Grau-brauner Terror: Graue Wölfe in Deutschland und Berlin

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Sym­bol der Grau­en Wöl­fe, Quel­le: Wikipedia

Die Wöl­fe heu­len wieder

Eine Schlan­ge bil­det sich vor dem Süd­block in Ber­lin Kreuz­berg. Zwei schwarz geklei­de­te Per­so­nen bewa­chen den Ein­gang, kon­trol­lie­ren die War­ten­den und las­sen immer nur drei Men­schen nach­ein­an­der in das Lokal. Im nahen Umfeld ste­hen meh­re­re Per­so­nen mit Tele­fo­nen und beob­ach­ten die Men­ge. Sze­nen, die an einem Frei­tag- oder Sams­tag­abend nichts Unge­wöhn­li­ches sind, an einem Mitt­woch­abend im Dezem­ber aber eher über­ra­schend. Im Gebäu­de erwar­tet die Gäs­te an die­sem Abend indes kei­ne Musik, son­dern eine Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tung zu den tür­ki­schen ultra­na­tio­na­lis­ti­schen „Grau­en Wöl­fen“. Gela­den hat­ten die lin­ke pro-kur­di­sche HDP Ber­lin (Hal­kların Demo­kra­tik Par­ti­si, deutsch: Demo­kra­ti­sche Part­nei der Völ­ker), der Ber­li­ner RLS-Able­ger Hel­le Pan­ke und TOP Berlin.

Die „Grau­en Wöl­fe“ (tür­kisch: Bozk­ur­t­çu­lar) agie­ren seit den 1970er Jah­ren deutsch­land­weit und sind immer wie­der, vor allem im Zuge der dies­jäh­ri­gen Par­la­ments­wah­len in der Tür­kei, durch gewalt­tä­ti­ge und mili­tan­te Angrif­fe gegen lin­ke Türk_innen und Kurd_innen aufgefallen.

Der Raum im Süd­block füllt sich sehr schnell, gekom­men sind vor allem Per­so­nen aus der lin­ken anti­fa­schis­ti­schen Sze­ne, kur­di­sche und tür­ki­sche Lin­ke und eini­ge deutsch-tür­ki­sche HDP-Abge­ord­ne­te. Vie­le müs­sen den Abend über ste­hen, fast 100 Per­so­nen wer­den abge­wie­sen, da die Kapa­zi­tät des Süd­blocks nicht aus­reicht. Der Andrang über­rascht, denn die Betei­li­gung nicht-migran­ti­scher Per­so­nen an pro-kur­di­schen Soli­da­ri­täts­de­mons­tra­tio­nen für Roja­va, die PKK oder die Toten von Suruç in den letz­ten Wochen in Ber­lin war meist sehr gering. Am heu­ti­gen Abend ergibt sich jedoch ein ande­res Bild, fast 60 Pro­zent der Anwe­sen­den sind der deut­schen wei­ßen Lin­ken zuzu­ord­nen. Das The­ma Ultranationalist_innen in der Tür­kei und in Deutsch­land scheint doch vie­le zu interessieren.

Auf dem Podi­um sit­zen Alia Sem­bol (Fach­in­for­ma­ti­ons­stel­le gegen Rechts­extre­mis­mus in Mün­chen), Jiyan Dur­gun und Ferat Koçak (bei­de HDP Ber­lin). Alia Sem­bol erläu­tert zunächst die Struk­tur der „Grau­en Wöl­fe“ in Deutsch­land. Dann berich­ten Jiyan Dur­gun und Ferat Kocak als akti­ve kur­di­sche Lin­ke in Deutsch­land von ihren per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit den „Grau­en Wölfen“.

