Götzldienst: Offenbarungseid einer Gerichtsreporterin

Rezension: Gisela Friedrichsen: Der Prozess. Der Staat gegen Beate Zschäpe u.a., 304 Seiten, Juni 2019, Penguin

27 Jah­re lang schrieb die eins­ti­ge FAZ-Redak­teu­rin Gise­la Fried­rich­sen für den Spie­gel aus den Gerichts­sä­len der Repu­blik, wäh­rend des lau­fen­den NSU-Pro­zes­ses ver­ab­schie­de­te sich das Nach­rich­ten­ma­ga­zin von ihr und sie wech­sel­te naht­los zu Aus­ts Welt. Fried­rich­sen gilt als die gro­ße alte Dame der deut­schen Gerichts­re­por­ta­ge und eine Kapa­zi­tät in die­sem Genre.
Was sie nun jedoch als Rück­schau in ihrem Buch „Der Pro­zess. Der Staat gegen Bea­te Zsch­ä­pe u.a.“ ver­öf­fent­licht, gehört mit Abstand zum Ein­fäl­tigs­ten, was über das „bedeu­ten­de Stück deut­scher Jus­tiz­ge­schich­te“ (S. 12) geschrie­ben wur­de. Man fragt sich bei der über Stre­cken auch ganz unter­halt­sam geschrie­be­nen Zusam­men­fas­sung des Pro­zes­ses, wo die 30 Jah­re Erfah­rung und der kri­ti­sche Blick abge­blie­ben sind, wel­chen sie erst jüngst im Inter­view mit der taz ein­ge­for­dert hat­te: „Mei­ne Auf­ga­be als Jour­na­lis­tin ist die Kri­tik und die Beob­ach­tung. Ich ver­ste­he mich nicht als Sprach­rohr der Jus­tiz.“ (taz, 28.6.19)

Manfred Götzls „winziges Lächeln“

Dem wider­spricht ihre devo­te Kri­tik­lo­sig­keit, der bigot­te Knie­fall vor dem Vor­sit­zen­den Rich­ter Man­fred Götzl, den Fried­rich­sen über die 300 Sei­ten ihres Buches, gera­de­zu besof­fen von sei­ner makel­lo­sen Auto­ri­tät, anhim­melt: „Pflicht­er­fül­lung“ (S. 13); „die enor­me Leis­tung die­ses Senats“ (S. 15); „jeder Hand­griff sitzt“ (S. 30); „Er ist ein alter Hase…“ (S. 34); „Doch er ver­zieht kei­ne Mie­ne“ (S. 35); „… bleibt bis zum Ende der unbe­strit­te­ne Chef“ (S. 37); “… sei­ne Aus­dau­er und Kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit sind legen­där“ (S. 47); “… ein Schach­zug des Vor­sit­zen­den“ (S. 63); „Ein Mann wie Götzl“ (S. 122); “… fragt wie stets akri­bisch“ (S. 163);; „… durch­schau­en ihn nicht… lässt sich nicht in sei­ne Ver­hand­lungs­füh­rung hin­ein­re­den“ (S. 186); „Ein Kunst­griff des Vor­sit­zen­den“ (S. 197); „Man­fred Götzl hütet sich“ (S. 270); “.… dank der exor­bi­tan­ten Leis­tung des Senats und sei­nes Vor­sit­zen­den die Nagel­pro­be bestan­den“ (S. 294); „Sein Ver­dienst ist es, dass dies glück­te“ (S. 301). Und dann bin­det der Gro­ße Vor­sit­zen­de zum Schluss „noch einen Strauß an Gerichts­be­schlüs­sen, der sowohl der Ver­tei­di­gung als auch der Neben­kla­ge klar­macht, dass mit die­sem Senat nicht zu spa­ßen ist“ (S. 197) und dann erhellt „ein win­zi­ges Lächeln […] sein Gesicht“ (S. 297). Man kann also davon aus­ge­hen, dass die Autorin vor dem Nie­der­schrei­ben ihrer weit­ge­hend erkennt­nis­frei­en Sicht auf über fünf Jah­re NSU-Pro­zess die Ent­schei­dung getrof­fen hat, die Sei­te der Jus­tiz, hier des „erken­nen­den Senats“, ein­zu­neh­men, den zu kri­ti­sie­ren in ihrer Welt offen­bar undenk­bar ist.

