Detmolder Auschwitzprozess: 5 Jahre symbolische Haft

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REINHOLD HANNING wird in Det­mold wegen Bei­hil­fe zum 170.000fachen Mord zu 5 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Links neben ihm einer sei­ner Anwäl­te, Andre­as Sch­ar­mer Bild: Jarach

Fünf Jah­re Haft, die er höchst­wahr­schein­lich nie antre­ten wird. Auf den ers­ten Blick mag das Urteil, das das Lan­des­ge­richt Det­mold (Nord­rhein-West­fa­len) am Frei­tag, 17. Juni 2016, gegen Rein­hold Han­ning wegen der Bei­hil­fe zum Mord in 170.000 Fäl­len zwi­schen Janu­ar 1943 und Juni 1944 aus­ge­spro­chen hat, sinn­los erschei­nen. Aber der Sinn liegt gera­de dar­in, dass ein Urteil auch über 70 Jah­re nach der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „End­lö­sung der Juden­fra­ge“, dem Holo­caust, und auch über einen 94 Jah­re alten Täter von einem deut­schen Gericht über­haupt gespro­chen wor­den ist. Das ist was Wil­liam E. Glied, der als einer von 58 Neben­klä­ge­rin­nen und ‑klä­gern auf­ge­tre­ten ist, sich gewünscht hat­te: denen, die die Shoa leug­nen, ent­ge­gen­hal­ten zu kön­nen: „Guckt euch noch mal an, was gera­de ein deut­sches Gericht aus­ge­spro­chen hat“.

Und da hat er auch Recht, denn es ist das ers­te Mal, dass ein deut­sches Gericht den orga­ni­sier­ten Mas­sen­mord in Ausch­witz wirk­lich ver­ur­teilt hat. Nicht nur die Tode in den Gas­kam­mern, son­dern auch die Ermor­dung der Häft­lin­ge im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger selbst durch Ver­hun­gern las­sen und töd­li­che Lebens­be­din­gun­gen, durch Erschie­ßung, will­kür­li­che Selek­tio­nen und ande­re Arten der Ermor­dung. Die in der Haupt­ver­hand­lung ver­nom­me­nen Zeu­gen haben all dies viel­fach und erschüt­ternd detail­liert geschil­dert und so eine „Geschichts­stun­de“ gege­ben, die die Kam­mer gewür­digt hat. Die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin Anke Grud­da hat sich wäh­rend der ein­stün­di­gen Urteils­ver­kün­dung mehr­mals direkt an den Ange­klag­ten im Roll­stuhl gewandt, der zwar auf­merk­sam, aber ohne Regung zuhörte.

Das Gericht hat­te dem Ange­klag­ten nicht geglaubt, dass er als Ange­hö­ri­ger des „3. Toten­kopf Sturm­bann Ausch­witz“ nie­mals an die Ram­pe tätig gewe­sen war. Er muss auch dort sei­nen Dienst wie jeder Wach­mann geleis­tet haben, um ein rei­bungs­lo­ser Ablauf der Ver­nich­tung zu sichern. Die Kam­mer hat ihm auch nicht geglaubt, dass er zwei Mal erfolg­los ver­sucht habe, sich an die Front ver­set­zen zu las­sen. „Es ist so nicht, dass Sie, Herr Han­ning, kei­ne Wahl gehabt hät­ten“, stell­te die Rich­te­rin klar: „Die Mel­dung an die Front bedeu­te­te nicht, dass Sie Ihre Ein­stel­lun­gen geän­dert hät­ten“. Dar­über hin­aus, so die Vor­sit­zen­de, habe er sich „enga­giert“, denn immer­hin sei er zwei­mal beför­dert wor­den. Han­ning hat­te zuge­ge­ben, sich im Lager frei bewegt zu haben, wor­aus das Gericht schloss, dass er auch die Gas­kam­mern gese­hen habe. Sowohl vom Wach­turm aus als auch beim Umgang mit den Gefan­ge­nen muss Han­ning auf jeden Fall das Lei­den der Men­schen bewusst gewe­sen sein.

