Olga Grjasnowa im Gespräch über ihren Roman «Der Russe ist einer, der Birken liebt», Multikulturalismus und Rassismus in Deutschland
Wenn ich versuche, dein Buch zu charakterisieren, fällt mir das Wort Identitätssuche ein. Es geht um Heimat, um Herkunft, um Zugehörigkeit und Ausgeschlossen-Sein, all das taucht immer wieder in verschiedenen Facetten auf. Hat das Erzählte mit deiner Biografie zu tun?
Ich finde nicht dass es um Heimat geht, genau dagegen wehrt sich das Buch. Gegen diese Nötigung, eine Heimat benennen zu müssen…
Es kommt dieser Satz vor, dass Heimat immer irgendwie mit Pogrom verbunden ist… Aber letzten Endes ist die Figur der Maria ja schon irgendwie immer gezwungen, sich selbst zu definieren. Sie, aber auch ihre Freunde Sami und Cem, müssen ja ständig sagen: «Ich bin Deutscher, ich hab Migrationshintergrund» usw. Das ist eigentlich das Thema, was sich durch den ganzen Roman zieht.
Ja, was sich durchzieht, ist der Zwang dazu. Was mich nervt, ist, dass es für viele ja so schlimm ist, wenn man keine Heimat hat. Ich bekomme schon Zustände, wenn ich den Begriff Heimat nur höre. «Wurzeln» und all das. Ich finde das gehört sich nicht. Was diskutiert werden muss, ist der Zugang zu Staatsbürgerschaft und nicht irgendwelche vermeintlichen Wurzelsuchen. Ich kenne niemanden, der davon besessen wäre, die eigenen Wurzeln oder Herkunftskultur zu finden. Sobald das politisch in den Vordergrund gerückt wird, weil es immer benannt wird – Migrationshintergrund oder so – bedeutet das immer praktisch, dass die Leute nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören sollen.
Also so wie die Polizeimeldung kürzlich, als eine Imbissbude angegriffen wurde und die Polizei dann eben gesagt hat, ein «fremdenfeindlicher» Hintergrund könne zugrunde liegen. Damit wird der Inhaber dieses Imbissstandes zu einem Fremden gemacht, egal, was er für einen Hintergrund hat, oder ob er deutscher Staatsbürger ist.
Oder wenn es heißt, es wurde ein Islamist gefasst. Sind ja sowieso alle Islamisten. Von den Salafiten fühle ich mich bei weitem nicht so belästigt wie von den Mormonen oder Zeugen Jehovas. Die klopfen und die gehen dann auch nicht weg. Und die Salafiten stellen sich wenigstens in die Ecke und bieten den Koran einfach nur an.
Die Problematisierung dieses Begriffs «Migrationshintergrund» kommt immer wieder vor im Buch. Würdest du sagen, dass Deutschland deswegen eine rassistische Gesellschaft ist?
Durch und durch… Deutschland ist rassistisch, wie jeder einzelne Nationalstaat. Er liegt ja schon dem Begriff «Nationalstaat» zu Grunde. Ich merke auch die Reaktionen, wenn ich auf der Straße unterwegs bin mit Freundinnen, die dunklere Hautfarbe haben… Ich sehe wohl «arisch» aus, deshalb falle ich da nicht auf. Ich werde immer für mein Deutsch gelobt, anderen traut man überhaupt nichts zu, nicht mal, dass sie überhaupt schreiben können.
Im Buch beschreibst du das sehr plastisch, z.B. in der kurzen Episode mit dem Professor an der Uni, wie er Maria anschaut und was er über sie denkt, das ist eine sehr präzise gezeichnete Alltagserfahrung. Wo siehst du Rassismus noch?
Schon allein im gesellschaftlichen Diskurs. Zum Beispiel die Darstellung von Menschen in der Werbung, der Sexismus, der da ebenso reinspielt. Oder bei den Behörden, wo es immer die guten Migranten gibt und die weniger guten. Wenn man arabischstämmig ist, dann ist man womöglich ein Terrorist. Und die ganze Islam-Hetze, die jetzt gemacht wird. Letztens kam eine ältere adrette Dame bei einer Lesung sturzbetrunken rein und meinte: Ja, Juden verstehen immer alles ein bisschen anders. Oder Juden sollten sich nicht mit anderen mischen, man sehe das am Beispiel der USA, wo Schwarze und Weiße auch nicht gemischt werden sollten etc.