Die Nebenklage ist schuld

Dem­ge­gen­über hat sie für sich in der Neben­kla­ge den Pfer­de­fuß des Ver­fah­rens iden­ti­fi­ziert. Und dabei begeht sie einen für die jour­na­lis­ti­sche Klas­se, der sie sich zuge­hö­rig fühlt, unver­zeih­li­chen Feh­ler: Sie prüft die Fak­ten nicht. Sie zeigt eine Fak­ten­re­sis­tenz, die sie auch bereit ist in jedes Mikro zu blö­ken, das ihr unter die Nase gehal­ten wird. In ihrem Buch behaup­tet sie etwa: „Die Neben­kla­ge hat das Ver­fah­ren erheb­lich in die Län­ge gezo­gen“ (S. 273). In der Tat hat es nie­mals in der deut­schen Jus­tiz­ge­schich­te eine sol­che Anzahl von Nebenkläger*innen gege­ben, es waren 95 im Jus­tiz­jar­gon „Geschä­dig­te“, die von bis zu 60 Rechts­an­wäl­tin­nen und Rechts­an­wäl­ten ver­tre­ten wur­den. Für Fried­rich­sen reicht die­se Infor­ma­ti­on, um den Ein­druck zu erwe­cken, die Neben­kla­ge sei für die unge­wöhn­li­che Län­ge des Pro­zes­ses ver­ant­wort­lich zu machen. Nur mit den Fak­ten hat das nichts zu tun: NSU-Watch hat den Pro­zess mal sta­tis­tisch durch­ge­ar­bei­tet und fest­ge­stellt, dass von den 597 Zeug*innen, die im Pro­zess gehört wor­den sind, ledig­lich die Ladung von 33 von der Neben­kla­ge bean­tragt wor­den war. Zwar hat die Neben­kla­ge mit Abstand die meis­ten Beweis­an­trä­ge im Ver­fah­ren gestellt, den aller­meis­ten von ihnen wur­de jedoch auf­grund der Pro­zess­vor­ga­ben der Bun­des­an­walt­schaft und des Senats — Stich­wort „iso­lier­te Drei-Per­so­nen-Zel­le“ — nicht nach­ge­gan­gen. Was Fried­rich­sen indes in kei­nen zeit­li­chen Rah­men stellt, ist die „Schlacht“ der psych­ia­tri­schen Gut­ach­ter, die den Pro­zess allein um ein Drei­vier­tel­jahr in die Län­ge zog, eben­so wie Bea­te Zsch­ä­pes mani­pu­la­ti­ve Kaprio­len um ihre ver­meint­li­che psy­chi­sche Bean­spru­chung durch den Pro­zess, deret­we­gen über Mona­te die Zahl der wöchent­li­chen Pro­zess­ta­ge von drei auf zwei redu­ziert wer­den muss­te, oder um den Wech­sel ihrer Verteidigung(en), was eben­falls zu mona­te­lan­ger Läh­mung führ­te. Nein, Gise­la Fried­rich­sens Welt ist klar in die­je­ni­gen geglie­dert, die den Pro­zess gewuppt haben, und die­je­ni­gen, die ihn auf­ge­hal­ten und „auch viel Geld gekos­tet“ (S. 273) haben, näm­lich die Nebenklage.
In ihrer äußerst beschränk­ten Freund-Feind-Ein­tei­lung geht sie jedoch einen Schritt zu weit und dis­kre­di­tiert sich damit selbst: Sie nennt die Namen des Neben­kla­ge­an­walts Meh­met Dai­ma­gü­ler und des Nazi-Anwalts Wolf­ram Nahr­ath in einem Atem­zug, stellt den enga­gier­ten Rechts­an­walt Dai­ma­gü­ler mit dem eins­ti­gen „Bun­des­füh­rer der Wiking­ju­gend“ und bis heu­te ver­bohr­ten Natio­nal­so­zia­lis­ten Nahr­ath auf eine Stu­fe. Auf die­se Wei­se qua­li­fi­ziert sie dann auch die Arbeit von Dai­ma­gü­ler und ande­ren Neben­kla­ge­an­wäl­tin­nen und ‑anwäl­ten ab: „Am Ende ist fest­zu­stel­len, dass der NSU-Pro­zess wie kaum ein zwei­tes Ver­fah­ren für poli­ti­sche Pro­pa­gan­da benutzt wor­den ist.“ (S. 293). Man stel­le sich vor: „Dai­ma­gü­ler und ande­re pran­ger­ten einen angeb­li­chen ‘insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus’ in Deutsch­land an“ und „lin­ke Anwäl­te wie­der­um atta­ckier­ten den Staat und sei­ne Insti­tu­tio­nen, die dem V‑Mann-Unwe­sen nicht Ein­halt böten und bei Rechts­ter­ro­ris­mus bei­de Augen ver­schlös­sen.“ (S. 293) Das geht natür­lich nicht, wo kämen wir da hin, wenn die­se Aus­län­der und ihre sinis­tren Anwäl­te hier auf­trump­fen wollten?

