Wird in einem europäischen Kontext über Migration gesprochen, dauert es meist nicht lange bis der Name FRONTEX fällt. Migration steht meist zusammen mit «illegal», und «illegale Migration», der Begriff lässt keinen Zweifel, muss bekämpft werden. Das ist der Punkt, an dem FRONTEX, die Grenzschutzagentur der EU, ins Spiel kommt. Dies ist paradigmatisch für die restriktive Haltung der europäischen Politik, wenn es um Einwanderung geht.
Dabei kann sich die Migrations- und Asylpolitik der EU, zumindest auf den ersten Blick, sehen lassen. So verfügt die EU über eine ganze Reihe von Fördertöpfen in dem Bereich, wie den Flüchtlingsfonds, den Integrationsfonds und nicht zuletzt das Förderprogramm Solidarität und Steuerung der Migrationsströme (SOLID).[acp footnote]Die Webseiten der Kommission, unter http://ec.europa.eu/home-affairs/funding/intro/funding_intro_en.htm, in Englisch, geben einen Überblick über die Fonds.[/acp] Allerdings werden die Gelder aus diesen sehr vielfältig verwendet, so dass praktisch auch Stacheldraht für Grenzanlagen damit finanziert werden kann. Daneben gibt es zum Beispiel mit der Blue Card[acp footnote]Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung.[/acp] eine europäische Regelung, mit der Arbeitskräfte aus Ländern außerhalb der EU angestellt werden können, weitere Gesetze zur legalen Einwanderung sind in Planung oder befinden sich im legislativen Verfahren, irgendwo zwischen Parlament und Rat in erster oder in zweiter Lesung. Gleiches gilt für den Bereich der Asylpolitik. Zwischen 2002 und 2005 sind europäische Mindestregelungen für die einzelnen Asylsysteme geschaffen worden, zudem bestehen Ansätze, wie die Notfall-Richtlinie für temporären Schutz[acp footnote]Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedsstaaten.[/acp], mit der man asylpolitisch auf den Krieg im Kosovo 1999 reagierte oder ein Neuansiedlungsprojekt, mit dem Menschen, die absehbar dauerhaft nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können, in der EU endgültig wohnen bleiben können.
Dagegen kann man kritisch einwenden, dass von einer gemeinsamen Migrationspolitik keine Rede sein könne, geschweige denn von einer europäischen Asylpolitik. Zwar existieren einzelne Instrumente, sie sind aber in ihrer Reichweite zu eingeschränkt, schließen sich gegenseitig aus, verpflichten die Mitgliedsstaaten zu nichts und bilden so lediglich ein Stückwerk, das mal hier, mal da etwas regelt oder versucht, Abhilfe zu schaffen. Den Namen einer gemeinsamen europäischen Politik oder eines europäischen Systems, wird man dann argumentieren, hat dieser Flickenteppich in keinem Fall verdient. Einige Beispiele: die Blue Card gilt nur für «Hochqualifizierte» und ausdrücklich nicht für Menschen, die Asyl in EU-Europa beantragt haben oder schon genießen. Die genannte Richtlinie für temporären Schutz hat es bisher noch zu keiner einzigen Anwendung geschafft, wohl auch weil der zuständige Ministerrat einen Beschluss fassen muss, dass ein «massenhafter Zustrom» vorliegt. Erst dann können die Flüchtlinge auf verschiedene Staaten verteilt werden. Die Minimalbedingungen für Asylsysteme in Europa, aufgeteilt auf drei Richtlinien[acp footnote]Die Richtlinien sind: Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten; Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.[/acp], werden derzeit überarbeitet. Der offizielle Grund in allen drei Fällen: Die Richtlinien enthalten viele Formulierungen, die schlechterdings zu vage und zu zweideutig sind, daher den Mitgliedsstaaten zu viel Spielraum bei der Umsetzung lassen. Anders ausgedrückt: Die Mitgliedsstaaten werden letztlich genau nicht auf einen bestimmten Mindeststandard festgelegt.
Diese unklare Situation resultiert aus dem restriktiven Paradigma, dem die europäische Grenz‑, Asyl- und Migrationspolitik folgt. Die «Abwehr» von Migration ist in allen bestimmenden Faktoren der Einwanderungspolitik präsent. In den vertraglichen Grundlagen ist sie verankert, und zieht sich wie ein roter Faden durch die inhaltlichen Grundlinien europäischer Migrationspolitik.
Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung – der Lissabon-Vertrag
Ein Blick in die Verträge, in das Primärrecht der EU, zeigt die Zuständigkeit der EU in bestimmten Fragen, zeigt aber auch die Grenzen auf. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)[acp footnote]Amtsblatt der Europäischen Union C 115 vom 9.5.2008, S. 47 ff.[/acp], wie der frühere EG-Vertrag heißt, seitdem der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten ist, sind die Politikbereiche festgelegt, in denen die EU Kompetenzen besitzt, wie weit diese reichen und nach welchem Verfahren Gesetze beschlossen werden können. Maßgeblich sind hier die Artikel 77 bis 80 des AEUV. Diese betreffen die Bereiche Grenzkontrollen (Art. 77), Asyl (Art. 78), Einwanderung (Art. 79) und verpflichten die EU zu Solidarität und gerechter Aufteilung der Verantwortlichkeit in diesem Bereich (Art. 80). Die restriktive Haltung der EU gegenüber Einwanderung wird schon an diesen Artikeln deutlich – Migration und Asyl sind zuallererst Fragen des Grenzregimes, so die Botschaft.
Artikel 77 verpflichtet die EU auf das Ziel eines gemeinsamen Managements der Außengrenzen und die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU. Dieser Artikel bildet einerseits die Rechtsgrundlage für die Abschaffung der Grenzkontrollen in 22 der 27 Mitgliedsstaaten, den sogenannten Schengen acquis, andererseits für die Grenzschutzagentur FRONTEX, eines der Symbole der «Festung Europa» schlechthin. Zählt man die aktuelle Reform des FRONTEX-Mandats mit, ist offensichtlich, dass so gut wie alle Anforderungen dieses Artikels umgesetzt oder auf dem Weg sind.
Anders sieht die Lage bei Artikel 78 aus. Danach muss die EU ein gemeinsames Asylsystem entwickeln, das einen einheitlichen, europaweit gültigen Asylstatus enthält. Das «europäische Asylsystem», das bisher auf Grundlage dieses Artikels geschaffen wurde, besteht aus den drei Richtlinien für Mindestnormen im Umgang mit Asylbewerbern, der umstrittenen Dublin-Regelung[acp footnote]Verordnung (EG) Nr. 343⁄2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist.[/acp], die festlegt, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, und der Richtlinie für temporären Schutz. Die Bilanz im Vergleich zu Artikel 77 ist damit ziemlich schwach: drei unzureichende Gesetze, deren Überarbeitung sich wegen Schwierigkeiten hinzieht, dazu die bei den südlichen Mitgliedsländern verhasste und bei den Regierungen in Deutschland und anderen nördlichen Ländern hoch gelobte Dublin-Verordnung sowie eine Notfall-Regelung, die keine konkreten Kriterien für ihre Anwendung enthält, sind das Resultat europäischer Asylkompetenz. Bis zu einem einheitlichen europäischen Asylstatus ist der Weg noch sehr weit.
Nur eine Klausel des Artikels 78 ist im Rahmen der europäischen Politik von einiger Relevanz. Zur besseren «Steuerung des Zustroms von Personen, die Asyl … beantragen», ist nach Absatz 2g die Kooperation mit Nicht-EU-Ländern möglich. Damit soll verhindert werden, dass Menschen, die auf der Flucht sind, bis nach Europa gelangen, um Asyl zu beantragen. Stattdessen sollen die Menschen schon einmal vorsortiert werden und ihre Anträge gleich vor Ort stellen. So können auch Grenzanlagen sowie Ausbildung und Ausrüstung von Grenzbeamten in Drittstaaten finanziert werden, was in der Regel über Fördertöpfe wie den Flüchtlingsfonds oder SOLID geschieht.
Alle weiteren Kompetenzen der EU in der Migrationspolitik ergeben sich aus Artikel 79. Das Ziel europäischer Einwanderungspolitik ist demnach die «wirksame Steuerung der Migrationsströme» «in allen Phasen», sowie die «verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel». Weiter steht dort, dass die EU zuständig ist für Einreisebedingungen, die Rechte von Menschen, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten, «illegale Einwanderung … einschließlich Abschiebung» sowie die Bekämpfung von Menschenhandel. Für die Einwanderungspolitik entscheidend ist hier jedoch, was die EU nicht darf: Nach Absatz 5 bleibt jedem Mitgliedstaat die Entscheidung vorbehalten, wie viele Menschen von außerhalb der EU dort die Erlaubnis zu arbeiten erhalten. Die europäischen Länder behalten daher in jedem Fall das letzte Wort, wenn es um den Zugang zum Arbeitsmarkt geht. Es ist folglich keine europäische Regelung möglich, die verpflichtend den Weg auf den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates ebnet. Alle europäischen Gesetze sind an dieser Stelle darauf beschränkt, den Mitgliedsstaaten einen rechtlichen Rahmen bereit zu stellen – ob die Staaten diesen dann nutzen oder nicht, steht ihnen frei.