Ich finde es ist extrem schwierig, von Dir als Person und Autorin zu abstrahieren, wenn ich an diese Maria Kogan oder Mascha im Buch denke. Was ist Fiktion und was ist echt?
Na ja, die Eckdaten stimmen überein. Ich bin auch mit einer jüdisch-russischen Familie aus Baku nach Deutschland gekommen, im selben Alter. Und Frankfurt kenne ich ganz gut und nach Israel bin ich dann zur Recherche für sechs Monate extra hingegangen. Ich dachte zuerst, der zweite Teil des Buches sollte in Moskau spielen.
Das will ich auch nicht hoffen, dass dir diese Geschichte tatsächlich widerfahren ist, weil das ist ja der irrsinnig intensive Kern des Buches, diese Trauer Marias um ihren Liebsten Elias und auch das Trauma aus dem Konflikt um Bergkarabach, das sie in Baku erlebt hat.
Die Pogrome haben mich schon immer beschäftigt, weil ich auch in Baku aufgewachsen bin – und davon kann man nicht abstrahieren. Wir haben eine sehr lange «Pogrom-Tradition» in der Familie, auch weil der jüdische Teil wegen Pogromen nach Aserbaidschan eingewandert ist. Die Pogrome in Armenien waren mir immer sehr wichtig… Die Geschichte wurde mir über vierzigtausend Ecken erzählt von einem Vater, dessen Sohn das widerfahren ist. Er war auf dem Weg von der Schule nach Hause, als eine Leiche direkt vor seinen Füßen aufgeschlagen war. Da wusste ich, das ist meine Geschichte. Ich wollte keinen historischen Roman schreiben, ich wollte, dass es in der Jetzt-Zeit spielt. Die Archive sind zu und mit Recherche wäre das nicht zu schaffen gewesen, also habe ich das als Ausgangspunkt genommen. Aber ich wusste auch, dass es noch einen Trigger brauchen würde, damit das Trauma wieder hochkommt. Deswegen der Tod von Elias. Erst hatte ich mir überlegt, ob Marias Mutter sterben soll. Meine damalige Mitbewohnerin war Medizinerin, mit ihr und ihren Freundinnen haben wir drei Tage lang überlegt: Ich habe gesagt, ich brauche einen Tod, der möglichst harmlos klingt, dramaturgisch nicht zu überladen, da kamen wir auf die Fettembolie und dann habe ich das nachrecherchiert. Außerdem hat mir ein befreundeter Psychologe weitergeholfen, ich habe aber auch viel Literatur und Selbsthilfeforen im Internet gelesen und Gespräche mit Betroffenen geführt…
Ich bin über einen Satz im Zusammenhang mit Elias’ Eltern gestolpert, die ja in Apolda lebten. Der Satz heißt «Thüringen hatte nichts mit unserem subjektiven Rechtsempfinden zu tun». Warst du mal in Apolda?
Nein.
Dass der Satz damit nichts zu tun hat, ist mir klar, aber passt für mich irgendwie auf die Situation in Thüringen, wo ja auch einer der Untersuchungsausschüsse zum NSU sich abgearbeitet hat, um rauszukriegen was ist da passiert, wie konnte das passieren? Was hast du zu diesen Enthüllungen gedacht?
Ich konnte nicht mehr. Das erste, was ich mitbekommen habe, war, dass es «Döner-Morde» gewesen sein sollten. Das ist wirklich großartig, vierzig Jahre Einwanderung – und dann das. Das ist für mich das beste Beispiel für Rassismus überhaupt. Da sind jetzt in Deutschland zehn Menschen ermordet worden, aber für die öffentlich-rechtlichen Kanäle sind sie immer noch Dönerfleisch, das verarbeitet wurde.
