Ein Besuch im NSU-Prozess: Leberwurstsemmeln und Gerechtigkeit

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Das Geschwulst am Straf­jus­tiz­zen­trum in Mün­chen, in wel­chem der NSU-Pro­zess im Saal A101 bald in sein 4. Jahr geht und vor dem das Ein­lass-Zelt steht Foto: Burschel

Eine Stun­de vor Pro­zess­be­ginn tei­le ich mir die Zuschau­er­rei­hen mit nur einem wei­te­ren Besu­cher. Auf sei­ner Glat­ze spie­gelt sich grel­les Neon­licht, das von küh­len Beton­wän­den her­ab­strahlt. Er könn­te Haupt­dar­stel­ler in einem um Auf­klä­rung bemüh­ten, öffent­lich-recht­li­chen Fern­seh­film zu Neo­na­zis­mus sein. Hier ver­kör­per­te er einen dump­fen und lie­bens­wer­ten, aber bedin­gungs­los erge­be­nen Mit­läu­fer. Wie ein ver­ges­se­ner Aqua­ri­ums­be­su­cher blickt der blas­se Koloß durch die dicke, bis zwei Meter unter die Decke rei­chen­de Glas­schei­be nach unten in den Gerichts­saal. Als war­te er dar­auf, dass ein gro­ßer, ganz beson­de­rer Fisch sich bald zei­gen möge. Um einen bes­se­ren Blick zu erha­schen, gehe ich die weni­gen Stu­fen hin­un­ter und pres­se mei­ne Nase gegen die Schei­be. Nun kann ich die Papp­auf­stel­ler lesen, die anzei­gen, wo die Ange­klag­ten, die Bun­des­an­walt­schaft und die Neben­klä­ger sit­zen wer­den. Sofort kommt ein Jus­tiz­be­am­ter her­an­ge­eilt und for­dert mich auf, mei­nen Platz einzunehmen.

Es ist der zwei­te Kon­takt an die­sem Mor­gen mit der ord­nen­den Staats­macht. Selbst­be­wusst war ich vor einer hal­ben Stun­de durch die glä­ser­ne Schie­be­tür des Ober­lan­des­ge­richts getre­ten, wur­de jedoch von einem Beam­ten zurecht­ge­wie­sen, dass ich drau­ßen zu war­ten hät­te. Pflicht­be­wusst hat­te ich mich also in das wei­ße, men­schen­lee­re Groß­zelt auf dem Vor­platz gestellt, in dem gel­be Plas­tik­gat­ter ver­schie­de­ne Rei­hen von­ein­an­der abtren­nen. Ursprüng­lich als Pro­vi­so­ri­um für die Ord­nung der Zuschau­er­mas­sen gedacht, steht es nun schon seit drei Jah­ren an die­sem Ort. Zweck­los, als habe jemand ver­ges­sen, nach einer Gar­ten­par­ty den Wind- und Wet­ter­schutz abzu­bau­en. Nach weni­gen Minu­ten hat­te man mir umständ­lich eines der Gat­ter einen Spalt breit geöff­net und mich zur Durch­su­chung ins Gerichts­ge­bäu­de gebe­ten. Akku­rat und rou­ti­niert for­der­te mich einer der in 70er-Jah­re-Bei­gegrün geklei­de­ten Poli­zis­ten auf, sämt­li­ches Gepäck abzu­ge­ben. Als „nor­ma­ler“ Besu­cher darf ich immer­hin Kugel­schrei­ber und Heft mit­neh­men. Nach dem er die­se bei­den ana­lo­gen Uten­si­li­en aus­gie­big unter­sucht hat­te, beschrieb er mir irri­tie­rend kum­pel­haft den Weg zum Gerichtssaal.

Hier ste­he ich nun an der Glas­schei­be, durch die aus der Nähe durch­zu­gu­cken nicht gestat­tet ist. Beim Zurück­ge­hen auf mei­nen Platz kann ich jenen kor­pu­len­ten, kahl­ge­scho­re­nen Zuschau­er­kol­le­gen von vor­ne betrach­ten. Auf sei­nem T‑Shirt ist das Logo der Lon­do­ner U‑Bahn auf­ge­druckt. Der bekann­te Schrift­zug „Under­ground“ auf einem blau­en Bal­ken vor rotem Kreis lässt erah­nen, für wel­che Sei­te der Kri­mi­le­ser in die­sem Pro­zess Sym­pa­thien hegt. Pas­send zum T‑Shirt hat er sei­ne Lek­tü­re aus­ge­wählt: Neben ihm liegt auf­ge­schla­gen das Buch „Him­mel über Lon­don“ von Håkan Nes­ser. Spä­ter erha­sche ich einen Blick auf den Klap­pen­text. In dem Buch treibt ein Seri­en­mör­der sein Unwe­sen: „Es braut sich etwas zusam­men unter dem Him­mel von Lon­don“, steht da weiter.

