Gerne weisen wir auf ein außergewöhnliches und berührendes Online- und Ausstellungsprojekt des Leo Baeck Instituts New York | Berlin hin und empfehlen es Eurer Aufmerksamkeit im Gedenkjahr 2018:
Wie kaum ein anderes Jahr markierte 1938 eine Zäsur in der deutsch-jüdischen Geschichte. Zur Erinnerung an die dramatischen Ereignisse vor 80 Jahren hat das Leo Baeck Institute New York | Berlin (LBI) das „1938Projekt“ ins Leben gerufen. Mithilfe eines bilingualen Online-Kalenders, einer Wanderausstellung, zahlreicher Begleitveranstaltungen und Konferenzen werden Einzelschicksale in den Vordergrund gestellt und das Vergangene in die Gegen-wart gebracht. Das Vorhaben ist in seinen Umfang und seiner Perspektive einzigartig: Unter Verwendung von Dokumenten aus unseren Archiven und zahlreicher Partnerinstitutionen wird das LBI unter 1938projekt.org insgesamt 365 persönliche Geschichten veröffentlichen – eine für jeden Tag im Jahr 1938. Täglich wird ein neuer Eintrag zum entsprechenden Datum freigeschaltet und über Kommunikati-onskanäle wie Facebook und Twitter angekündigt und verbreitet. Jedes vorgestellte Dokument und Objekt schildert die privaten Eindrücke und Erlebnisse seines früheren Besitzers und rückt so die unzähligen persönlichen Schicksale in den Vordergrund, die sich hinter den nüchternen Zahlen verbergen. 12 davon werden im Rahmen der Wanderausstellung zu sehen sein, deren Stationen, Termine und weitere Details demnächst auf der Institutshomepage bekanntgegeben werden.
Gerade der unmittelbare Austausch mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen verdeutlicht den bevorstehenden Verlust und die unschließbare Lücke, die ihr Fehlen hinterlassen wird. In Zukunft werden ihre Briefe, ihre in Tagebüchern niedergeschriebenen Gedanken und erhaltenen Erinnerungstücke das Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums bewahren. Diese Artefakte werden es sein, die das kulturelle Erbe nachfolgenden Generationen vermitteln ohne an Aktualität einzubüßen. Denn in ihren privaten Aufzeichnungen werden Themen angesprochen, die auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren haben: sie berichten eindrücklich von erfolgreicher Akkulturation, errungenen Freiheiten und mühsam erlangten gesellschaftlichen Stellungen, aber auch von den verheerenden Folgen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Gerade in Zeiten, wo Populismus auf nationaler und internationaler Ebene regen Zuspruch erhält und die Werte der Demokratie in Frage gestellt werden, sind diese historischen Zeugnisse eine deutliche Mahnung und eine unschätzbare Quelle für zukünftige Generationen.
Das Jahr 1938
Trotz der seit 1933 durchgeführten judenfeindlichen Maßnahmen hofften zahlreiche deutschsprachige Jüdinnen und Juden zu Jahresbeginn noch, dass die erlebte Diskriminierung lediglich eine vorübergehende Phase sei. Deutschland und Österreich waren ihre Heimat, die Wiegen der jüdischen Emanzipation, lange bevor die antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten Staatsdoktrin wurde und Juden und Jüdinnen ihrer Freiheiten, ihrer Rechte und, in letzter menschenverachtender Konsequenz, ihres Lebens beraubte. Das Jahr 1938 war für die Betroffenen ein endgültiger Bruch, der sich in ihr Gedächtnis brannte. Eine Kaskade neuer Verordnungen und politischer Entscheidungen brach über sie hinein, die ihren Bewegungsraum und ihre bereits eingeschränkten Rechte weiter einengte und ihnen zunehmend die Lebensgrundlage nahm.
