Fünf Jahre Haft, die er höchstwahrscheinlich nie antreten wird. Auf den ersten Blick mag das Urteil, das das Landesgericht Detmold (Nordrhein-Westfalen) am Freitag, 17. Juni 2016, gegen Reinhold Hanning wegen der Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen zwischen Januar 1943 und Juni 1944 ausgesprochen hat, sinnlos erscheinen. Aber der Sinn liegt gerade darin, dass ein Urteil auch über 70 Jahre nach der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“, dem Holocaust, und auch über einen 94 Jahre alten Täter von einem deutschen Gericht überhaupt gesprochen worden ist. Das ist was William E. Glied, der als einer von 58 Nebenklägerinnen und ‑klägern aufgetreten ist, sich gewünscht hatte: denen, die die Shoa leugnen, entgegenhalten zu können: „Guckt euch noch mal an, was gerade ein deutsches Gericht ausgesprochen hat“.
Und da hat er auch Recht, denn es ist das erste Mal, dass ein deutsches Gericht den organisierten Massenmord in Auschwitz wirklich verurteilt hat. Nicht nur die Tode in den Gaskammern, sondern auch die Ermordung der Häftlinge im Konzentrationslager selbst durch Verhungern lassen und tödliche Lebensbedingungen, durch Erschießung, willkürliche Selektionen und andere Arten der Ermordung. Die in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen haben all dies vielfach und erschütternd detailliert geschildert und so eine „Geschichtsstunde“ gegeben, die die Kammer gewürdigt hat. Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda hat sich während der einstündigen Urteilsverkündung mehrmals direkt an den Angeklagten im Rollstuhl gewandt, der zwar aufmerksam, aber ohne Regung zuhörte.
Das Gericht hatte dem Angeklagten nicht geglaubt, dass er als Angehöriger des „3. Totenkopf Sturmbann Auschwitz“ niemals an die Rampe tätig gewesen war. Er muss auch dort seinen Dienst wie jeder Wachmann geleistet haben, um ein reibungsloser Ablauf der Vernichtung zu sichern. Die Kammer hat ihm auch nicht geglaubt, dass er zwei Mal erfolglos versucht habe, sich an die Front versetzen zu lassen. „Es ist so nicht, dass Sie, Herr Hanning, keine Wahl gehabt hätten“, stellte die Richterin klar: „Die Meldung an die Front bedeutete nicht, dass Sie Ihre Einstellungen geändert hätten“. Darüber hinaus, so die Vorsitzende, habe er sich „engagiert“, denn immerhin sei er zweimal befördert worden. Hanning hatte zugegeben, sich im Lager frei bewegt zu haben, woraus das Gericht schloss, dass er auch die Gaskammern gesehen habe. Sowohl vom Wachturm aus als auch beim Umgang mit den Gefangenen muss Hanning auf jeden Fall das Leiden der Menschen bewusst gewesen sein.
Die Strafkammer kam zu dem Schluss, dass der Verurteilte strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sei, auch wenn ihm Mittäterschaft, sondern „nur“ Beihilfe zum viel tausendfachen Mord nachgewiesen werden könne. Das Gericht im Urteil: „Wir wissen nicht, ob der Angeklagte an einzelnen Tötungshandlungen mitgewirkt hat, aber er hat zu sämtlichen in diese Zeit begangenen Haupttaten als Wachmann Beihilfe geleistet“. Ausnahmslos jeder habe gewusst, dass er an dem mörderischen Treiben in Auschwitz nicht hätte teilnehmen dürfen. „Wir sind auch sicher, dass Sie Morde selbst gesehen haben“, so das Gericht weiter, „und sie mindestens billigend in Kauf genommen haben.“ Die Vorsitzende betonte: „In Auschwitz durfte man nicht mitmachen!“
Richterin Grudda weiter: „Eine gerechte Strafe zu finden, überfordert jedes Gericht“. Bei der Strafmessung bei einem Rahmen zwischen 3 und 15 Jahren Freiheitsentzug blieb das Gericht ein Jahr unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. Zugunsten Hannings legte das Gericht aus, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte und erst 18 Jahre alt war, als er sich bei der SS meldete. Darüber hinaus sei er zu seiner Schuld gestanden, da er immerhin zugegeben habe, in Auschwitz tätig gewesen zu sein. Sein hohes Alter und dass sehr viel Zeit seit den angeklagten Taten vergangen sei, hat die Kammer in ihrem Schuldspruch berücksichtigt. Weniger als 5 Jahre wäre unangemessen gewesen, meinte die Vorsitzende, mehr wäre gegen das Prinzip gewesen, dass jeder eine zweite Chance bekommen sollte, nach der Haft sein Leben weiter zu führen. Dass er 4 Monate lang dieses Verfahren mitgemacht habe und sein Geständnis verdienten Anerkennung, meinte Frau Grudda: „Ich bin mir sicher, das Verfahren hat ihm zugesetzt.“ Das Geständnis sei aber nur ein erster Schritt, so Grudda: „Es liegt einfach bei Ihnen, Herr Hanning, sich weiter Ihrer Schuld zu stellen“.