Migration als Bedrohung
Wie ein roter Faden zieht sich die Vorstellung durch die Dokumente der EU, dass Migration, allgemein und grundsätzlich, ein Risiko, eine Gefahr für unsere Gesellschaft, für die öffentliche Ordnung oder Gesundheit darstellt. Entsprechend dominiert ein Sicherheitsdenken.
Daher ist das erste Ziel die sogenannte Abwehr von Migration. Einwanderung ist im Großen und Ganzen unerwünscht, das ist die Grundhaltung der europäischen Migrations-Politik. Aus humanitären Gründen muss eine Ausnahme für Flüchtlinge zugestanden werden und aus ökonomischen Gründen sind Ausnahmen für bestimmte Gruppen von Arbeitskräften denkbar. Auffällig ist, dass so gut wie alle europäischen Instrumente, die die Aufnahme von Menschen zum Ziel haben, kurzfristig ausgelegt sind. Egal ob es sich um temporären Schutz, Saisonarbeit oder Blue Card handelt, in allen diesen Richtlinien ist ein Prinzip der Art «so lange wie nötig, so kurz wie möglich» verankert. Das geht soweit, dass Saisonarbeiter mit mehrjährigen Erlaubnissen ausgestattet werden können oder im Folgejahr bevorzugt behandelt werden, wenn sie nur die EU pünktlich wieder verlassen. Auch hier ist die Nachricht klar: Kommen, unter Umständen – ja, bleiben – nein.
Wirklich langfristig ausgelegt ist nur das noch geplante Instrument zur Neuansiedlung. Es richtet sich an Flüchtlinge, bei denen absehbar ist, dass sie nie wieder in ihr Land werden zurückkehren können. Sie erhalten einen permanenten Aufenthaltsstatus und normalerweise die Aussicht auf die Staatsbürgerschaft ihrer neuen Heimat. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet dieses EU-Neuansiedlungsprogramm im Rat, also von den Vertretern der Mitgliedsstaaten, seit über einem Jahr blockiert wird.
Aus dem Abwehrgedanken einerseits und den befristeten Ausnahmen andererseits entsteht ein politisches Spannungsfeld. Dem Problem, Migration gleichzeitig bekämpfen und befördern zu müssen, versucht der EU-Gesetzgeber zumeist so gerecht zu werden, dass er das Prinzip «teile und herrsche» anwendet. Das Resultat ist ein eigener rechtlicher Rahmen, eigene Regeln für jede einzelne Gruppe von Einwanderern. Die auffälligste Unterscheidung ist die in Flüchtlinge und übrige Zuwanderer. Diese Unterscheidung wird nicht nur in Gesetzestexten säuberlich durchgehalten. In der EU ankommende Flüchtlinge werden von FRONTEX auf genau diese Unterscheidung hin untersucht. Nur wer vor gezielter staatlicher Verfolgung in seiner Heimat flieht, ist ein legitimer Flüchtling, wer «nur» ökonomischer Perspektivlosigkeit und Armut zu entfliehen versucht, dem fehlt diese Legitimität.
Wie schwer sich diese Unterscheidung letztlich durchhalten lässt, war seit Anfang 2011 im Mittelmeer zu sehen. Als wir im Mai 2011 die italienische Insel Lampedusa besuchten, konnten wir die Landung von 1700 Flüchtlingen verfolgen. Die Mehrzahl der Menschen war aus Libyen geflohen und stammte aus verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern. Sie hatten zuvor einige Jahre in Libyen gelebt und gearbeitet und befanden sich nun auf der Flucht vor einem Bürgerkrieg, mit dem sie nichts zu tun hatten. Wohnung und Anstellung hatten sie verloren und kamen mit dem allernötigsten – manche hatten einen kleinen Rucksack bei sich, andere nicht. Waren diese Menschen nun legitime Asylsuchende, oder nicht? Schließlich waren so gut wie keine libyschen Staatsbürger darunter, viele könnten also bedenkenlos in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Im Gegensatz zu den Tunesiern, die gleichzeitig ankamen und gewissermaßen auch «nur» vor der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat geflohen waren, hatten sie aber Glück und konnten vorerst bleiben.
