Die Wölfe heulen wieder
Eine Schlange bildet sich vor dem Südblock in Berlin Kreuzberg. Zwei schwarz gekleidete Personen bewachen den Eingang, kontrollieren die Wartenden und lassen immer nur drei Menschen nacheinander in das Lokal. Im nahen Umfeld stehen mehrere Personen mit Telefonen und beobachten die Menge. Szenen, die an einem Freitag- oder Samstagabend nichts Ungewöhnliches sind, an einem Mittwochabend im Dezember aber eher überraschend. Im Gebäude erwartet die Gäste an diesem Abend indes keine Musik, sondern eine Informationsveranstaltung zu den türkischen ultranationalistischen „Grauen Wölfen“. Geladen hatten die linke pro-kurdische HDP Berlin (Halkların Demokratik Partisi, deutsch: Demokratische Partnei der Völker), der Berliner RLS-Ableger Helle Panke und TOP Berlin.
Die „Grauen Wölfe“ (türkisch: Bozkurtçular) agieren seit den 1970er Jahren deutschlandweit und sind immer wieder, vor allem im Zuge der diesjährigen Parlamentswahlen in der Türkei, durch gewalttätige und militante Angriffe gegen linke Türk_innen und Kurd_innen aufgefallen.
Der Raum im Südblock füllt sich sehr schnell, gekommen sind vor allem Personen aus der linken antifaschistischen Szene, kurdische und türkische Linke und einige deutsch-türkische HDP-Abgeordnete. Viele müssen den Abend über stehen, fast 100 Personen werden abgewiesen, da die Kapazität des Südblocks nicht ausreicht. Der Andrang überrascht, denn die Beteiligung nicht-migrantischer Personen an pro-kurdischen Solidaritätsdemonstrationen für Rojava, die PKK oder die Toten von Suruç in den letzten Wochen in Berlin war meist sehr gering. Am heutigen Abend ergibt sich jedoch ein anderes Bild, fast 60 Prozent der Anwesenden sind der deutschen weißen Linken zuzuordnen. Das Thema Ultranationalist_innen in der Türkei und in Deutschland scheint doch viele zu interessieren.
Auf dem Podium sitzen Alia Sembol (Fachinformationsstelle gegen Rechtsextremismus in München), Jiyan Durgun und Ferat Koçak (beide HDP Berlin). Alia Sembol erläutert zunächst die Struktur der „Grauen Wölfe“ in Deutschland. Dann berichten Jiyan Durgun und Ferat Kocak als aktive kurdische Linke in Deutschland von ihren persönlichen Erfahrungen mit den „Grauen Wölfen“.
Ülkücüs und Bozkurtçular
Der Graue Wolf, dargestellt auf Fahnen oder als Handzeichen, ist das inoffizielle Symbol der Anhänger der ultranationalistischen Partei MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, deutsch: Partei der Nationalistischen Bewegung) die von Alparslan Türkes (1917−1997) am 2.August 1969 in der Türkei gegründet wurde. Ihr Ziel ist die Vereinigung aller Turkvölker in einem türkischen Großreich, das vom Balkan bis Zentralasien reichen soll, sowie die Bekämpfung ihrer politischen Gegner: Kurd_innen, Armenier_innen, Griech_innen, Juden und Jüdinnen, Homosexuelle und Christ_innen.
Bei den Parlamentswahlen im November dieses Jahres erlangte die MHP 15,8 Prozent der Stimmen in der Türkei. Offiziell bezeichnen sich die „Grauen Wölfe“ als „Ülkücüs“ (Idealisten). In Deutschland gibt es mindestens 20.000 solcher Idealisten; bei den Parlamentswahlen wählten 7,1 Prozent aller türkischen Wähler_innen selbst in Deutschland die MHP.