Um nur ein paar der einschneidenden Ereignisse zu nennen: Am 13. März erfolgte der „Anschluss“ Österreichs und weitete die bisher in Deutschland umgesetzten Maßnahmen binnen kürzester Zeit auf österreichische Jüdinnen und Juden aus. Per 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli erlosch die Approbation jüdischer Ärztinnen und Ärzte zum 30. September. Mit großem Aufwand, internationalem Aufgebot an Repräsentanten aus 32 Nationen und zahlreichen Hilfsorganisationen tagte vom 6. bis 15. Juli die Konferenz von Évian mit ernüchternden Resultaten: lediglich die Dominikanische Republik erklärte sich bereit, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen.
Am 17. August wurde die „Kennzeichnung“ von Jüdinnen und Juden durch das Annehmen „typisch jüdischer“ Vornamen wie „Israel“ und „Sara“ verpflichtend eingeführt. Juristinnen und Juristen wurde ab dem 17. September per Verordnung die Ausübung ihres Berufs untersagt. Pässe wurden am 5. Oktober für ungültig erklärt, sofern sie nicht den roten Stempel „J“ trugen. Ende Oktober wurden in der „Polenaktion“ tausende Personen mit polnischer Staatsangehörigkeit deportiert. All dies geschah noch vor den Novemberpogromen, die in einem staatlich orchestriertem „Volkszorn“ in der Nacht vom 9. November Symbole jüdischen Lebens verwüsteten. Egal ob Synagogen, Schulen, Krankenhäuser, Friedhöfe, große oder kleine Geschäfte, Privathäuser oder deren unbescholtene Bewohner, nichts war vor der enthemmten Zerstörungswut sicher.
Vor dieser Verheerung konnte die Weltöffentlichkeit nicht länger die Augen verschließen. Einzelne Länder wie Großbritannien lockerten daraufhin ihre Einreisebestimmungen und ermöglichten eine der größten humanitären Aktionen der Geschichte: den „Kindertransport“. Viele jüdische Familien sahen darin die einzige Rettung für ihren wohl wertvollsten Schatz, ihre Kinder. Schweren Herzens schickten verzweifelte Eltern ihre Nachkommen in eine ungewisse Zukunft und retteten ihnen somit ihr Leben. Denn oftmals waren diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach Kriegsende die einzigen Überlebenden ihrer einst weitverzweigten Familien.
Über das Leo Baeck Institute New York | Berlin
Seit über 60 Jahren hat sich das Leo Baeck Institute (LBI) der Aufgabe gewidmet, das kulturelle Vermächtnis und die Geschichte des deutschsprachigen Judentums zu bewahren. Im Sommer 1955 beschloss eine Gruppe deutsch-jüdischer Intellektueller, das LBI zu gründen. Nach dem Willen seiner Gründer, darunter Martin Buber, Ernst Simon, Hannah Arendt, Robert Weltsch und Gershom Scholem, entstand es zeitgleich in den Zentren der Emigration: in New York, London und Jerusalem. Erster Präsident und Namensgeber wurde der Rabbiner Leo Baeck.
Dank seiner Sammlungsgeschichte und einzigartigen Bestände wurde das LBI New York | Berlin über die Jahrzehnte zum Bewahrer des kulturellen Erbes des deutschsprachigen Judentums und zentralen Ort der deutsch-jüdischen Diaspora. Die archivierten Dokumente, Bücher, Aufzeichnungen und Erinnerungsstücke haben ihre früheren Besitzer mitunter durch mehrfaches Exil begleitet und verdeutlichen, wie stark die emotionale und psychologische Verbundenheit zur deutschsprachigen Kultur war – trotz Brüchen, Entwurzelung und Trauma.
Die Bibliothek des LBI New York-Berlin beherbergt mehr als 80.000 Bände zu deutsch-jüdischer Kultur und Geschichte. Hinzu kommen tausende Kunstwerke, über 2.000 Memoiren, 25.000 Fotografien und mehrere laufende Kilometer an Dokumenten. Inzwischen sind über 3,5 Millionen Seiten digitalisiert und seit 2012 online unter DigiBaeck frei abrufbar. Anlässlich der Gründung des Jüdischen Museums Berlin wurde 2001 eine Archiv-Dependance geschaffen. Ende 2013 erfolgte die Gründung eines Büros in Berlin, um Unternehmungen in Deutschland zu koordinieren und als Ansprechpartner für die Belange des LBI New York | Berlin zu fungieren.