Es werden aber auch weitere Unterscheidungen zwischen verschiedenen Gruppen von Einwanderern gemacht. Mit der Blue Card werden höher qualifizierte Fachkräfte mit einer Arbeitserlaubnis in der EU ausgestattet. Bald werden eigene Regelungen für Saisonarbeiter folgen und für Arbeiter und Angestellte, die innerhalb eines multinationalen Konzerns von außerhalb in die EU entsandt werden. Alle drei Instrumente werden dann eigene Regelungen über die Dauer der Erlaubnis, Besuchsrechte, Familiennachzug etc. haben. Während also europaweit harmonisiert wird, werden die Einwanderer in kleine Gruppen aufgeteilt und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet.
Alle diese Regelungen haben gemeinsam, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Wer etwa einen Asylantrag gestellt oder bewilligt bekommen hat, kann sich nicht auf die Blue Card bewerben. Wer aus einem Drittstaat stammt und Ehepartner eines EU-Bürgers ist, ist ebenfalls ausgeschlossen, obwohl mit der Ehepartnerschaft eine Arbeitserlaubnis nicht garantiert ist.
Zirkuläre Migration
Was nun die Möglichkeit angeht, in die EU zu kommen um hier zu arbeiten, setzt die EU auf das nicht gerade neue Konzept der zirkulären Migration. Zwar sollen Menschen, wenn sie die passenden Bedingungen erfüllen, herkommen dürfen und arbeiten, sie sollen aber nach ein paar Jahren wieder gehen. Sowohl die Blue Card als auch die geplanten Richtlinien für Saisonarbeiter und firmenintern Entsandte bekennen sich ausdrücklich dazu und sehen Zeitspannen zwischen drei und fünf Jahren vor.
Die EU verfolgt diese Politik, obwohl das Konzept der zirkulären Migration gescheitert ist. Dies legen Erfahrungen in vielen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, nahe. Der Grund ist relativ einfach: Viele Menschen kehren eben nicht zurück. Dieses Problem ist wohlgemerkt auch der EU-Kommission bekannt. Daher sollen in Zukunft Saisonarbeiter aus Drittstaaten mit einer Erlaubnis auch für die nächsten beiden Jahre animiert werden, pünktlich die EU wieder zu verlassen. Ansonsten werden sie damit rechnen müssen, später nicht wieder zugelassen zu werden oder kein Visum mehr zu bekommen. Die zirkuläre Migration ist auch deshalb als Konzept verfehlt, weil die Annahme, die zugewanderten Menschen blieben nur für kurze Zeit, in der Regel als Entschuldigung gedient hat, um keinen Aufwand für die Integration von Einwanderern betreiben zu müssen. Wer ohnehin nur eine begrenzte Zeit bleibt, braucht schließlich auch keine verstärkten Anstrengungen, damit er in seinem neuen Land heimisch wird.
Es ist ein gravierender Fehler, die europäischen Instrumente der legalen Migration an diesem Ideal auszurichten. Wie bereits in der Vergangenheit, wird dies als Vorwand für fehlende Integrationsbemühungen dienen und die rechtliche Gleichstellung der Einwanderer mit den EU-Bürgern behindern. Ein weiterer Punkt: Besteht eine Pflicht zur Ausreise, wird das auch kontrolliert werden müssen. Die Kosten solcher Kontrollen sind hoch – und nicht nur in finanzieller Hinsicht. Bereits jetzt schlägt der Betrieb der einzelnen Datenbanken wie SIS, VIS und EURODAC, mit deren Hilfe die Visavergabe, illegale Grenzübertritte und Asylanträge europaweit überwacht werden, mit vielen Millionen Euro jährlich zu Buche, hinzu kommt die langwierige Entwicklung des Schengen-Informationssystems der zweiten Generation (SIS II), die seit Jahren immer teurer wird. Für solche Kontrollen werden auch Polizisten und Grenzbeamte notwendig sein. Entweder müssen dementsprechend die Ausgaben für die Sicherheitsorgane steigen, oder die Beamten werden an anderen Stellen fehlen. Die Kosten betreffen letztlich aber auch unsere Freiheit. Sind SIS II und ähnliche Systeme erst einmal im Einsatz, kann damit auch mühelos das Ein- und Ausreiseverhalten der EU-Bürger überwacht werden. Wer diese Furcht für überzogen hält, sei daran erinnert, dass noch vor einigen Jahren niemand in Europa auf die Idee kam, die Daten aller Passagiere aller Flüge in der EU zu sammeln und auszuwerten. Ein entsprechender Vorschlag wurde im Europaparlament diskutiert. Das nur als Hinweis, dass Datensammlungen, die heute noch als zu aufwändig oder nicht sinnvoll erscheinen, in einigen Jahren schon Realität sein können.
