Nach dem Bootsunglück vor der italienischen Küste bei Lampedusa im Herbst 2013 wurden, katalysiert durch die prägenden Bilder hunderter ertrunkener Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea, die Rufe nach Reformen der EU-Flüchtlingspolitik lauter. Während allein in den letzten zwei Jahren mindestens 4000 Menschen so ihr Leben ließen, brauchte es erst dieses öffentlichkeitswirksame Ereignis, um eine weitreichendere Debatte zur Asyl- und Zuwanderungspolitik zu entfachen. Die Organisation Melting Pot Europe verlangte nach einem humanitären Korridor (der die Beantragung von Asyl in Drittstaaten ermöglichen würde), während das UN Flüchtlingshilfswerk mit einemPlan für humanitäre Visa für Kriegsflüchtlinge aufwartete. Für den Rat der Innenminister und das Europäische Parlament in Brüssel waren passende Maßnahmen aber schneller gefunden. Noch im Oktober wurde das European Border Surveillance System (Eurosur) auf den Weg gebracht. Als es planmäßig am 2. Dezember 2013 gestartet wurde, vereinte es 18 EU Mitgliedsstaaten, hochtechnisiertes Equipment sowie die Grenzschutzorganisation Frontex (abgeleitet vom franz. Frontières extérieures). Zu den erklärten Zielen zählen die Verbesserung der Überwachung der externen Grenzen, der Versorgung der Frontex-Agentur mit Informationen und Daten, als auch der Koordination von Aktionen und Maßnahmen zwischen Staaten und Frontex.
Ein hochtechnisiertes System mit Drohnen, hochauflösenden Kameras und Offshore-Sensoren koordiniert seit jeher die Sicherung der externen EU-Grenzen, nicht die Sicherheit derer, die sie zu überwinden suchen. Dies wirft die Frage auf, wo die Prioritäten der Europäischen Union liegen. Die Partei DIE LINKE warnt vor einem «Investitionsprogramm für die Rüstungsindustrie». Währenddessen verurteilt die Organisation Pro Asyl Eurosur als «beschämendes Element der Abschottungsindustrie». Bemängelt wird vielerorts, der Fokus liege einzig und allein auf dem Kampf gegen illegale Einwanderung.
Ein zur Veranschaulichung geeignetes Beispiel bezieht sich auf einen zentralen Pfeiler Eurosurs, namentlich die Weitergabe gesammelter Daten an Drittstaaten. Dies soll dazu dienen, diesen Staaten dazu zu verhelfen, effizienter gegen illegale Migration vorzugehen. Sollten damit auch Menschen davon abgehalten werden, sich in Seenot zu begeben – als humanitäre Errungenschaft kann man die sogenannte Pull-back-Politik nicht bezeichnen. Menschen werden so nicht nur an der Ausübung ihres Rechts auf Ausreise gehindert, sie werden auch etwaiger Gefahr, der sie zu entfliehen suchten, ausgesetzt. Prioritäten und Absichten auf der einen Seite, ist eine wesentliche Frage an dieser Stelle jedoch, ob Technokratie und Bürokratie humanitäre Probleme überhaupt lösen wollen. Glaubt man Cicilia Malmström, EU-Kommissarin für Innenpolitik, werden «die verbesserten Überwachungstechniken zur Identifizierung und Rettung von Schiffen beitragen». Dieser Beitrag, sollte er auftreten, wäre allerdings mehr als glücklicher Nebeneffekt denn als humanitäres Kalkül zu bewerten.
Festzuhalten ist an diesem Punkt, dass die Legitimierung des Projektes Eurosur keine leichte wird. Zur angesprochenen Kritik von menschenrechtlicher Seite kommen wirtschaftliche Rechenexempel, die bereits jetzt die Kostenkalkulation des Europäischen Parlaments als lächerlich niedrig zu enttarnen suchen. 244 Millionen Euro sollte Eurosur bis 2020 kosten. Eine realistischere Kalkulation beliefe sich auf das Drei- bis Vierfache. Hinzu kommt eine Milliarde Euro zur Implementierung neuer Einreise- und Registrierungsprogramme. Dass das Frontexbudget ebenfalls um 30 Millionen Euro steigen wird, ist daneben beinahe zu vernachlässigen.
Um vernichtende Fazits zum Thema Eurosur zu finden, muss man nicht lange suchen. Die Wochenzeitung Jungle World tituliert das System als Absage an «Menschlichkeit und Solidarität.» Der somalische Starschriftsteller Nuruddin Farah erkennt in Eurosur den «Gipfel des europäischen Zynismus» als direkte Antwort auf den Tod hunderter Menschen im Mittelmeer. Dass sich dieser situationsbedingte Zynismusvorwurf auch nahtlos in die Datenschutzdebatte der letzten Monate einfügt, ist eine Nebensächlichkeit, zugleich jedoch Ansatz für weitere kritische Bearbeitung. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass die eigentlichen Probleme, welche dem wachsenden Flüchtlingsaufkommen zugrunde liegen, nicht diskutiert werden. Vielmehr wird weiterhin auf Rationalität und Effizienz im Kampf gegen deren Symptome gesetzt.
Wer sich mit erhobenem Zeigefinger zu Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt äußert, muss diese Maßstäbe doch zuallererst vor der eigenen Haustür, den eigenen Grenzen anwenden. Und das gilt nicht nur für die Politik, sonder genauso für die Medien — Wann ließt man denn in der Tagesberichterstattung schon mal über Frontex? Beiträge wie diesen hier sollte es viel öfter geben!