Ende Juni 2013 feierte die Stadt Wolfsburg mit großem Aufwand ihr 75–jähriges Bestehen. Bunte Feste mit Hüpfburgen, kulinarische Leckereien, ein 38 Meter hohes Riesenrad, Konzerte, Wein und Gesang über mehrere Tage. Rund 200.000 Besucher_innen versetzten die Stadt in einen freudetaumelnden Ausnahmezustand. «Das Wolfsburger Geburtstagsfest hat gezeigt, was die Stadt kann: eine tolle Party veranstalten und richtig gut feiern», bilanzierte so auch folgerichtig Joachim Schingale von der Wolfsburg-Marketing-Gesellschaft. So feierte man sich selbst und seine Geschichte, und blendete diese dabei doch fast gänzlich aus. Wer will beim Feiern denn da auch schon an einen NS-Musterbetrieb, an «Kraft durch Freude», an Zwangsarbeit und KZ-Sklav_innen denken? Wolfsburg vor 75 Jahren, war da nicht was?
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen nahm das Jubiläum zum Anlass, sich kritisch mit der Geschichte der einstigen «Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben» und des Unternehmens Volkswagen auseinanderzusetzen. Stephan Krull, Vorsitzender der RLS in Niedersachen, initiierte so in Kooperation mit dem niedersächsischen Landesverband der VVN/Bda ein umfangreiches Buchprojekt, welches im März 2013 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurde. Die Autor_innen beleuchten die Geschichte der Stadt, sie spüren der durch die Nazis begründeten «klassenlosen Volks- und Betriebsgemeinschaft» nach und beschreiben Kontinuitäten, durch die aus der «Stadt des KdF-Wagen» dieses Wolfsburg wurde.
Rückblick: Am 26. Mai 1938 fand die Grundsteinlegung des Volkswagen-Werkes durch Adolf Hitler im Beisein von Ferdinand Porsche, Anton Piëch und 70.000 fanatischen «Volksgenossen» statt. «Hier soll nach dem Willen des Führers ein gigantisches Werk entstehen, von dem einmal die Welt reden wird. Hier entsteht der Volkswagen des schaffenden deutschen Menschen», verkündete der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley an diesem Tag. Doch die Motorisierung der «Volksgemeinschaft» durch die massenhafte Herstellung von zivilen Kraftfahrzeugen rückte schnell in den Hintergrund. Stattdessen produzierten Zwangsarbeiter_innen der besetzten Länder, Kriegsgefangene und KZ-Sklav_innen Minen, Flugzeug- und Raketenteile sowie Militärfahrzeuge und munitionierten so die faschistische Wehrmacht für den mörderischen Feldzug. Für die Porsches und Piëchs die Begründung des Milliardenvermögens, für die zur Arbeit gezwungenen 20.000 Männer und Frauen ein Albtraum, den viele nicht überleben.
Nach der Befreiung vom Faschismus zunächst «herrenlos», gehört das Unternehmen 75 Jahre nach der pompösen Gründung dem Porsche-/Piëch-Clan – geniale Konstrukteure von Geld und Macht. Gelegentlich versucht die Familie mit Spenden von der Herkunft des Reichtums abzulenken. Auch darüber schreiben die Autor_innen in diesem Buch, das wegen der Bedeutung von Volkswagen weit mehr ist als Lokalgeschichte.
Auch bei Volkswagen gab es im April 1945 keine «Stunde Null». Ein ehemaliger französischer Zwangsarbeiter schreibt am 12. April 1945 in sein Tagebuch: «Die Deutschen sehen gar nicht so niedergeschlagen aus. Sie haben sie (die Amerikaner) erwartet, und die sind ihnen lieber als die Roten.» Da verwundert es erst 75 Jahre später, dass der erste langjährige Betriebsratsvorsitzende Hugo Bork ebenso ein Mitglied der NSDAP war wie der erste langjährige Bevollmächtigte der IG Metall, Bernhard Tyrakowski. Die Feststellung von Otto Brenner, dem späteren Vorsitzenden der IG Metall, über die «spezifisch nationalsozialistische Ideologie der Volks- und Betriebsgemeinschaft» für das neue Betriebsverfassungsgesetz aus den 1950er Jahren wird, bezogen auf das NS-Projekt «Volkswagen», in seiner personellen und sachlichen Kontinuität nachgezeichnet bis zum Personalvorstand und Regierungsberater Peter Hartz und dem Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert, die nur noch gemeinsame Interessen kannten: «Man beißt nicht in die Hand, die einen füttert!»
Volkswagen schickt sich an, das weltgrößte Automobilunternehmen zu werden und schreibt selbst: «Die Volkswagen AG bietet mit ihrer Geschichte Identifikation für Kunden und Mitarbeiter weltweit.» Also wollen Stadt und Unternehmen dieses Jubiläum mit einem Blick in die Zukunft begehen – nicht mit einem Blick zurück, denn, so eine Sprecherin der Stadt, «die Gründungsgeschichte im Dritten Reich ist durch wissenschaftliche Studien bereits gut erforscht.»
Die ungebrochene Verehrung von Porsche ist dem Mythos vom «genialen Konstrukteur» geschuldet: Porschestraße, Porschestadion, Porscheschule. Porschedenkmal – alles das gibt es noch in Wolfsburg. Kann sich eine Legende so lange halten und weltweit ausdehnen, weil sie Teil der Marketing-Strategie ist?
Autorinnen und Autoren:
Christiane Berger, Andreas Guidi, Alfred Hartung, Mechthild Hartung, Hartwig Hohnsbein, Otto Köhler, Stephan Krull, Betty Rannenberg und Pia Zimmermann. Herausgeber: Stephan Krull, März 2013, Ossietzky-Verlag, ISBN 978−3−944545−01−1 | Preis 14,95 Euro