Mir ist die eine ironische, Bemerkung von Cem im Gedächtnis, wo du Post Colonial Studies, Critical Whiteness, Rassismus-Theorien und dann eben auch noch Autoren wie Fanon, Said und Terkessidis erwähnst. Ist das das Gebiet, auf dem du dich theoretisch-wissenschaftlich bewegst?
Das ist auf jeden Fall das, was ich gelesen habe und was mich natürlich auch beeinflusst hat. Aber ich habe Kunstgeschichte studiert, literarisches Schreiben. Ich habe natürlich auch andere gelesen, aber es war wichtig, im Buch wenigstens diese Quellen zu benennen. Ist bisher aber noch niemandem aufgefallen.
Steckt hinter dieser Nennung die Vorstellung einer nicht-rassistischen Gesellschaft? Ich will jetzt nicht das verbrauchte Wort der multikulturellen Gesellschaft strapazieren, aber hast du so eine Vision?
Ich bin in einer solchen Gesellschaft aufgewachsen. Aserbaidschan war ja so die multi-ethnischste Republik der ganzen Sowjetunion. Für die Juden war es während des Zweiten Weltkrieges der einzig sichere Ort im Land. Alle Ehen in meiner Familie sind gemischt. Bis in die Achtzigerjahre waren, glaube ich, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung nicht aserbaidschanisch-stämmig in der Hauptstadt. Aber man fragte nicht danach, man fragte nicht nach der Nationalität, die stand einfach nur im Pass. Wir müssen endlich mit dem ganzen Quatsch um diese Nationalitäten aufhören. Die sind ohnehin konstruiert.
Naja, aber ein wesentlicher Aspekt des Buches ist das Trauma des Mädchens in den pogromartigen Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.
Hm, genau, aber das hatte noch andere politische Gründe, also so heißt es ja: Die sind «auseinandergeflogen» wie die ganze Sowjetunion. Aber das war wirklich so, für die Juden zum Beispiel ist es immer noch komplett sicher. Wir waren 2011 im Urlaub in Aserbaidschan und haben auf der Straße einen Taxifahrer gefragt, wo die Synagoge ist, und er hat uns ganz komisch angeguckt und gesagt: «Da müssen sie sich schon präziser ausdrücken», und hat sechs Synagogen aufgezählt. Es ist immer noch liberal, obwohl es von der Presse jetzt ein bisschen anders dargestellt wird. Bei diesen Kriegen, das war auch eine Inszenierung: Der iranische Geheimdienst war da, der KGB war da… Es hatte ja in Bergkarabach angefangen mit den Armeniern, die es annektieren wollten, und da sind einfach Massen an Flüchtlingen in die Hauptstadt gekommen, die wirklich in Parks campiert haben und deren Familien ermordet worden waren. Es gab weder eine Regierung noch sonst irgendwas, kein Geld, nichts. Es war vollkommene Anarchie, aber nicht im schönen Sinne. Der KGB hat zum Teil Schauspieler angeheuert und sie in die Massendemonstrationen reingeschickt, die haben dann auch geschossen. Und dann hat sich die Nationale Front gebildet, aber die kam erst in den Dörfern, das war ja nicht das, was in der Hauptstadt war. Dann wurden allerdings 30.000 Menschen innerhalb von ein Paar Tagen ermordet, vergewaltigt, zerstückelt, gefoltert und vertrieben worden.
Ist Aserbaidschan denn heute noch eine multikulturelle Gesellschaft in diesem Sinne?
Wahnsinnig viele Leute sind ausgewandert, eigentlich alle, die es konnten. Es ist immer noch multikulturell, und das wird immer so bleiben. Aber heute sind es eher Iraner und Pakistaner, die kommen. Natürlich ist es für Armenier eine No-Go-Area, genau wie für Aserbaidschaner Armenien. Nur eine Sache vielleicht: Damals war Russisch die lingua franca und jetzt ist es Aserbaidschanisch, es hat sich viel geändert. Und es gibt immer noch einen sehr großen Graben zwischen den Flüchtlingen und den alten Bakinern.