Lernen, wie Strafjustiz in Deutschland funktioniert

Mit ihrer Obrig­keits­hö­rig­keit und dem kri­tik­lo­sen Glau­ben an einen wie geschmiert lau­fen­den Jus­tiz­ap­pa­rat ver­ab­schie­det sich die Star-Repor­te­rin end­gül­tig aus der Rea­li­tät und ent­schei­det sich statt­des­sen für schmie­ri­gen Götzl­dienst. Abge­se­hen von die­sen gra­vie­ren­den sys­te­ma­ti­schen und inhalt­li­chen Män­geln des Buches hät­te ein Lek­to­rat auch Non­sens-Sät­ze wie die­sen til­gen müs­sen: „Denn erst­mals seit dem Ende des NS-Regimes stan­den wie­der Nazis vor Gericht unter dem Vor­wurf, allein aus ras­sis­ti­schen Grün­den gemor­det zu haben oder in sol­che Mord­ta­ten ver­wi­ckelt gewe­sen zu sein.“ (S. 10) Die­ser Satz macht auch deut­lich, dass es bei Pro­zess­be­richt­erstat­tung Fried­rich­sen­scher Prä­gung offen­sicht­lich nicht um Sach­kennt­nis geht, son­dern vor allem dar­um, den ein­fa­chen Leu­ten die staats­tra­gen­den Funk­tio­nen von Schuld und Süh­ne, Ver­bre­chen und Stra­fe, Ter­ro­ris­mus und Staats­schutz nahe­zu­brin­gen: „Der NSU-Pro­zess war für so man­chen der Ort, an dem zu ler­nen war, wie Straf­jus­tiz in Deutsch­land funk­tio­niert.“ (S. 16) Vie­len Dank auch.

