Wer die Veranstaltungen mit dem Sobibór-Überlebenden Philip Bialowitz in Berlin und anderen Städten erlebt hat, wird dieser Veröffentlichung sicher auch schätzen können
Der Arbeitskreis „Fragt uns, wir sind die Letzten“ besteht aus Menschen aus verschiedenen antifaschistischen Zusammenhängen, die sich aktiv mit der Geschichte des NS auseinandersetzen. Dem AK geht es darum, die Perspektiven von Verfolgten und Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand zu bewahren und sichtbar zu machen. Seit 2010 veröffentlicht er deswegen jährlich eine Broschüre mit Interviews mit Überlebenden. Nun ist die vierte Broschüre erschienen und wie die ersten drei online oder als Print-Ausgabe bei der Berliner VVN-BdA erhältlich.
Der antifra* Blog schließt sich der bemerkenswerten Erklärung des Netzwerkes Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung an und will seine Leser_innen ermuntern, die Stellungnahme vom 4. September 2013 zu unterstützen, die bereits von über 1850 Menschen, darunter namhafte Wissenschaftler_innen, unterzeichnet worden ist:
„Am 2. September debattierte der Deutsche Bundestag den Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses, der das Versagen von Sicherheitsbehörden in den letzten 13 Jahren dokumentiert. Bericht und öffentliche Debatte zeigen, dass ein Teil der gesellschaftlichen und politischen Eliten Deutschlands zumindest in diesem Bereich gelernt hat, im Nachhinein Rassismus zu erkennen und zu benennen. Aber in Solidarität mit den ausdauernden Kämpfen von Migrant_innen und Geflüchteten gegen alltägliche Ausgrenzung und im Angesicht neuer nationalistischer „Bürgerproteste“ gilt es den Blick endlich auf die ganze Breite der rassistischen Muster zu richten, die unsere Gesellschaft immer noch prägen – und zu handeln.
Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden sind im Zuge der Aufklärung der NSU-Morde deutlich in die Kritik einer breiteren Öffentlichkeit geraten. Wenn aber von einem systematischen Versagen die Rede ist, so begrenzt sich diese Aussage meist auf das System der Sicherheitsbehörden und meint nicht die eklatanten Missstände des institutionellen und alltäglichen Rassismus in Deutschland. Und so werden parallel zur Aufdeckung der NSU-Strukturen nationalistische Diskurse gegen Migrant_innen, die wie bereits in der Vergangenheit „Integration“ in den Mittelpunkt rücken, wieder lauter. Nicht nur Neonazis, auch „aufgebrachte“ Bürger_innen vertreten ihre rassistischen Einstellungen öffentlich, auf der Straße ebenso wie medial, und Parteien wie „Pro Deutschland“ nutzen für ihre rassistische Propaganda die Gunst der Stunde. Heute müssen in Deutschland wieder Flüchtlinge vor rassistischer Mobilisierung fliehen – in Berlin-Hellersdorf richtet(e) sich diese gegen die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft, in Duisburg-Bergheim gegen die bloße Anwesenheit rumänischer und bulgarischer EU-Bürger_innen.
Exzellentes Bildungsmaterial des Vereins glokal e.V.: „Mit kolonialen Grüßen… Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“
Spätestens mit der Europäischen Expansion ist ein weltweites Unterdrückungssystem entstanden, in welchem nicht-weiße Menschen von weißen Europäer_innen zu Millionen ausgebeutet, versklavt, verschleppt, misshandelt und ermordet wurden. Dieser Zustand der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, die Zweiteilung der Welt in die Privilegierten und die Missbrauchten, entwickelte sich auch über die politischen und kulturellen Epochen Feudalismus, Aufklärung, Industrialisierung, Imperialismus und Kolonialismus sowie Kapitalismus weiter und hat bis heute Bestand. Ein mörderischer, aber funktioneller Rassismus, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts pseudo-wissenschaftliche Weihen zulegte und im Holocaust einen bisher einmaligen, unvorstellbar grausamen Klimax sah, liefert für diesen Zustand eine dauerhafte Grundlage, die den globalisierten Alltag mit katastrophaler Dynamik bestimmt. Eine überwiegend männlich sozialisierte, weiße, heterosexuell orientierte, mehr oder minder gebildete Klasse aus den westlichen Industrienationen oder dem globalen Norden dominiert