In die­sem grau­en Gerichts­saal füh­le ich mich merk­wür­dig weit der Wirk­lich­keit ent­rückt. Viel­leicht ist es ver­gleich­bar dem Gefühl, an einem Som­mer­tag als Tou­rist in einer medi­ter­ra­nen Stadt das Inne­re einer alten, küh­len Kathe­dra­le zu betre­ten. Alles Bom­bas­ti­sche, Far­ben­fro­he ist hier kah­lem Beton gewi­chen, kein Fens­ter erlaubt einen Blick nach drau­ßen, Nadel­flies­bo­den schluckt jedes Geräusch. Schnei­den­de Ver­nunft und Prag­ma­tis­mus regie­ren die­sen Raum. Dort, wo eigent­lich die Orgel ste­hen müss­te, befin­den sich die Zuschau­er­rei­hen, in drei Meter Höhe thro­nen sie über dem Ver­hand­lungs­saal. Von hier oben sind nur die fünf Rich­ter­stüh­le unein­ge­schränkt zu sehen.

Mit eini­ger Ver­zö­ge­rung beginnt end­lich der Pro­zess­tag. Es ist der zwei­hun­dert­drei­und­sieb­zigs­te. Heu­te dür­fen Kame­ra­teams den Ein­zug der Ange­klag­ten beglei­ten. Aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve sehe ich das, was sich wohl schon ins kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Gesell­schaft ein­ge­brannt hat. Bea­te Zsch­ä­pe betritt unter Blitz­licht­ge­wit­ter den Gerichts­saal. Seit knapp einem hal­ben Jahr zeigt sie der Öffent­lich­keit statt ihres Rückens ein geüb­tes Lächeln. Foto­gra­fen knien wie zur Anbe­tung bereit vor ihr. Aus der Frosch­per­spek­ti­ve schei­nen sie Zsch­ä­pe in Sze­ne set­zen zu wol­len. Hin­ter ihr betritt Cars­ten S., der die lan­ge Kapu­ze sei­nes Pull­overs zur Unkennt­lich­keit übers Gesicht gezo­gen hat, den Saal. André Emin­ger, ein wei­te­rer mut­maß­li­cher Hel­fer des Tri­os und rein äußer­lich eine Misch­form aus Biker und Bär, nimmt selbst­be­wusst sei­nen Platz ein. Mit­an­ge­klag­ter Hol­ger G. hält sich eine Klad­de vor das Gesicht. Wie ein Finanz­be­am­ter an den mor­gend­li­chen Schreib­tisch setzt sich Ralf Wohl­le­ben, der zwei­te Haupt­an­ge­klag­te, an sei­nen Platz und ver­ka­belt gründ­lich sei­nen Lap­top. Von hier oben, abge­trennt durch die Schei­be, sieht das alles so unglaub­lich pro­fan und ein­stu­diert aus.

Was folgt sind die Mühen der Ebe­ne eines stink­nor­ma­len Gerichts­ta­ges. Immer wie­der muss ich mir in Erin­ne­rung rufen, dass es nicht irgend­ei­ne Ver­hand­lung, son­dern einer der wich­tigs­ten Straf­pro­zes­se der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Geschich­te ist. Aber dadurch, dass es selbst­ver­ständ­lich ein Straf­pro­zess und kein Schau- oder Gesin­nungs­pro­zess ist, über­wiegt – zumin­dest heu­te – das Zähe, das Büro­kra­ti­sche. Alle Affek­te schei­nen aus­ge­sperrt aus die­sem Saal.