Ja, womit wir wieder beim Heimat-Moment wären… In deinem Buch taucht eine Figur auf, der bedauernswerte Daniel, der aussieht wie ein verhungertes, beleidigtes Kaninchen. Das ist ein Antideutscher, der kommt echt nicht gut weg in dem Buch. Hast du was gegen Antideutsche?
Ja! Ich habe etliche Erfahrungen gemacht, auch durch WGs und so weiter; ein Großteil davon sind wirklich Antisemiten… Ich verstehe das nicht, diese Ideologie hat für mich nichts mit Israel zu tun, sondern das sind irgendwelche inneren Komplexe, die über Israel transportiert werden und die aufgearbeitet werden sollen. Das ist zutiefst provinziell und lächerlich, wenn Leute, die noch nie in Israel waren, behaupten, Solidarität mit Israel aufbauen zu müssen, weil ihre Großväter vor 60 Jahren Juden ermordet haben. Ich meine, das macht es auch nicht besser. Dann lass halt einfach mal die Finger davon, aus Respekt. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass es nur diese zwei Extreme gibt, entweder die Anti-Imps oder die Antideutschen. Eine differenzierte Meinung bekommt man selten.
Ja und das ist eigentlich, finde ich, das Prägnanteste an dem Israel-Teil deines Romans. Weil ich das Gefühl habe, Du scannst eigentlich alle wesentlichen Diskussionen und Fragen, die dort diskutiert werden, vor allem auch in der «radikalen Linken» in Israel. Ob das jetzt der Siedlungsbau ist, ob es Boykottaufrufe sind oder Militäreinsätze, es kommt wirklich alles vor, auch Identitätsfragen und die israelischen Identitätsdiskussionen darüber, ob der Staat verschwindet, bedroht ist, ob man sich solidarisieren muss mit seinem Staat und so weiter. Ist das ein Thema – oder vielleicht sogar das Thema –, was dich beschäftigt und vielleicht auch zum Schreiben bringt?
Auch.
Ich vermute mal, dass diese Episoden aus Israel und auch aus Ramallah oder aus den palästinensischen Gebieten schon real beobachtete Geschehnisse sind?
Ähm, ja. Oder ja und nein. Da ist Beobachtung mit drin, Fiktion, aber auch Wahrscheinlichkeiten, die eintreffen könnten. Viele Situationen sind auch verändert: Das mit dem Computer, der wegen Sprengstoffverdachts beschossen wurde, zum Beispiel ist tatsächlich einmal passiert, aber in einem ganz anderen Grenz-Zusammenhang. Es muss ja auch in das Buch passen.
Arbeitest du schon an was Neuem, hast du ein neues Romanprojekt?
Ja, ich versuche es. Ich glaube, es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen. Bei dem Buch hatte ich ja auch sehr lang gedacht, dass der zweite Teil in Moskau spielen würde…
Dein erster Roman ist irrsinnig körperlich. Es ist sehr viel vom Körper in seinen verschiedenen Aggregatzuständen die Rede, es wird geschwitzt, geblutet, geeitert. Ist das für dich selbst ein Thema, ist das eine Perspektive aus deinem Körper heraus? Oder stimmt das gar nicht, was ich da sage?
Es kommt nicht darauf an, was ich mir dabei dachte, und was beim Leser ankommt. Zu Maria hat das ganz gut gepasst, auch zu ihrer Perspektive, weil sie immer mehr in diesen körperlichen Zustand versetzt wird. Mir war schon klar, dass es schlecht endet, also mit dem offenen Ende, es soll dem Leser möglichst wehtun. Das nächste Buch wird jedenfalls noch körperbetonter. Eine Hauptfigur ist Tänzerin. Und es geht wieder zurück in die Sowjetunion. Was mich interessiert, sind unterschiedliche Kunstauffassungen… Also die sowjetische, das Diktat. Und die Körperbetontheit ist eigentlich Judith Butler, der perfekte Körper oder der Körper, der genutzt wird, der sexuell ausgegrenzt wird, der homosexuelle Körper.
Vielen Dank für das Gespräch.