Die Straf­kam­mer kam zu dem Schluss, dass der Ver­ur­teil­te straf­recht­lich zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen sei, auch wenn ihm Mit­tä­ter­schaft, son­dern „nur“ Bei­hil­fe zum viel tau­send­fa­chen Mord nach­ge­wie­sen wer­den kön­ne. Das Gericht im Urteil: „Wir wis­sen nicht, ob der Ange­klag­te an ein­zel­nen Tötungs­hand­lun­gen mit­ge­wirkt hat, aber er hat zu sämt­li­chen in die­se Zeit began­ge­nen Haupt­ta­ten als Wach­mann Bei­hil­fe geleis­tet“. Aus­nahms­los jeder habe gewusst, dass er an dem mör­de­ri­schen Trei­ben in Ausch­witz nicht hät­te teil­neh­men dür­fen. „Wir sind auch sicher, dass Sie Mor­de selbst gese­hen haben“, so das Gericht wei­ter, „und sie min­des­tens bil­li­gend in Kauf genom­men haben.“ Die Vor­sit­zen­de beton­te: „In Ausch­witz durf­te man nicht mitmachen!“

Rich­te­rin Grud­da wei­ter: „Eine gerech­te Stra­fe zu fin­den, über­for­dert jedes Gericht“. Bei der Straf­mes­sung bei einem Rah­men zwi­schen 3 und 15 Jah­ren Frei­heits­ent­zug blieb das Gericht ein Jahr unter der For­de­rung der Staats­an­walt­schaft. Zuguns­ten Han­nings leg­te das Gericht aus, dass er aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen stamm­te und erst 18 Jah­re alt war, als er sich bei der SS mel­de­te. Dar­über hin­aus sei er zu sei­ner Schuld gestan­den, da er immer­hin zuge­ge­ben habe, in Ausch­witz tätig gewe­sen zu sein. Sein hohes Alter und dass sehr viel Zeit seit den ange­klag­ten Taten ver­gan­gen sei, hat die Kam­mer in ihrem Schuld­spruch berück­sich­tigt. Weni­ger als 5 Jah­re wäre unan­ge­mes­sen gewe­sen, mein­te die Vor­sit­zen­de, mehr wäre gegen das Prin­zip gewe­sen, dass jeder eine zwei­te Chan­ce bekom­men soll­te, nach der Haft sein Leben wei­ter zu füh­ren. Dass er 4 Mona­te lang die­ses Ver­fah­ren mit­ge­macht habe und sein Geständ­nis ver­dien­ten Aner­ken­nung, mein­te Frau Grud­da: „Ich bin mir sicher, das Ver­fah­ren hat ihm zuge­setzt.“ Das Geständ­nis sei aber nur ein ers­ter Schritt, so Grud­da: „Es liegt ein­fach bei Ihnen, Herr Han­ning, sich wei­ter Ihrer Schuld zu stellen“.

Ver­tei­di­ger Andre­as Sch­ar­mer, der für einen Frei­spruch plä­diert hat­te, sag­te, das Urteil habe ihn nicht über­rascht. Nach der vor­ver­ur­tei­len­den Ten­denz in den Medi­en, sei das Gericht nicht umhin gekom­men, einen Schuld­spruch aus­zu­spre­chen. Die Ver­tei­di­gung kün­dig­te an, inner­halb von Wochen­frist nach Zustel­lung des schrift­li­chen und aus­führ­lich begrün­de­ten Urteils Rechts­mit­tel ein­zu­le­gen. Sch­ar­mer und sein Kol­le­ge Johan­nes Sal­men schät­zen, dass eine Revi­si­on mit der Begrün­dung erfolg­reich sein könn­te, dass mit mehr als 70 Jah­ren Ver­spä­tung das Gebot eines „schnel­le Ver­fah­rens“ miss­ach­tet wor­den sei. Dar­auf war auch Rich­te­rin Grud­da in der Urteils­ver­kün­dung ein­ge­gan­gen. Sie erklär­te, dass in Deutsch­land unmit­tel­bar nach dem Krieg ein Kli­ma der Ver­drän­gung herrsch­te: „Dar­über woll­te nie­mand reden. Statt als Täter stell­ten sich die Deut­schen als Opfer dar.“ Es habe einer grund­le­gen­den Ände­rung des poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Kli­mas bedurft, um der Erkennt­nis zum Durch­bruch zu ver­hel­fen, dass jeder in der Ent­schei­dungs­ket­te bis hin­ab zum ein­fa­chen Wach­mann im KZ zum „Gelin­gen“ der „End­lö­sung“ sei­nen Teil bei­getra­gen habe. Die­ser Pro­zess des Umden­kens habe mit dem Dem­jan­juk-Urteil in Mün­chen in Mai 2011 begon­nen, so Rich­te­rin Grud­da. Herr Han­ning jetzt schul­dig zu spre­chen, sei das Min­des­te, was die Gesell­schaft tun kön­ne, um ein Min­dest­maß an Gerech­tig­keit wie­der her­zu­stel­len – auch nach 70 Jah­re, auch mit eine 94-Jäh­ri­ge Ange­klag­te. Und um die heu­ti­ge Gene­ra­ti­on zu mah­nen, sich gegen die Gefah­ren ras­sis­ti­scher Ideo­lo­gien sich zu wehren.