In Deutschland agieren sie weitgehend ungestört, auf sicherheitspolitischer Ebene, wie in den Verfassungsschutzberichten, tauchen die „Grauen Wölfe“ nicht auf. Daß die Sicherheitsbehörden nicht besonders aktiv gegenüber rassistischen und nationalistischen Netzwerken sind, überrascht nicht. Aber auch in der deutschen antifaschistischen Szene findet die Bearbeitung der „Grauen Wölfe“ kaum Raum, meist wird dies den türkischen oder kurdischen Linken überlassen. Erschwert wird dies auch durch das Auftreten der „Grauen Wölfe“: die Symbole sind nicht allen bekannt, öffentlich wirksame Aktionen gibt es kaum. Sie konzentrieren sich stark auf türkisch-migrantische Organisations- und Stadtteilarbeit. Gleichzeitig versuchen führende „Idealisten“ in deutsche Parteien wie CDU, SPD und Grünen Fuß zu fassen, um für eine türkei-konforme Politik, eine sehr liberale Ausländerpolitik oder eine diskriminierende Kurd_innen- oder PKK-Politik zu werben. Genau diese sehr verbreitete Wissenslücke zum Themenkomplex „Graue Wölfe“ sollte mit der Veranstaltung ausgefüllt werden. Leider setzte vor allem Alia Sembol viel beim Publikum voraus: Ihr Vortrag bot wenig allgemeine Informationen über die Entstehung der „Grauen Wölfe“, ihre Ideologie und Symboliken. Vielmehr ging es konkret um Organisierungsformen in Deutschland und Berlin. Und auch wenn das wichtige Informationen sind, für Neulinge auf dem Feld des türkischen Nationalismus sind sie nur schwer einzuordnen und daher kaum verständlich.
Turkos MC
Sie stellte vor allem Netzwerke und Strukturen der Organisierung vor: Demnach gibt es in Deutschland drei Vereinsnetzwerke, die sich alle den „Grauen Wölfen“ zurechnen lassen. Die Anhängerschaft der MHP organisiert sich im Dachverband Türk Federasyon (Türkische Förderation). Dieser Föderation gehören neben Moschee-Vereinen auch die Ülkü Ocaklari („Idealistenclubs“) an. Innerhalb dieser sozialen oder politischen Zentren werden Jugendliche ideologisch geschult und in Form eines hierarchischen Aufstiegsprinzips in die Partei- und Verbandsstruktur eingebunden. Die Türk Federasyon hat in Deutschland 7.000 Mitglieder und gehört zu der europaweiten Struktur der Avurpa Türk Konfederasyon (Türkischen Konföderation in Europa).
Neben der Türk Federasyon mit Sitz in Frankfurt/Main gibt es Avurpa Türk Kültür Dernekleri Birligi, den Verband der türkischen Kulturvereine in Europa, Kurzform Avurpa Türk Birligi (ATB), ebenfalls in Frankfurt ansässig. Die ATB gehört der Büyük Birlik Partisi (BBP, deutsch: Partei der großen Einheit), einer Abspaltung der MHP, an. In ihr sind in Deutschland circa dreißig Vereine organisiert. Sie versucht die islamistische Komponente mit dem historisch-politischen Ursprung des türkischen Nationalismus zu vereinen. Ein weiteres Spaltungsprodukt der MHP ist die Avrupa Türk-İslam Birliği (ATIP, deutsch: Türkisch Islamische Union Europa) mit Sitz in Köln. Die ATIB, der um die 100 Vereine angehören, hat ebenfalls Kontakte zur BBP und propagiert den Islam als konstituierendes Element des Türkentums.
Diese Strukturen haben in vielen Städten in Deutschland Vereinsableger und teilweise eigene Moscheen, Fussball- und Kulturvereine. In Berlin etwa gibt es drei solcher „Idealisten“-Vereine, in Spandau, Wedding und Kreuzberg. Meist finden in den Räumlichkeiten Kulturveranstaltungen wie Auftritte von traditionellen türkischen Folklore-Musiker_innen und Tanzveranstaltungen statt, bei denen häufig Propagandamaterial zum türkischen Nationalismus und zu politischen Gegnern verbreitet wird. Aber auch der Neuköllner Fußball-Verein BSV Hürtükel lässt sich den „Grauen Wölfen“ zuordnen. Gerade durch dieses nach außen unpolitisch wirkende Auftreten fällt eine Einordnung und darauf aufbauend mögliche Intervention schwer.