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Hand­zei­chen der Grau­en Wöl­fe, Quel­le: Wikipedia

Ülkü­cüs und Bozkurtçular

Der Graue Wolf, dar­ge­stellt auf Fah­nen oder als Hand­zei­chen, ist das inof­fi­zi­el­le Sym­bol der Anhän­ger der ultra­na­tio­na­lis­ti­schen Par­tei MHP (Mil­li­y­e­t­çi Hare­ket Par­ti­si, deutsch: Par­tei der Natio­na­lis­ti­schen Bewe­gung) die von Alpars­lan Tür­kes (1917−1997) am 2.August 1969 in der Tür­kei gegrün­det wur­de. Ihr Ziel ist die Ver­ei­ni­gung aller Turk­völ­ker in einem tür­ki­schen Groß­reich, das vom Bal­kan bis Zen­tral­asi­en rei­chen soll, sowie die Bekämp­fung ihrer poli­ti­schen Geg­ner: Kurd_innen, Armenier_innen, Griech_innen, Juden und Jüdin­nen, Homo­se­xu­el­le und Christ_innen.

Bei den Par­la­ments­wah­len im Novem­ber die­ses Jah­res erlang­te die MHP 15,8 Pro­zent der Stim­men in der Tür­kei. Offi­zi­ell bezeich­nen sich die „Grau­en Wöl­fe“ als „Ülkü­cüs“ (Idea­lis­ten). In Deutsch­land gibt es min­des­tens 20.000 sol­cher Idea­lis­ten; bei den Par­la­ments­wah­len wähl­ten 7,1 Pro­zent aller tür­ki­schen Wähler_innen selbst in Deutsch­land die MHP.

In Deutsch­land agie­ren sie weit­ge­hend unge­stört, auf sicher­heits­po­li­ti­scher Ebe­ne, wie in den Ver­fas­sungs­schutz­be­rich­ten, tau­chen die „Grau­en Wöl­fe“ nicht auf. Daß die Sicher­heits­be­hör­den nicht beson­ders aktiv gegen­über ras­sis­ti­schen und natio­na­lis­ti­schen Netz­wer­ken sind, über­rascht nicht. Aber auch in der deut­schen anti­fa­schis­ti­schen Sze­ne fin­det die Bear­bei­tung der „Grau­en Wöl­fe“ kaum Raum, meist wird dies den tür­ki­schen oder kur­di­schen Lin­ken über­las­sen. Erschwert wird dies auch durch das Auf­tre­ten der „Grau­en Wöl­fe“: die Sym­bo­le sind nicht allen bekannt, öffent­lich wirk­sa­me Aktio­nen gibt es kaum. Sie kon­zen­trie­ren sich stark auf tür­kisch-migran­ti­sche Orga­ni­sa­ti­ons- und Stadt­teil­ar­beit. Gleich­zei­tig ver­su­chen füh­ren­de „Idea­lis­ten“ in deut­sche Par­tei­en wie CDU, SPD und Grü­nen Fuß zu fas­sen, um für eine tür­kei-kon­for­me Poli­tik, eine sehr libe­ra­le Aus­län­der­po­li­tik oder eine dis­kri­mi­nie­ren­de Kur­d_in­nen- oder PKK-Poli­tik zu wer­ben. Genau die­se sehr ver­brei­te­te Wis­sens­lü­cke zum The­men­kom­plex „Graue Wöl­fe“ soll­te mit der Ver­an­stal­tung aus­ge­füllt wer­den. Lei­der setz­te vor allem Alia Sem­bol viel beim Publi­kum vor­aus: Ihr Vor­trag bot wenig all­ge­mei­ne Infor­ma­tio­nen über die Ent­ste­hung der „Grau­en Wöl­fe“, ihre Ideo­lo­gie und Sym­bo­li­ken. Viel­mehr ging es kon­kret um Orga­ni­sie­rungs­for­men in Deutsch­land und Ber­lin. Und auch wenn das wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen sind, für Neu­lin­ge auf dem Feld des tür­ki­schen Natio­na­lis­mus sind sie nur schwer ein­zu­ord­nen und daher kaum verständlich.

