mit Freunden in recht eindeutiger brauner Uniform aufmarschiert sei. Trotzdem habe sie nichts von seiner politischen Einstellung geahnt. Es scheint so, als sehe sie die Schuld nicht bei ihrem Sohn. Und auch Beate sei ja «ein nettes Mädchen gewesen». Als Uwe Mundlos mit Zschäpe «gegangen» sei, waren sie gemeinsam einkaufen gewesen, erinnert sich Frau Mundlos. Zschäpe habe «ganz normale» Kleidung gekauft, genau solche wie sie selbst. Überhaupt seien die beiden, Uwe und seine Beate, sehr vernünftig und zuvorkommend gewesen, fährt sie fort. So habe ihr Sohn sich über das Jugendzentrum, das er mit aufgebaut habe, echauffiert, weil dort Drogen konsumiert würden. Der Jugendpfleger Grund, genannt Kaktus, habe Uwe wegen seiner politischen Einstellung verboten, den Jugendclub zu betreten. Aus ihrer Aussage klingt heraus, dass sie eine große Schuld bei Grund sieht: «Er hätte sich mit denen unterhalten müssen und sie nicht wegjagen dürfen.» Im Laufe der Vernehmung wird jedoch deutlich, dass sie sich als Mutter anscheinend auch nie mit ihrem Kind unterhalten hat, was sie jedoch nicht thematisiert. Aus ihrer Sicht sei der Jenaer Nazi-Kader André Kapke der führende Kopf der Szene gewesen. Und Uwe Mundlos’ Kumpanen Uwe Böhnhardt habe sie ja auch nie so recht leiden können: «Der grüßte nicht und hatte einen starren Blick.»
Das letzte Mal habe sie Uwe während einer Schicht im Supermarkt gesehen. Er sei zu ihr gekommen, um sich zu verabschieden. Es seien «Schreibsachen» von ihm in einer Garage gefunden worden. Für diese würde er sieben Jahre Gefängnis bekommen, weswegen er für zehn Jahre, bis die Strafe verjährt sei, untertauchen müsse. Als Manfred Götzl nachfragt, ob sie denn nicht misstrauisch gewesen sei und weiter nachgehakt habe, erklärt Mundlos: «Ich hatte keine Zeit. Ich musste zurück zur Arbeit, das Fleisch abdecken.» Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass eine Mutter nicht nachhakt, wenn der eigene Sohn zehn Jahre untertauchen will. Aber irgendwie glaubt man Ilona Mundlos. Es passt zu ihrem völlig distanzierten Auftreten. Zschäpe gibt sich während der Anhörung betont gelassen. Mal tuschelt sie mit ihrer Verteidigerin Anja Sturm, dann lacht und schäkert sie mit ihrem Anwalt Wolfgang Heer. Insbesondere Heer fällt immer wieder durch provozierende Bemerkungen auf. Einmal wiederholt Richter Götz eine Aussage der Zeugin und nennt die Angeklagte dadurch Beate. Heer verbittet sofort mit scharfem Ton, über seine Mandantin mit Vornamen zu sprechen.
Als es um den Tod von Uwe Mundlos geht, der gemeinsam mit Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach erschossen in einem brennenden Wohnmobil aufgefunden worden war, ist zeigen weder die Zeugin Mundlos noch die Angeklagte Zschäpe eine emotionale Regung. Ilona Mundlos habe am 5. November 2011 einen Anruf erhalten, eine Frau habe sich mit Beate gemeldet und gesagt: «Der Uwe ist nicht mehr.» Sie solle den Fernseher einschalten. Auf die Frage des Richters, wie die Stimme geklungen habe und ob sie sich sicher sein könne, mit Beate Zschäpe gesprochen zu haben, äfft die Zeugin den Satz «Der Uwe ist nicht mehr» erst in tiefer, dann in hysterischer Stimmlage nach. Zu guter Letzt wiederholt sie ihn noch einmal in gefasster Stimmlage: Diese sei die von Beate Zschäpe gewesen.
Nicht ein einziges Mal während ihrer Vernehmung zittert die Stimme der Zeugin. Keinmal zeigt sie eine Gefühlsregung. Ihre Emotionslosigkeit wirkt wie ein Schutzmechanismus, um die Dinge nicht zu nah an sich heranzulassen. Sie sieht sich als Opfer, erzählt, dass sie wegen der Vorwürfe gegen ihren Sohn und den gesundheitlichen Konsequenzen daraus habe in Frührente gehen müssen. Auch ihr Mann sei schwer krank. Es ist nicht abzustreiten, dass die schlanke Frau dadurch für ihr Leben gezeichnet ist. Angesichts von mindestens zehn Morden, verschiedenen Bombenanschlägen und anderen Verbrechen, die ihrem Sohn und seinen vermeintlich nur zwei Mittäter_innen zur Last gelegt werden, wäre ein anderes Auftreten aber vielleicht hilfreicher gewesen. Sie hat die Vernehmung passiv über sich ergehen lassen. Als sie den Zeugenstand verlässt, hat sie ihren schwarzen Mantel den ganzen Tag nicht ausgezogen. Es sind keine neuen Informationen bekannt geworden. Weder hat sie über die Morde gesprochen noch wirklich über die Rolle der Verfassungsschutzbehörden, auf die sie nur beiläufig eingegangen ist.
Ilona Mundlos, deren Vernehmung der alleinige Inhalt des 102. NSU-Verhandlungstags war, steht stellvertretend für die Unzulänglichkeiten bei der Aufarbeitung staatlich geduldeter Morde durch den Staat.
Weitere Beiträge zum NSU-Prozess in München finden sich unter http://www.rosalux.de/news/39697