Befremdeter Blick

Bei Fried­rich­sen jeden­falls gibt es immer was zu ler­nen, auch jen­seits des NSU-Pro­zes­ses. So zum Bei­spiel für den 19-jäh­ri­gen Asyl­su­chen­den, der Anfang 2016 vor dem Amts­ge­richt Köln zu einem hal­ben Jahr Haft ohne Bewäh­rung ver­ur­teilt wur­de, weil er in einem Dro­ge­rie­markt in Köln-Kalk ein Paar Socken für sage und schrei­be 1,99 Euro gestoh­len hat­te. Oh ja, auch für sol­che Sachen fand sie wäh­rend der lau­fen­den NSU-Ver­hand­lung in Mün­chen noch Zeit. Fried­rich­sen fin­det das Urteil gegen den 19-jäh­ri­gen Socken­dieb nicht nur ange­mes­sen und kon­se­quent, son­dern nach­ge­ra­de wei­se: „Wäre er auf Bewäh­rung ent­las­sen wor­den, hät­ten er und ande­re sich ins Fäust­chen gelacht. Frei nach dem Mot­to: In Deutsch­land pas­siert ja nichts, wenn man klaut! (…) Steh­len ist weder hier­zu­lan­de noch in sei­ner Hei­mat erlaubt, egal ob man Flücht­ling ist oder nicht.“ Ihre pater­na­lis­ti­sche Hal­tung und ein aus­ge­präg­ter bür­ger­li­cher Dün­kel gegen­über den „- ähmmm — Aus­län­dern“ (Radio­Eins-Inter­view im Juni 2019 über das Leid der Hin­ter­blie­be­nen der Mord­op­fer des NSU) zieht sich als Leit­mo­tiv durch ihr Schaf­fen, das Pro­zess-Buch, aber auch durch die zahl­rei­chen Inter­views, die sie des Buches wegen zu absol­vie­ren hat. Schon aus der Beschrei­bung des Zeu­gen İsm­ail Yoz­gat, des Vaters des am 6. April 2006 in Kas­sel ermor­de­ten 21-jäh­ri­gen Halit Yoz­gat, lässt sich ein „befrem­de­ter Blick“ her­aus­le­sen: „Er spricht Tür­kisch mit lau­ter, kla­rer Stim­me, als sprä­che er als Dorf­äl­tes­ter vor sei­ner Gemein­de. (…) Im Kopf ent­ste­hen beim Anblick die­ses Man­nes Bil­der von bibli­scher Wucht.“ (S. 90f) Aber mei, der Tür­ke ver­steht halt nicht so rich­tig, was da im deut­schen Gerichts­saal vor sich geht: „Vie­len Hin­ter­blie­be­nen und Ver­letz­ten schien nicht klar gewe­sen zu sein, dass in einem Straf­pro­zess weder das Ver­gan­ge­ne eins zu eins rekon­stru­iert, noch so etwas wie die rei­ne, eher­ne Wahr­heit her­aus­ge­fun­den wer­den kann.“ (S. 12)

Nichts NSU-Prozess-Spezifisches

Aber sonst ist alles — Götzl sei dank — tip­pi­top­pi gelau­fen. Ein Spit­zen­pro­zess, der das Maxi­mum raus­ge­holt hat, trotz, nun ja, der Pan­nen und eigen­wil­li­gen behörd­li­chen Hand­lun­gen: „Akten ver­schwan­den oder wur­den gesperrt, Zeu­gen haben gelo­gen, der Ver­fas­sungs­schutz hat wohl vie­les gewusst, aber nichts unter­nom­men, den Ermitt­lern unter­lie­fen Feh­ler über Feh­ler […]“. Aber am Ende war dann doch alles irgend­wie im grü­nen Bereich: “… nichts Unge­wöhn­li­ches und vor allem nichts NSU-Pro­zess-Spe­zi­fi­sches. Das ist die Bilanz nach bald fünf Jah­ren Ver­hand­lung.“ (S. 273f)
Ob Fried­rich­sen die­se Fehl­ein­schät­zung auch nach der Ermor­dung des Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­den­ten Wal­ter Lüb­cke, die in recht ein­deu­ti­gem Zusam­men­hang mit unauf­ge­ar­bei­te­ten Aspek­ten des Kas­se­ler Mor­des an Halit Yoz­gat steht, so noch ein­mal wie­der­ho­len wür­de? Ver­mut­lich schon, denn für sie ist wie immer alles in Ord­nung und bes­tens gelaufen.