In den vier Stun­den, bis der Ver­hand­lungs­tag been­det und der dar­auf­fol­gen­de abge­setzt wird, geht es um ein Beweis­stück, das die Bun­des­an­walt­schaft der Ver­tei­di­ger­sei­te angeb­lich nicht recht­zei­tig zur Ver­fü­gung gestellt hat. Wohl­le­ben hat­te sich bei sei­ner Aus­sa­ge vor Gericht als der bür­ger­li­che, geset­zes­treue und gegen Gewalt ein­ge­stell­te NPD-Poli­ti­ker prä­sen­tiert. Ich den­ke dar­über nach, dass sein Nach­na­me jeman­den bezeich­net, der ein gutes, ange­neh­mes, woh­les Leben führt. Ist die­se Bedeu­tung tat­säch­lich in ihm zum Selbst­ent­wurf geron­nen? Nun hat­te sich jedoch eine Zeu­gin dar­an erin­nert, dass bei der Haus­durch­su­chung ein T‑Shirt in sei­nem Bett gefun­den wur­de. Dar­auf ein abscheu­li­ches Arran­ge­ment gedruckt: Die Bahn­schie­nen, die auf das Ein­gangs­tor von Ausch­witz zulau­fen, dar­über in goti­schen Buch­sta­ben das Wort „Eisen­bahn­ro­man­tik“. Die­ses Beweis­stück, das Wohl­le­bens Ein­stel­lung in ein etwas ande­res Licht rückt, sei nun von der Bun­des­an­walt­schaft nicht aus­ge­druckt, son­dern ledig­lich als Datei auf einem USB-Stick zu den Akten gelegt wor­den. Die Ver­tei­di­ger Wohl­le­bens, alle­samt so genann­te rech­te Sze­ne­an­wäl­te, sehen dies am heu­ti­gen Ver­hand­lungs­tag als Anlass, einen Aus­set­zungs­an­trag zu stel­len. Rich­ter, Bun­des­an­walt­schaft und Neben­kla­ge neh­men dazu Stel­lung. Das könn­te schnell erle­digt sein, den­ke ich. Doch die ver­schie­de­nen Sei­ten bekom­men immer wie­der Zeit sich zu bera­ten. Am Ende wer­de ich ins­ge­samt drei Stun­den mit War­ten ver­bracht haben, immer wie­der unter­bro­chen von kur­zen State­ments der Betei­lig­ten. Nach­dem die Wohl­le­ben-Ver­tei­di­gung gespro­chen hat, kann ich den Blick nicht von dem Ange­klag­ten abwen­den. Zufrie­den lächelt er in sich hin­ein, raunt sei­nem sich wie­der neben ihn set­zen­den Anwalt ein paar Wor­te der Aner­ken­nung zu.

Der Pro­zess wird bis zur fol­gen­den Woche aus­ge­setzt, schon zur Mit­tags­zeit ent­lässt Rich­ter Göt­zel alle Anwe­sen­den. Vor mir geht der Beob­ach­ter mit dem Lon­don-Fai­ble die enge Trep­pe hin­un­ter. Angeb­lich ist er einer der häu­figs­ten Pro­zess-Zuschau­er. Man berich­tet mir, dass er bereit­wil­lig von sei­ner Ver­eh­rung und Lie­be zu Zsch­ä­pe erzählt. Mir hin­ge­gen ist nur in Erin­ne­rung, wie er mich im Neben­raum wäh­rend einer der Pau­sen fragt, ob ich im Bröt­chen­hau­fen eine Leber­wurst­sem­mel sehen wür­de. Ich ärge­re mich, dass mir die­se Gestalt noch immer im Kopf her­um­spukt und ich genö­tigt wur­de an die­sem Pro­zess­tag über Leber­wurst­sem­meln nachzudenken.

Drau­ßen auf dem Vor­platz des Gerichts ste­hen vie­le Men­schen, die eben­falls im Saal A101 gewe­sen sind. Sie saßen unter­halb der Zuschau­er­tri­bü­ne, waren von dort nicht zu sehen. Es sind etwa 50 Neben­kla­ge­an­wäl­te und ein paar Neben­klä­ger, also Ange­hö­ri­ge der Mord­op­fer, die zu die­sem 273. Ver­hand­lungs­tag aus ganz Deutsch­land ange­reist sind und nun in klei­nen Grüpp­chen in der Mün­che­ner Früh­lings­son­ne ste­hen. Am Vor­tag jähr­te sich zum zehn­ten Mal der Mord an dem 39jährigen Meh­met Kubaşık. Der fol­gen­de Tag wird der zehn­te Todes­tag des 21jährigen Halit Yoz­gat, dem neun­ten Opfer des NSU, sein. Die­sen, von zwei trau­ri­gen Jah­res­ta­gen umrahm­ten Pro­zess­tag mit­er­lebt zu haben, muss für sie ernüch­ternd sein. Erneut sind sie Zeu­gen klein­li­chen juris­ti­schen Gezer­res gewor­den. Man kann nur hof­fen, dass sich in ihre Wun­den und die Trau­er nicht irgend­wann das Gefühl ein­schreibt, ver­geb­lich und zu lan­ge auf Gerech­tig­keit gewar­tet zu haben.

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