Tur­kos MC

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Logo der MHP, Quel­le: Wikipedia

Sie stell­te vor allem Netz­wer­ke und Struk­tu­ren der Orga­ni­sie­rung vor: Dem­nach gibt es in Deutsch­land drei Ver­eins­netz­wer­ke, die sich alle den „Grau­en Wöl­fen“ zurech­nen las­sen. Die Anhän­ger­schaft der MHP orga­ni­siert sich im Dach­ver­band Türk Federasyon (Tür­ki­sche För­de­ra­ti­on). Die­ser Föde­ra­ti­on gehö­ren neben Moschee-Ver­ei­nen auch die Ülkü Ocakla­ri („Idea­lis­ten­clubs“) an. Inner­halb die­ser sozia­len oder poli­ti­schen Zen­tren wer­den Jugend­li­che ideo­lo­gisch geschult und in Form eines hier­ar­chi­schen Auf­stiegs­prin­zips in die Par­tei- und Ver­bands­struk­tur ein­ge­bun­den. Die Türk Federasyon hat in Deutsch­land 7.000 Mit­glie­der und gehört zu der euro­pa­wei­ten Struk­tur der Avur­pa Türk Kon­fe­derasyon (Tür­ki­schen Kon­fö­de­ra­ti­on in Europa).

Neben der Türk Federasyon mit Sitz in Frankfurt/Main gibt es Avur­pa Türk Kül­tür Der­ne­kle­ri Bir­li­gi, den Ver­band der tür­ki­schen Kul­tur­ver­ei­ne in Euro­pa, Kurz­form Avur­pa Türk Bir­li­gi (ATB), eben­falls in Frank­furt ansäs­sig. Die ATB gehört der Büyük Bir­lik Par­ti­si (BBP, deutsch: Par­tei der gro­ßen Ein­heit), einer Abspal­tung der MHP, an. In ihr sind in Deutsch­land cir­ca drei­ßig Ver­ei­ne orga­ni­siert. Sie ver­sucht die isla­mis­ti­sche Kom­po­nen­te mit dem his­to­risch-poli­ti­schen Ursprung des tür­ki­schen Natio­na­lis­mus zu ver­ei­nen. Ein wei­te­res Spal­tungs­pro­dukt der MHP ist die Avrupa Türk-İsl­am Bir­liği (ATIP, deutsch: Tür­kisch Isla­mi­sche Uni­on Euro­pa) mit Sitz in Köln. Die ATIB, der um die 100 Ver­ei­ne ange­hö­ren, hat eben­falls Kon­tak­te zur BBP und pro­pa­giert den Islam als kon­sti­tu­ie­ren­des Ele­ment des Türkentums.

Die­se Struk­tu­ren haben in vie­len Städ­ten in Deutsch­land Ver­eins­ab­le­ger und teil­wei­se eige­ne Moscheen, Fuss­ball- und Kul­tur­ver­ei­ne. In Ber­lin etwa gibt es drei sol­cher „Idea­lis­ten“-Ver­ei­ne, in Span­dau, Wed­ding und Kreuz­berg. Meist fin­den in den Räum­lich­kei­ten Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen wie Auf­trit­te von tra­di­tio­nel­len tür­ki­schen Folk­lo­re-Musi­ker_in­nen und Tanz­ver­an­stal­tun­gen statt, bei denen häu­fig Pro­pa­gan­da­ma­te­ri­al zum tür­ki­schen Natio­na­lis­mus und zu poli­ti­schen Geg­nern ver­brei­tet wird. Aber auch der Neu­köll­ner Fuß­ball-Ver­ein BSV Hür­tü­kel  lässt sich den „Grau­en Wöl­fen“ zuord­nen. Gera­de durch die­ses nach außen unpo­li­tisch wir­ken­de Auf­tre­ten fällt eine Ein­ord­nung und dar­auf auf­bau­end mög­li­che Inter­ven­ti­on schwer.

Neben die­sen kul­tu­rel­len Ver­ei­nen haben sich eini­ge „Graue Wöl­fe“ in Ber­lin in einem Motor­rad-Club, dem Tur­kos MC, orga­ni­siert. Anders als in der klas­si­schen Ver­eins­struk­tur wird hier auf der Face­book­sei­te des MCs zu Gewalt­ta­ten gegen kur­di­sche Lin­ke auf­ge­ru­fen. So heroi­siert ein Bei­trag vom August die­sen Jah­res die Angrif­fe auf HDP-Wahl- und Stadt­teil­bü­ros in der Tür­kei und for­dert dazu auf, „aktiv gegen die HDP“ in Deutsch­land und Ber­lin zu wer­den. Im Zuge des tür­ki­schen Wahl­kamp­fes kam es auch in Ber­lin zu gewalt­tä­ti­gen Aktio­nen gegen­über der HDP. So wur­de das HDP-Büro in Kreuz­berg am Abend sei­ner Eröff­nung Ziel zwei­er Brand­an­schlä­ge, vie­le Wahl­kampf­ver­an­stal­tun­gen der HDP in Kreuz­berg, Neu­kölln und Wed­ding wur­den teil­wei­se gewalt­tä­tig gestört.