Neben diesen kulturellen Vereinen haben sich einige „Graue Wölfe“ in Berlin in einem Motorrad-Club, dem Turkos MC, organisiert. Anders als in der klassischen Vereinsstruktur wird hier auf der Facebookseite des MCs zu Gewalttaten gegen kurdische Linke aufgerufen. So heroisiert ein Beitrag vom August diesen Jahres die Angriffe auf HDP-Wahl- und Stadtteilbüros in der Türkei und fordert dazu auf, „aktiv gegen die HDP“ in Deutschland und Berlin zu werden. Im Zuge des türkischen Wahlkampfes kam es auch in Berlin zu gewalttätigen Aktionen gegenüber der HDP. So wurde das HDP-Büro in Kreuzberg am Abend seiner Eröffnung Ziel zweier Brandanschläge, viele Wahlkampfveranstaltungen der HDP in Kreuzberg, Neukölln und Wedding wurden teilweise gewalttätig gestört.
Repression gegen türkische Nationalist_innen
Die beiden Aktivist_innen der HDP kritisieren in ihren Berichten auch das Vorgehen der deutschen Ordnungs- und Ermittlungsbehörden. Die „Grauen Wölfe“ und türkischer Ultranationalismus sind vielen Beamt_innen nicht bekannt – die PKK schon. Kurdische Linke sehen sich in der jetzigen Situation einer doppelten Bedrohung ausgesetzt, einerseits militant und gewalttätig agierenden „Grauen Wölfen“ und andererseits untätigen, aber voreingenommenen Polizeibeamt_innen, die repressiv gegen die kurdische(n) Bewegung(en) vorgehen. Jiyan Durgun und Ferat Kocak berichten von vielen Situationen, in denen bei Auseinandersetzungen mit „Grauen Wölfen“ im Anschluss meist kurdische Aktivist_innen verhaftet wurden, während die „Grauen Wölfe“ davonkamen. Daher fordern sie eine stärkere Berücksichtigung der „Grauen Wölfe“ durch Polizei und Verfassungsschutz. Eine Repression gegen die Vereins- und Organisationstruktur könnte auch die Gefahr auf der Straße minimieren, so Ferat Kocak.
Ob ein stärkeres Vorgehen der deutschen Ermittlungs- und Ordnungsbehörden gegenüber türkischen Nationalist_innen generell zu fördern ist, bleibt fragwürdig. Es ist aus einer deutschen antifaschistischer Perspektive durchaus naiv sich auf den Verfassungsschutz zu verlassen, aus einer migrantischen tragisch. Erinnert sei an das Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden beim Entstehen und Agieren des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), bei dem zumindest von einer Duldung, wenn nicht von einem beobachteten Aufbau eines neonazistischen Terrornetzwerkes gesprochen werden kann. Auch sollte an die, über weite Strecken von Rassismus geleiteten Ermittlungen der Polizeibehörden nach den Morden und Anschlägen des NSU erinnert werden, die mit einer hartnäckigen, fast automatischen und über Jahre stoisch durchgehaltenen Verdächtigung und Drangsalierung der Opfer und ihrer Angehörigen einherging.
Die deutschen Sicherheitsbehörden haben seit Jahren ein Rassismusproblem und können nicht als potentielle Bündnispartner gegen rassistische und nationalistische Akteure gesehen werden. Es sollte stattdessen auf stärkere Allianzen zwischen deutschen Antifaschist_innen und kurdischen und türkischen Linken gebaut werden. Dafür müssen aber noch einige Diskussionen geführt werden.