Alternative Perspektiven
Migration als Bedrohung, rechtliche Diskriminierung von Zuwanderern, zirkuläre Migration – hier muss eine Linke, die die Menschenrechte verteidigt und gegen Fremdenhass, Islamfeindlichkeit und Rassismus kämpft, als erstes ansetzen. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Migration stellt für unsere Gesellschaft keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung dar. Ein Asylrecht, das nur staatlich organisierte Verfolgung und Krieg als Grund anerkennt, ignoriert die häufigsten Fluchtgründe. Es ist von äußerster Bedeutung, gegen jede rechtliche Diskriminierung von Einwanderern vorzugehen und der Methode, für jedes kleine Grüppchen einen eigenen Rechtsrahmen zu schaffen, einen inklusiven Ansatz entgegen zu halten.
Es ist eben nicht ersichtlich, warum Menschen, die nach EU-Europa kommen, nicht die Kategorie wechseln können. Warum eigentlich sollten wir Menschen, die temporären Schutz in Deutschland genießen, rechtliche Hürden in den Weg legen, zum Beispiel als Hochqualifizierter eine langfristige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu erhalten, die in jedem Fall besser wäre? Ein solcher Schritt würde schließlich nicht nur die finanzielle Situation des Betroffenen verbessern und die Staatskasse entlasten, sondern ihm auch mehr Rechte einräumen. Dasselbe gilt im Endeffekt für alle «Illegalen». Will man die Probleme, die im Zusammenhang damit auftreten, ernsthaft bekämpfen, muss der erste Schritt die Legalisierung des Aufenthalts sein, so werden auch die Betroffenen in die Lage versetzt, ihre Interessen selbst zu vertreten.
Normalerweise wird als Grund, warum die Kategorien nicht durchlässig sind, der drohende Missbrauch der Asylsysteme genannt. Dies ist auch der Grund, warum die europäischen Instrumente zur legalen Einwanderung nur aus dem Herkunftsland beantragt werden können. Dadurch soll der Versuch unterbunden werden, mit einem Asylantrag ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zu erlangen und dann in der Illegalität Fuß zu fassen. Aus unserer Sicht ist vor allem diese Illegalität ein Problem, mit Folgen nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Im Vergleich zu den Schäden, die die Ausbeutung von Migranten und das Fehlen des sozialen Netzes anrichten, ist der Verweis auf die Ausbeutung der Asylsysteme zynisch.
Auch die angeblich hohen Kosten von Asylsystemen sind kein Grund. Die teuersten Faktoren dabei sind meistens die Unterbringung in Lagern oder sogar die Inhaftierung. Teuer sind auch die Polizeikontrollen, die notwendig sind, um Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, wie die Residenzpflicht in Deutschland, durchzusetzen. Unter dieser Perspektive ist es einfach am sinnvollsten, die Asylsysteme so zu gestalten, dass die Flüchtlinge eingeladen sind, sich einfach in ihr neues Land und den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Ein Ansatz dazu auf europäischer Ebene existiert bereits und soll ausgeweitet werden. Das Neuansiedlungsprogramm, gestartet als Pilotprojekt, soll als langfristig angelegtes, beständiges Programm etabliert werden. Das Europaparlament hat den Gesetzesvorschlag allerdings schon im Mai 2010 beschlossen, seither liegt der Entwurf beim Rat. Widerstand bei einigen Mitgliedsstaaten verhindert den Beschluss.
Die Stellung von Migranten auf dem Arbeitsmarkt bietet sich als Handlungsfeld für die Linke in der Migrationsdebatte an. Das Ziel muss eine vollständige Gleichstellung der nicht-europäischen Arbeitskräfte mit ihren einheimischen Kollegen sein. Nur so kann verhindert werden, dass zugewanderte Arbeitnehmer in unfairen Wettbewerb mit den einheimischen gestellt werden. Die Gleichstellung ist in jeder Hinsicht entscheidend. Nur wenn zugewanderte Arbeitskräfte auf das gleiche Gehalt Anspruch haben, dieselben Arbeitszeiten haben und nicht durch ihren illegalen Status erpresst werden können, kann unterbunden werden, dass die Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Nur so können Migranten nicht benutzt werden, um die Löhne zu drücken oder Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Die Gleichstellung am Arbeitsplatz ist daher eine Vorbedingung für ein im positiven Sinne liberales Einwanderungsrecht – auf europäischer wie auf nationaler Ebene. Tatsächlich muss das Engagement für ein offenes Europa, das sich nicht hinter Stacheldraht und FRONTEX verschanzt, auf allen Ebenen stattfinden.
[acp footnote display title=„Fußnoten“ /]
Der Text ist zuerst erschienen in der Zeitschrift transform! Europäische Zeitschrift für kritisches Denken und politischen Dialog 10/2012, Seiten 195–202.