Repres­si­on gegen tür­ki­sche Nationalist_innen

Die bei­den Aktivist_innen der HDP kri­ti­sie­ren in ihren Berich­ten auch das Vor­ge­hen der deut­schen Ord­nungs- und Ermitt­lungs­be­hör­den. Die „Grau­en Wöl­fe“ und tür­ki­scher Ultra­na­tio­na­lis­mus sind vie­len Beamt_innen nicht bekannt – die PKK schon. Kur­di­sche Lin­ke sehen sich in der jet­zi­gen Situa­ti­on einer dop­pel­ten Bedro­hung aus­ge­setzt, einer­seits mili­tant und gewalt­tä­tig agie­ren­den „Grau­en Wöl­fen“ und ande­rer­seits untä­ti­gen, aber vor­ein­ge­nom­me­nen Polizeibeamt_innen, die repres­siv gegen die kurdische(n) Bewegung(en) vor­ge­hen. Jiyan Dur­gun und Ferat Kocak berich­ten von vie­len Situa­tio­nen, in denen bei Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit „Grau­en Wöl­fen“ im Anschluss meist kur­di­sche Aktivist_innen ver­haf­tet wur­den, wäh­rend die „Grau­en Wöl­fe“ davon­ka­men. Daher for­dern sie eine stär­ke­re Berück­sich­ti­gung der „Grau­en Wöl­fe“ durch Poli­zei und Ver­fas­sungs­schutz. Eine Repres­si­on gegen die Ver­eins- und Orga­ni­sa­ti­ons­truk­tur könn­te auch die Gefahr auf der Stra­ße mini­mie­ren, so Ferat Kocak.

Ob ein stär­ke­res Vor­ge­hen der deut­schen Ermitt­lungs- und Ord­nungs­be­hör­den gegen­über tür­ki­schen Nationalist_innen gene­rell zu för­dern ist, bleibt frag­wür­dig. Es ist aus einer deut­schen anti­fa­schis­ti­scher Per­spek­ti­ve durch­aus naiv sich auf den Ver­fas­sungs­schutz zu ver­las­sen, aus einer migran­ti­schen tra­gisch. Erin­nert sei an das Vor­ge­hen der Ver­fas­sungs­schutz­be­hör­den beim Ent­ste­hen und Agie­ren des Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds (NSU), bei dem zumin­dest von einer Dul­dung, wenn nicht von einem beob­ach­te­ten Auf­bau eines neo­na­zis­ti­schen Ter­ror­netz­wer­kes gespro­chen wer­den kann. Auch soll­te an die, über wei­te Stre­cken von Ras­sis­mus gelei­te­ten Ermitt­lun­gen der Poli­zei­be­hör­den nach den Mor­den und Anschlä­gen des NSU erin­nert wer­den, die mit einer hart­nä­cki­gen, fast auto­ma­ti­schen und über Jah­re sto­isch durch­ge­hal­te­nen Ver­däch­ti­gung und Drang­sa­lie­rung der Opfer und ihrer Ange­hö­ri­gen einherging.

Die deut­schen Sicher­heits­be­hör­den haben seit Jah­ren ein Ras­sis­mus­pro­blem und kön­nen nicht als poten­ti­el­le Bünd­nis­part­ner gegen ras­sis­ti­sche und natio­na­lis­ti­sche Akteu­re gese­hen wer­den. Es soll­te statt­des­sen auf stär­ke­re Alli­an­zen zwi­schen deut­schen Antifaschist_innen und kur­di­schen und tür­ki­schen Lin­ken gebaut wer­den. Dafür müs­sen aber noch eini­ge Dis­kus­sio­nen geführt werden.