Verteidiger Andreas Scharmer, der für einen Freispruch plädiert hatte, sagte, das Urteil habe ihn nicht überrascht. Nach der vorverurteilenden Tendenz in den Medien, sei das Gericht nicht umhin gekommen, einen Schuldspruch auszusprechen. Die Verteidigung kündigte an, innerhalb von Wochenfrist nach Zustellung des schriftlichen und ausführlich begründeten Urteils Rechtsmittel einzulegen. Scharmer und sein Kollege Johannes Salmen schätzen, dass eine Revision mit der Begründung erfolgreich sein könnte, dass mit mehr als 70 Jahren Verspätung das Gebot eines „schnelle Verfahrens“ missachtet worden sei. Darauf war auch Richterin Grudda in der Urteilsverkündung eingegangen. Sie erklärte, dass in Deutschland unmittelbar nach dem Krieg ein Klima der Verdrängung herrschte: „Darüber wollte niemand reden. Statt als Täter stellten sich die Deutschen als Opfer dar.“ Es habe einer grundlegenden Änderung des politischen und gesellschaftlichen Klimas bedurft, um der Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen, dass jeder in der Entscheidungskette bis hinab zum einfachen Wachmann im KZ zum „Gelingen“ der „Endlösung“ seinen Teil beigetragen habe. Dieser Prozess des Umdenkens habe mit dem Demjanjuk-Urteil in München in Mai 2011 begonnen, so Richterin Grudda. Herr Hanning jetzt schuldig zu sprechen, sei das Mindeste, was die Gesellschaft tun könne, um ein Mindestmaß an Gerechtigkeit wieder herzustellen – auch nach 70 Jahre, auch mit eine 94-Jährige Angeklagte. Und um die heutige Generation zu mahnen, sich gegen die Gefahren rassistischer Ideologien sich zu wehren.
Vor Beginn der Verhandlung händigte der 95-jährige Nebenkläger Leon Schwarzbaum, der in Auschwitz 35 Mitglieder seiner Familie verlor, Verteidiger Salmen einen persönlichen Brief an den Angeklagten Hanning aus. Darin heißt es: „Sehr geehrter Herr Hanning, nicht die irdische Gerechtigkeit, sondern die Göttliche wird Sie für die Barbarei richten, die die SS der Menschheit angetan hat.“ Schwarzbaum beklagt die verpasste Chance, die der Angeklagte gehabt hätte: „Es lag bei Ihnen, die historische Wahrheit zu sagen, so wie wir Auschwitz-Überlebenden es hier in Detmold getan haben. Das haben Sie nicht getan, obwohl das Gerichts so viel Behutsamkeit Ihnen gegenüber gezeigt hat. So wie wir als Überlebende bis zum Tod mit den furchtbaren Erinnerungen leben müssen, werden auch Sie bis zum Tod mit sich allein sein.“ Gegenüber Journalistinnen und Journalisten sagte er: „Ich habe den Schrei der Menschen gehört: Auschwitz war der Hölle auf Erden“. Doch Hanning reagierte nicht und verließ den Gerichtssaal sofort nach der Urteilsverkündung.
Die 85-jährige kanadische Nebenklägerin Hedy Bohm kommentierte mit gebrochener Stimme: „Es ist ein Traum, den ich mir nicht hätte träumen lassen: ein deutsches Gericht, das den Holocaust verurteilt. Vielleicht können meine in Auschwitz ermordeten Verwandten jetzt ihren Frieden finden.“
Das Detmolder Verfahren wird wahrscheinlich der letzte Auschwitz-Prozess gewesen sein. Verfahren in Neubandenburg und Kiel stehen vor dem Aus. Der Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg, Jens Rommel, erklärte, dass neue Ermittlungen gegen einen ehemaligen SS-Aufseher in Auschwitz gerade bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt eingeleitet worden seien. Darüber hinaus gebe es drei Ermittlungsverfahren gegen ehemalige SS-Angehörige aus dem Vernichtungslager Majdanek und weitere drei jeweils gegen ehemaliges Wachpersonal der Lager Neuengamme, Stutthof und Bergen-Belsen. Die Zeit aber läuft den Ermittlern davon.
Bearbeitet von Friedrich Burschel