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LEON SCHWARZBAUM, der 35 Ver­wand­te in Ausch­witz ver­lor, über­gab dem Ver­tei­di­ger Johan­nes Salm­nen einen per­sön­li­chen Brief an den Ange­klag­ten, den eins­ti­gen KZ-Wär­ter Rein­hold Han­ning Foto: Jarach

Vor Beginn der Ver­hand­lung hän­dig­te der 95-jäh­ri­ge Neben­klä­ger Leon Schwarz­baum, der in Ausch­witz 35 Mit­glie­der sei­ner Fami­lie ver­lor, Ver­tei­di­ger Sal­men einen per­sön­li­chen Brief an den Ange­klag­ten Han­ning aus. Dar­in heißt es: „Sehr geehr­ter Herr Han­ning, nicht die irdi­sche Gerech­tig­keit, son­dern die Gött­li­che wird Sie für die Bar­ba­rei rich­ten, die die SS der Mensch­heit ange­tan hat.“ Schwarz­baum beklagt die ver­pass­te Chan­ce, die der Ange­klag­te gehabt hät­te: „Es lag bei Ihnen, die his­to­ri­sche Wahr­heit zu sagen, so wie wir Ausch­witz-Über­le­ben­den es hier in Det­mold getan haben. Das haben Sie nicht getan, obwohl das Gerichts so viel Behut­sam­keit Ihnen gegen­über gezeigt hat. So wie wir als Über­le­ben­de bis zum Tod mit den furcht­ba­ren Erin­ne­run­gen leben müs­sen, wer­den auch Sie bis zum Tod mit sich allein sein.“ Gegen­über Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten sag­te er: „Ich habe den Schrei der Men­schen gehört: Ausch­witz war der Höl­le auf Erden“. Doch Han­ning reagier­te nicht und ver­ließ den Gerichts­saal sofort nach der Urteilsverkündung.

Die 85-jäh­ri­ge kana­di­sche Neben­klä­ge­rin Hedy Bohm kom­men­tier­te mit gebro­che­ner Stim­me: „Es ist ein Traum, den ich mir nicht hät­te träu­men las­sen: ein deut­sches Gericht, das den Holo­caust ver­ur­teilt. Viel­leicht kön­nen mei­ne in Ausch­witz ermor­de­ten Ver­wand­ten jetzt ihren Frie­den finden.“

Das Det­mol­der Ver­fah­ren wird wahr­schein­lich der letz­te Ausch­witz-Pro­zess gewe­sen sein. Ver­fah­ren in Neu­ban­den­burg und Kiel ste­hen vor dem Aus. Der Lei­ter der Zen­tral­stel­le in Lud­wigs­burg, Jens Rom­mel, erklär­te, dass neue Ermitt­lun­gen gegen einen ehe­ma­li­gen SS-Auf­se­her in Ausch­witz gera­de bei der Staats­an­walt­schaft Frank­furt ein­ge­lei­tet wor­den sei­en. Dar­über hin­aus gebe es drei Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen ehe­ma­li­ge SS-Ange­hö­ri­ge aus dem Ver­nich­tungs­la­ger Maj­da­nek und wei­te­re drei jeweils gegen ehe­ma­li­ges Wach­per­so­nal der Lager Neu­en­gam­me, Stutt­hof und Ber­gen-Bel­sen. Die Zeit aber läuft den Ermitt­lern davon.

Bear­bei­tet von Fried­rich Burschel