jede Entwicklung auf dem Globus und bestimmt die Geschicke der Welt und der Menschen, die auf ihm leben, vor allem im globalen Süden. Der Anspruch weißer Antirassist_innen muss also von jeher sein, die eigene Privilegiertheit in dieser Konstellation zu erkennen und das eigene Weißsein kritisch zu reflektieren, um zu verhindern, dass sie die ansozialisierte Dominanz im Alltag, im Diskurs, in Politik, Geschlechtsleben und politischer Praxis immer und immer wieder reproduzieren und die inakzeptablen Verhältnisse auf diesem Planeten zementieren. Wer als derart sozialisierte Person im Westen aufgewachsen ist, kann sich über diese verhängnisvolle Situation wohl bewusst sein und dabei unter Umständen nicht merken, dass er oder sie auch mit einem libertären, wie auch immer linken und kritischen Anspruch dennoch Teil des Problems bleibt und Strukturen der Ungleichwertigkeit reproduziert. Weiterlesen „Reise in die kritische Selbstreflexion“
Wie einer Berliner Mutter ihr „Migrationshintergrund“ zum Verhängnis wird
„Jetzt hielt mich der Polizeibeamte am Arm fest und sagte: ‚Sie dürfen nicht telefonieren‘ Ich: ‚Warum darf ich nicht telefonieren?Was habe ich denn gemacht? Bitte lassen Sie mich in Ruhe! Lassen Sie meinen Arm los!‘ Er hält immer noch meinen Arm fest. Der zweite Polizeibeamte gibt mir einen Schlag mit der Faust aufs rechte Auge. Ich stolperte nach hinten undfiel an die Wand neben der Klassenzimmertür. Beide Polizeibeamten liefen auf mich erneut zu. Der eine fasste mich wieder am Arm, in welchem ich immer noch das Telefon hielt, als der andere ein zweites Mal ausholte und mir auf den Mund schlug. Dabei sagte er: ‚Ihr scheiß Türken!‘“ (Aus dem Gedächtnisprotokoll von Ayfer H. / Das Gedächtnisprotokoll ist in der Chronik rassistischer Polizeigewalt in Berlin“ auf Seite 132 nachzulesen)
Ayfer H. steht am 28. August 2013 wieder vor Gericht. Nachdem das Amtsgericht Tiergarten sie im März verurteilt hatte, ging sie gegen die 1600 Euro Strafe und die Aburteilung als Täterin in Berufung. Eins will sie heute klarstellen: Sie hat keinen Hausfriedensbruch begangen und sie hat keine Polizisten verprügelt. Im Gegenteil. Weiterlesen „Ayfer H. ohne Erfolg in Berufung“
Philip Bialowitz berichtet derzeit als Zeitzeuge in verschiedenen Ländern über die Ereignisse im Vernichtungslager Sobobór Mitte Oktober 1943: er ist einer der letzten Überlebenden des Aufstandes dort.
Am kommenden Montag, 9. September 2013, ist er — auf Einladung der geschätzten Kolleg_innen vom Bildungswerk Stanislaw Hantz - in Berlin zu Gast: eine seltene und wertvolle Gelegenheit, über das Geschehen damals aus dem Munde eines Augenzeugen zu hören.
Aufstand in Sobibór
Veranstaltung mit Philip Bialowitz
Einführung: Prof. Thomas Sandkühler
Datum: 9. September 2013, 19 Uhr
Humboldt-Universität zu Berlin Hauptgebäude (Unter den Linden 6, Raum 2002)
Im Vernichtungslager Sobibór wurden in den Jahren 1942 und 1943 mindestens 180.000 jüdische Menschen ermordet. Die Leichen der Männer, Frauen und Kinder wurden zu Beginn in Massengräbern verscharrt, später wurden sie unter freiem Himmel verbrannt. Am 14. Oktober 1943 starteten die jüdischen Häftlinge einen Aufstand. Sie töteten mehrere SS-Männer und Angehörige der Wachmannschaften und organisierten die Flucht, bei der über 600 Menschen entkamen. Mindestens 47 von ihnen erlebten das Kriegsende. Der Aufstand von Sobibór war eine der wichtigsten Widerstandshandlungen gegen die deutsche Vernichtungspolitik und schloss an eine Reihe von Aktionen an, von denen die Aufstände in den Ghettos von Warschau und Białystok sowie im Vernichtungslager Treblinka die bekanntesten sind.
Philip Bialowitz war einer der Aufständischen von Sobibór. Aufgewachsen in dem ostpolnischen Schtetl Izbica, wurde er im April 1943 nach Sobibór deportiert. Nur wenige konnten dort dem Tod entrinnen. Einige wurden nach der Ankunft zur Arbeit ausgewählt, um den Lagerbetrieb aufrechzuhalten. Einer von ihnen war Philip Bialowitz.
Nach dem Krieg wanderte er in die USA aus, wo er bis heute lebt. 2010 sagte er als Zeuge im Demjanjuk-Prozess in München aus.
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